Knapp zur Idee.

In den „Briefen aus K****“ berichtet L., eine junge Lady, ihrem Analytiker Dr. Sago, von ihren Erlebnissen aus einer (wie man nur vermuten kann) nordafrikanischen Stadt. Die Zeit, in der das Ganze spielt, bleibt noch unklar, es wird wohl so um die 1930 sein.
Die Briefe sind chronologisch angeordnet, der neueste ist immer zuoberst.
Nun hat sich im zwölften Brief eine neue Stimme eingeführt: Sie (die bisher ebenso wie L. nur mit ihrem Initial unterzeichnet) nennt sich J.
Was sie in der Erzählung zu suchen hat, vor allem, weil sie ganz offensichtlich (sie verwendet ein Laptop, während L. von Hand schreibt) aus der Gegenwart stammt? Wir werden sehen.

Ein entstehendes Manuskript einzustellen ist immer heikel, doch TT ist ein Ateliertagebuch, ich zeige Prozesse. Nicht zuletzt, weil mich Ihre Reaktionen interessieren, und zwar alle, nicht nur die wohlwollenden, auch wenn Ihr Vergnügen an meiner Arbeit natürlich immer Aufwind ist. Zögern Sie also nicht, wenn Sie Lust haben, sich zu äußern.

Vierzehnter Brief. In dem erstmalig Mme de Lassy auftritt, wenn auch nur kurz.

K****, Montag, 15. November 2010

Mein guter Doktor,

so fassbar Ihr Wissensdurst und so versteckt der meine, wir sind schon ein seltsames Gespann, nicht wahr?
Sehen Sie, Verehrtester, Ihre L. ist ansässig geworden. Neulich ertappte ich mich dabei, wie ich Mme de Lassy gegenüber von der „alten Heimat“ sprach. Ein wenig fühlte ich mich dabei wie eine Verräterin, am Mutterland, der Familie, an Ihnen. Madame, der nichts entgeht, hob die fein geschwungene Augenbraue: „So weit sind wir bereits?“
Ihre Augen sind zwei Brunnen, aus deren Tiefe ein Glimmen aufscheint, ich muss immer an diese leuchtenden Fische denken, die in der Tiefsee leben und niemals nach oben steigen. (Sie wüssten binnen Sekunden nicht mehr wohin mit sich, Doktor, gerieten Sie in den Bannstrahl dieser Dame!)
„Nun scheuen Sie doch nicht, ma cocotte“ sagte sie leise, „es gibt Zeiten und es gibt Gelegenheiten, und nur in den seltensten Phasen unseres Lebens treffen beide mit Gewinn aufeinander. Sie wissen doch – wir haben gerade erst begonnen…“
Wir standen der Gesellschaft abgewandt an einem der Fenster des großen Saales und blickten hinunter auf den Fluss. Fast unmerklich war der Abend hereingebrochen über unseren Gesprächen, bald würde der Herr des Hauses zum ersten contact auffordern.
Ich legte den Kopf an ihre Schulter. Was für eine Haut. Sie trägt Serge Lutens, einen schweren, mit Zimt und Erde geschwängerten Duft. Kürzlich verriet sie mir, der Meister selbst habe ihn für sie geschaffen; die Mixtur muss Unsummen gekostet haben.
Wir sind längst übereingekommen, uns über Boten abzustimmen, bevor wir zur exercice gefahren werden. Es bleibt doch immer ein wenig Spielraum, auch wenn die Anweisungen, die Tags zuvor ins Haus kommen, an Genauigkeit nicht viel zu wünschen übrig lassen. Die beigelegten Utensilien indes – oft verschlägt mir ihr Anblick den Atem. (Allein die Vorstellung, dass Ror…! Ich winde mich vor Verlegenheit, selbst jetzt!)
Man hieß mich gestern, das Quôr bis zur nächsten exercice nicht abzulegen.
„Es ist groß!“ beschwerte ich mich bei Madame, „wie soll ich damit sitzen?“
„Sitzen Sie nicht“ beschied sie mich ungerührt.
„Ihres ist zumindest nicht aus Stahl!“ rief ich.
„Geduld, meine Teure. Das nächste wird bereits für Sie angefertigt.“
„Ich verstehe nicht…“
„Tut es Ihnen gut?“ lächelte sie.
„Ja..“
„Dann lernen Sie, angemessen zu gehen, bevor Sie leichtfertig nach dem nächsten Modell verlangen“ sagte sie. Ihr zärtlicher Blick nahm die Härte aus ihren Worten.
Natürlich gefällt es mir. Ich dachte nur, nachdem ich mich des anderen, Seines, Zeichens entledigt hatte, ich würde nie wieder –
Doch, selbstverständlich, hier ist es anders. Wie mir die Zeit lang wird zwischen den exercices! Wäre da nicht Ror, ich würde den Verstand verlieren.
Verstehen Sie denn nun, verehrter Doktor, warum mich Ihr letzter Brief so verstörte? Ich bin doch … wenn ich Mme besuche … schon nach unserer ersten Begegnung im Institut begann auch sie, mich Julie zu rufen. Doch das können Sie nicht wissen, nicht wahr? Und mit jener Person, an die Ihr absonderliches Schreiben sich wandte, hat dieser, mein „nom d’etranger“, nun wirklich nichts gemein.
Wie sehr mich die Freundschaft mit Madame de Lassy beglückt. Nicht zuletzt ihrem Einfluss ist es zu verdanken, dass ich meinen Aufenthalt hier in K**** unbedenklich verlängern konnte. Sie ist eine Dame von außerordentlichem Feingefühl, sie
Aber

– Doktor, unversehens streift mich die Müdigkeit, lassen Sie mich für heute schließen?
Aber ja, höre ich Sie sagen…

L.

Dreizehnter Brief. Es scheint, als ob –

K****, Freitag, 22. Oktober 2010

Bester Doktor,

ich lag friedlich in Morpheus Armen, als Ror klopfte und – wie immer ohne mein „Herein“ abzuwarten – ins Zimmer trat.
„Hirnloser Kerl, mich derart aus dem Schlummer zu reißen“ murmelte ich, mich aufrichtend.
„Keineswegs, Madame“ erwiderte er mit seinem süffisanten Lächeln (das ich freilich im Zwielicht der über die Scheiben gezogenen Vorhänge mehr hörte als sah) „um meine Geisteskraft ist es bestens bestellt. Mir schien nur, dass dieses“ – er beugte sich sacht mit dem Tablett – „keinen Aufschub duldete.“
Ich nahm das Couvert. „Wenn Sie die Güte hätten, Ror…“
Er verstand. Und verließ (rückwärts und unter Verbeugungen!) mein Gemach. Oh, wie er mich zur Weißglut treibt, dieser Mann, mit seinen Possen. Doch wie, andererseits –
Ihre Zeilen, erlauben Sie, dass ich offen spreche, sind mir unverständlich; wieder und wieder versuche ich, ihren Sinn zu erfassen, doch es will mir nicht gelingen. Wer ist jene J., an die Ihr Schreiben sich wendet, und warum, gütiger Himmel, lese ich Ihre Worte, ohne die vertraute Stimme dahinter zu vernehmen? Wenden Sie eine jener neuen Methoden an, von deren Erfolg man in gewissen Kreisen bei vorgehaltener Hand flüstert?
Nun denken Sie doch nicht, diese Dinge blieben mir verborgen! Erst kürzlich, bei einem der Abende im Institut, kam ein etwas windig aussehender Herr darauf zu sprechen, allerdings ohne meinen Beifall zu finden. Sie wissen, ich liebe das Theater, und dennoch … hüpft und springt mir das Herz wie ein gefangener Sperling, bis sich der Vorhang wieder schließt.
Die Vorstellungskraft, insbesondere die meinige, ist ein gefährliches Instrument. Sie wissen, wie leicht ich in Hysterie verfalle! Mussten Sie mir nicht oft genug auf Ihrem eigenen Diwan Ihren (…) zwischen die Lippen schieben, damit ich mir nicht die Zunge zerbiss? Dessen eingedenk bitte ich um Schonung. Keine solchen Briefe mehr. Ich werde Ror bitten, ihn zu verbrennen.
(Ah, da tritt er schon ein. Woher er nur immer weiß, wann ich ihn brauche ? )
„Kommen Sie.“
Und an den Tiegel mit jener Creme, die mir so wohltut, hat er gedacht. Nun, ich werde ihm, wenn er –

diesen Brief mitgeben, auf dass er alsbald in Ihre Hände gelangt, Doktor.

Aus der Ferne, jedoch keineswegs entrückt,
lächelnd
Ihre

L.

Zwölfter Brief. Die Andere.

K****, Montag, 18. Oktober 2010

Ich grüße Sie, Doktor,

und ziehe am Regler, bis der Monitor das gleiche schmutzige Weiß annimmt wie die Wände des Hauses sehr früh morgens, wenn noch die Nacht auf ihnen ruht. Ich träumte von dieser kleinen, energischen Frau, die besser schreiben kann als ich. Wie gerne wäre ich gelobt worden, doch es war ihr Text, der die Miene der Lehrerin erweichte und mit einer Sehnsucht zeichnete, die ich hatte hervorbringen wollen, ich, ich!
Man reichte mir das Laptop der Kleinen. Wo sie sei, fragte ich. Sie käme wieder, erwiderte ein junger Mann, wir lagen zu vielen auf einer Wiese draußen – ein Campus, eine Schafweide, ich erinnere mich nicht – ich nahm das Ding, nur halb so groß wie meines, sah ihm in die Augen:
„Sie kommt wirklich zurück?“
„Ja“
und begann zu schreiben, ohne mich nach den Zeilen umzusehen, die ich hinter mir ließ. Wie ich diese Weide hinter mir ließ. Denn was hätte ich erwarten können, das nicht zuerst von mir selbst –

Ich liebe es, blind zu sein. Nein. Ich liebe es, unsichtbar zu sein. Nein. Wahrnehmen sollen Sie mich. Für wahr nehmen. Nehmen, fürwahr.
Ich war mir selbst nie wahr, nie wert, nie so, dass es reichte. Nur diese Rissigkeit, dass ich an der Haut meines Ellenbogens zog & es war genug von ihr da, dem Arm die Krümmung zu erlauben, das Biegen, & ich dachte, überall dort, wo nötig, ist zusätzliches Material, das mir Bewegung ermöglicht, warum ist das nicht so in meinem Geist, kaum bewegt sich der, reißt an anderer Stelle etwas auf. Kein zusätzliches Material, nichts. Ich denke im Schwund, in Rissen, die hinter mir nicht heilen wollen, ah, wer möchte das glauben, doch es ist so. Persönlich ist es. Als müsse ich alles Wasser, das mich trägt, jeden Tropfen einzeln aus mir herauswringen für ein bisschen Nässe auf den Rissen. Da blutet es sich doch leichter.
Glauben Sie mir nicht, glauben Sie der anderen. Es ist einfacher, wenn Sie mir nicht glauben, die gestrenge Lehrerin tut das ebenfalls nicht, sie sieht zur Seite, sie streicht den Mädchen über das Haar.
Ich habe kein Haar. Gullhiver die Wintermöve hat kein Haar. Ich biete keinen Widerstand, ich hebe mich kaum ab von den Flächen, über die ich fliege und meine Scheiße fällt pausenlos ins Nichts. Alles, was mir früher heilig war, Musik, Geschichten, Gegenstände, längst ausgeschissen. Ich schreie im Wind. Der Winter kommt. Noch. Nicht. Ich träume. Fliehe. Mir, mir können Sie nicht folgen, versuchen Sie es nicht, dort, wo ich bin, gibt es nichts zu verstehen, nichts zu schlafen, da wollen Sie sicher nicht hin. Meine Verbündeten werden durchsichtig, wenn die Sonne sie berührt, meine Schatten sind nicht anhänglich, meine Kunde erreicht kein Ohr. Also. Lassen Sie’s.
Die Andere leugnet das. Manchmal erreicht mich der Duft ihres Parfüms, der Klang ihres Lachens, während sie fort ist, oh, ich verstehe sie gut, ich binde ihr die Schleife morgens und sehe ihren schmalen weißen Waden hinterher.
Nichts. Bleibt. Von mir. Wenn sie unterwegs ist. Außer den Tieren. Ich bin Tiere, weiche und harte, sie immer schon Mensch, sie springt und lässt die Röcke wehen, damit ich sein darf. Ich verkacke mir die Federn. Oh Gott, wie ich es liebe, besudelt zu sein; wie ich es hasse, rein zu sein. Ich bin jene von uns, der nichts bleibt, der alles Errichtete unter Händen und Flossen und Pfoten und Flügeln zerrinnt; ich lebe in den Rissen, nichts, das ich anhäufe, hat Bestand, nichts hat Wert, von einem Tag zum anderen erlischt mir jeder Funke, jede Hoffnung, der Furor, der in mir wütet, bricht über jede Sicherheit herein wie ein Berserker und fegt alles hinweg, jedes Erinnern, jede Genugtuung, bis nur die: nackte: Ödnis übrig bleibt, splitternder Schiefer.
Ich klirre vor Schiefer, Schicht auf Schicht und alles dazwischen wird zum leblosen Gewese: s o bin ich. Jeden Tag aufs Neue erfinde ich Bilder, die mich nachts wieder verlassen, ich kenne keinen Stolz, ich bin mir selbst fürchterlich, ein Netz aus Unrat, in dem kein einziger Fisch hängen bleibt, nie; sie schlüpfen durch meine Maschen, manchmal erwische ich eines mit dem Munde, dann schwimmt es dort, bis ich es ausspeie, es schmeckt süß, sie schmecken alle süß.
Loben Sie mich.
Loben Sie mich dafür, dass ich schweige.

Ich überlasse ihr das Feld.
(Soll ich?)

Gehaben Sie sich wohl, Doktor.

J.

Elfter Brief. Der Mann trägt Guerlain.

K****, 30. Juni 2010

Verehrter, lieber Doktor Sago,

natürlich werde ich gehen! Es hätte Ihrer Eildepesche nicht bedurft; ich bin bereits dabei, mich dem Anlass entsprechend zu kleiden.
(Ich habe nichts Passendes!!!)
Doch woher wussten Sie…? Ich bringe hiermit mein Missvergnügen zum Ausdruck, in aller Form. Immer sind Sie mir einen Schritt voraus, allen Spielraum des Fabulierens entziehen Sie mir, der Sie sich offensichtlich mit Ihren Kollegen am hiesigen Institut inniger austauschen als mit mir! Stehen mir denn keine Geheimnisse zu? Halten Sie mich für ein vom Naturell her derart passives Geschöpf, dass ich solch lückenlose Überwachung gut heißen würde? Sie sollten mich besser kennen.
Mein Hausdiener, übrigens, sieht besser aus als alle Männer, die ich bisher in K**** getroffen habe. Das überraschendste war … doch ich will nicht vorgreifen.
Als ich vorhin die Tür öffnete, stand mir ein hoch gewachsener Mann gegenüber, in den Händen ein Tablett (nein, nicht silbern, sondern aus irgendeinem dieser Bambushölzer) mit einer Karte. Er verneigte sich leicht, sagte aber nichts. Der Hauch seines Männerdufts wehte zu mir herüber, harzig, mit einer Unternote Sandelholz und Juchten. (Ich tippe auf Guerlain).
Ich besah ihn mir. Stand, zu verdutzt noch von seiner Erscheinung, als dass ich mich hätte artikulieren können, mit nichts weiter als einem Morgenmantel bekleidet da.
(Eben gewittert es.
Was soll ich nur anziehen??
Immerhin, man wird mich abholen.)
Er trug ein Gewand, für das manche Dame von Rang willig ein Monatssalär auszugeben bereit wäre, so elegant umspielte es seinen Körper. Dazu trug er – lachen Sie jetzt nicht! – goldbestickte Pantoffeln. Oh ja. Immerhin war sein Gesicht nicht das eines Mohren, sonst hätte ich mich in einem Traum von tausendundeiner Nacht gewähnt – und Sie wissen, ich hasse blumiges Geschwafel! Nein, seine Haut ist recht weiß, und seine Züge haben einen für orientalische Verhältnisse eher groben Zuschnitt. Markant, würde man in unseren Breitengraden sagen. Dazu durchaus irritierende, helle Augäpfel. Und er trägt sein braunes Haar in einem Zopf. Der ganze Mann hat, nun, da ich darüber nachsinne, etwas von einem … hm… in edle Stoffe gewickelten, sehr gewieften … Wolf.
(Das sei nicht schön, höre ich Sie sagen. Doch, doch, ist es!)
Sein „Madam?“ klang spöttisch. Er ruckte ein wenig mit dem Tablett, um mich zum Zugreifen zu bewegen. Also nahm ich die Karte. Und sah ihn an, durchaus direkt.
„You speak English?“ fragte ich.
„Ich spreche Deutsch“ erwiderte er, ganz ohne Akzent. Seine Mundwinkel zuckten.
„Oh“ sagte ich. Mehr fiel mir nicht ein.
„Ihr Morgenmantel…“ sagte er. Himmel, hilf! Ich griff in den Stoff und raffte ihn zusammen.
„Wünschen Sie Hilfe beim Ankleiden?“
„Wo waren Sie all die Zeit?“ stieß ich hervor. „Seitdem ich mich in diesem Haus aufhalte, bin ich keines einzigen Bediensteten ansichtig geworden! Geschweige denn, dass jemand deutsch gesprochen hätte!“
„Sind Sie nicht ein wenig zu jung, sich einer solchen Sprache zu befleißigen?“ fragte er. Dieser süffisante Tonfall! Erwürgen hätte ich ihn können. „Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, was Sie meinen.“ Sprachs und trat, die Karte in der Hand, einen Schritt zurück ins Zimmer, während er blieb, wo er war.
„Ganz wie Sie wollen, Madam. Brauchen Sie mich noch?“
„Nein, vielen Dank. Ich komme zurecht.“
„Dann wünsche ich Ihnen einen angenehmen Abend.“
„Ebenfalls“ erwiderte ich.
„Ich würde übrigens die grünen Pumps mit dem goldfarbenen Absatz nehmen.“
Mitten in diesem Satz drehte er sich um und ging davon, das Tablett in einer Hand schwingend.

Ist das nicht unerhört?? Was erdreistet sich dieser Mensch?
Doch ich muss mich fertig machen, in einer halben Stunde wird der Fahrer hier sein. Fort mit dem Morgenmantel!

Ihre noch nicht gewandete ( und leider gelegentlich zum falschen Kleid neigende)
L.

post scriptum
Warum schrieben Sie kein einziges Wort zu der schwarzen Dame?

Zehnter Brief. In dem L. von der schwarzen Dame berichtet.

K****, 28. Juni 2010

Lieber Doktor Sago,

ja, ich lebe noch. Jajajaja. Ganz bestimmt. Da, ich reiche Ihnen die Hand! Schade, dass Sie sie nicht sehen können. Ist das nicht unglaublich? Irgendwann heute Nachmittag (ich schlief, ich schlafe immer noch unentwegt!) hat mir jemand Finger und Zehennägel manikürt, ohne dass ich es bemerkt hätte. Und dazu diese merkwürdigen Zeichnungen auf den Handrücken. Was diese Leute sich nur denken, bin ich ein Osterei, das man einfach bemalt? Im Schlaf! Seien Sie versichert, lieber Doktor: was auch immer als nächstes geschieht, ich werde es wachend erleben. Und wenn ich mir eine dieser Disteln in den Rockbund schieben muss!
(Man verwendet die hier für die Haussträuße. Disteln. Höchst absonderlich.)
Nun denn. Als ich vorhin zu mir kam, lag ich rücklings auf den Diwan gestreckt, die Arme leicht vom Körper abgespreizt, meine Hände auf seidenen Kissen. (Diese Seide! Ich werde einige Ballen ausfliegen lassen, seien Sie dessen gewiss!)
Ich verstand zunächst nicht, wer mich so drapiert hatte, bis ich meine Füße sah: dort hatte man mir, um den Trocknungsprozess des Lackes nicht zu gefährden, kleine Stoffläppchen zwischen die Zehen geschoben.
Ach, sagen Sie doch nicht, das sei unwichtig, Doktor. Sie wissen doch, wie mir die Körperpflege viel, ja so viel bedeutet!
Und dann die Wunde. Sie ist verheilt. Ich spüre das. Von außen natürlich ist nichts zu erkennen, doch sie blutet nicht mehr, die Binde (ich lugte eben hinein) ist schneeweiß.
Es ist übrigens sehr hübsch, das Zeichen; ich habe es immer gerne aufblitzen sehen, wenn ich mich im Spiegel betrachtete, musste dazu nur ein wenig die Beine… Sie wissen schon. Ungefähr so:

Verzeihung, besser will es mir nicht gelingen. Da gibt es natürlich noch den Teil, der nicht in dem Plastikbeutelchen war. Jener, den es brauchte, es in mir zu befestigen. Sonst, nicht wahr, hätte ich es auch selbst entfernen können. Nicht, dass ich jemals daran gedacht hätte.

„Mein Morgenstern“, sagt er immer, wenn er es berührt. Ich höre seine Stimme auch hier. Auch wenn sie (zu meinem nicht gelinden Erstaunen) drei Wochen nach meiner „Flucht“ etwas leiser geworden ist.
Sehen Sie, Doktor, es gibt da etwas, das mich nicht loslässt. Das ich im Institut sah, bevor man mich in Narkose versetzte. Es
Ach Gott, wie spreche ich darüber.
Es lag da eine Dame.
In meinem Zimmer. Was ich von ihr erkennen konnte (das Laken hatte sie fast bis ans Kinn gezogen), war ein stilles, ebenholzdunkles Gesicht mit geschlossenen Lidern. Ich gestehe, ich war zunächst enerviert, dass kein Einzelzimmer für mich vorbereitet war, doch dann erweckte ihr Gesicht meine Neugier. Seit meiner Ankunft hatte ich nicht viele solcher Hautfarbe in der Stadt wahrgenommen.
„Don’t talk to her“ wies mich das Ross gleich beim Betreten des Zimmers an.
„Why, what’s the matter with her?“ flüsterte ich.
„She’s been through hell“ erwiderte das Ross in normaler Lautstärke. „The lady is patient from abroad, from G. She was purified. As little girl. “
Ich fürchtete, ihre Kasernenhofstimme könnte die schwarze Dame erschrecken, doch diese rührte sich nicht. Sie war sehr ruhig unter dem Laken und schmal wie ein Kind.
„Purified?“ fragte ich leise.
„That’s how they call it where she comes from.“
„And who are they?“
„The women with the blades.“
Da dämmerte es mir. Noch jetzt zieht mir die Schamesröte über die Wangen, wenn ich daran zurück denke. (Wie stumpf kann man sein, Doktor?) Ich hatte von diesen Dingen gehört; erst einige Tage vor meiner Abreise war mir ein Buch in die Hände gefallen, Sie wissen schon, eines von der Art, die das wirkliche Leben abbilden, doch ich legte es fort. Es handelte … davon. Muss man solche Dinge wissen, muss man Anteil nehmen? Oder überlässt man diese Frauen ihrem Schicksal?
(eben… die Katze ist wieder im Fenster!)
„The surgeon opened ..“ hub die Krankenschwester an.
„Would you please be discret“ unterbrach ich. Und schämte mich für sie.
Das Bett der dunkelhäutigen Dame stand nicht mehr im Zimmer, als ich aus meiner eigenen Narkose erwachte, nur der scharfe Duft des Desinfektionsmittels stand noch in der Luft. Was tun wir uns gegenseitig an? Und was tun wir, indem wir nichts tun.
Ach, Doktor. Wir Frauen. Oft sind es keine Laken, sondern Mühlsteine, unter denen wir liegen.

Oh, es klopft ! Einer der ewig unsichtbaren Bediensteten etwa?
Ich haste zur Tür (ach, wären doch Sie’s!)

Meine Grüße! Sie fliegen…
Ihre
L.

Neunter Brief. Seidene Finger.

K****, 23. Juni 2010.

Dr. Sago,

tagelang nicht ein Wort von Ihnen, und jetzt nur diese eine Frage? Wissen Sie eigentlich, was ich durchmache, w i s s e n Sie es? Ich bin von Sinnen, Tage und Nächte ziehen rasend vorbei, in rötliches Licht getaucht. Nachdem ich aus jenem Institut zurückkehrte, glaube ich, geschrieben zu haben, bevor ich auf mein Lager sank. (Habe ich? Ist mein Brief angekommen? Aber ja doch, er muss Sie erreicht haben, sonst machte Ihre Frage keinen Sinn.)
Ich glaube, ich war noch in der Lage, im Nebenzimmer einen Zettel zu hinterlassen. Später jedenfalls, als ich erwachte, waren sämtliche Fensteröffnungen mit langen Bahnen aus burgunderfarbener Seide verhängt. Hätte man nicht eine andere Farbe – ? Doch nein, blutrot, wie um meinen Jammer zu beflaggen. Die Stoffe sind so großzügig bemessen, dass sie von jedem Fenster fallend sich am Boden noch in Wellen ausbreiten. Auf jene hat man jeweils einen großen, behauenen Stein gesetzt, um zu verhindern, dass die Bahnen bei dem steten Wind (langsam beginne ich, ihn zu fürchten!) in mein Zimmer hineinflattern. Ich kann nicht umhin mir vorzustellen, wie diese Bahnen unbeschwert als lange, seidene Finger bis an mein Bett heranwehen würden…
Oh, ich höre Sie lachen, Doktor. Wie unpassend.
Sie machen sich keine Vorstellung.
Wenn doch, wüssten Sie! Wie es mir, unmarkiert zu sein nach all den Jahren, den Boden unter den Füßen raubt. Ich wage nicht, mir auch nur andeutungsweise vorzustellen, was er tun wird, wenn er es erfährt; kaum streift mich ein solcher Gedanke, fängt mein Herz an zu rasen, als wollte es mir durch die Kehle zum Mund heraus springen.

Sie fragen, wie es aussah, mein Zeichen.
Die Krankenschwester (dieses Ross) gab es mir in einer kleinen, farbigen (ist denn hier alles farbig?) Plastiktüte mit, bevor ich das Institut verließ: „Better you bury it“ sagte sie. Ich konnte ihren Blick nicht deuten, benommen wie ich war; inzwischen glaube ich, es lag etwas Verachtung darin. Doch was schert mich das? Was ich tat, tat ich aus eigenen Stücken. Er hätte darauf bestehen können, doch das war nicht nötig.
Moment…
Ich höre, im Nebenzimmer wird mein Mittagsmahl angerichtet. Sie werden sich gedulden müssen, bis ich gespeist und geruht habe. Wenn Sie mir die Bemerkung gestatten: es tut mir nicht leid! Sie sind ein Untier, Doktor. Ihr Übergriff!!

L.

Achter Brief. L. verliert ihr Zeichen.

K****, 20. Juni 2010

Verehrter Dr. Sago,

es ist getan. Ich muss mich ständig daran hindern, mit den Fingerspitzen die Stelle zu betasten. Wie konnten Sie mich in dieser wilden, fremden Stadt nur solch einem Risiko aussetzen? Warum gerade hier? Ich war glücklich hier, etwa nicht? Ich war übermütig wie lange nicht mehr! (Was, wenn sich die Wunde infiziert?) Jeder Schritt kostet mich Überwindung.
Doch verzeihen Sie, ich weiß es ja besser…
Mir schwirrt der Kopf. Auch heute noch (wie jede Stunde, seit ich sie zum ersten Mal las) steht mir jene letzte Zeile ihrer Weisung vor Augen; ich ertappe mich dabei, dass ich sie murmelnd wiederhole wie ein Kind.
(…)
(…..)
Oh – ich war kurz eingenickt.
Als mir gestern das Billet des hiesigen Instituts zugestellt wurde, ahnte ich erstmals, wie weit Ihr Einfluss reicht… bis direkt auf die östliche Seite der kleinen Insel, direkt, wenn man die Brücke überquert. Wundern Sie sich nicht – nach allem, was dort mit mir geschah, musste ich trotz der Schmerzen einfach noch einmal zurück: ich ließ mich heute gleich nach der Siesta über die Brücke fahren. Da lag das Gebäude, am linken Ufer des N**, wie in Schlummer: niemand ging ein oder aus, die mit Intarsien geschmückten Flügel des Tores waren fest verschlossen. Nur eine kurze Zeile auf dem Messingschild rechts am Eingang wies darauf hin, das Institut sei dem Ihren verbunden.
Ich stieg aus dem Wagen, läutete, vernahm ein leises Surren: aufblickend sah ich eine oben auf der Mauer befestigte Kamera, die sich in meine Richtung drehte. Die Gegensprechanlage knackte.
„Yes?“ fragte eine Stimme.
„I had an appointment with Dr. G…. j yesterday. Is he in?“ fragte ich.
„He’ll be back tonight“ erwiderte die Dame. „Would you like to leave a message?“
„No, I’ll call in later, thank you“, sagte ich und wandte mich zurück zum Wagen.
„Back…?“ fragte der Fahrer nur knapp, als ich wieder zustieg.
„Please“ erwiderte ich. Und schlief ein. Überhaupt schlafe ich seitdem, als hätte mich die Malaria befallen! (Ich weiß schon, die Müdigkeit kommt von diesem Mittel. Stellen Sie sich vor, die Tabletten sehen aus wie die Knallerbsen, mit denen wir als Kinder spielten. In buntes (!) Silberpapier eingewickelt! Trotz meines Zustandes musste ich fast lachen, als ich sie das erste Mal sah. Die nächsten Tage muss ich jeden Morgen zwei davon einnehmen)
Warum eigentlich schreibe ich, man wird Ihnen längst Bericht erstattet haben.
Ach, Doktor! Sind Sie zufrieden?
Ich habe nichts gespürt. Nicht das geringste, erst hinterher, als ich viele Stunden später im Institut erwachte. Man reichte mir Wasser und die erste jener erbsenförmigen Tabletten und hieß mich aufstehen. Am Arm der Krankenschwester gelangen mir ein paar Schritte, dennoch war ich sehr erleichtert, als sie mich zum Bett zurück führte: trotz der dicken Binde spürte ich, wie die Stelle ein wenig blutete. (Viel weniger als damals, als er es mir anbringen ließ)
Die Krankenschwester schenkte mir ein Lächeln.
„Any pain?“ fragte sie.
Ich schüttelte den Kopf.
„You may stay here as long as you want“ sagte sie. „Your body still needs rest.“
„Will I see the surgeon before I leave?“ fragte ich.
„I don’t think so. Just follow the instructions. The wound will close and heal in a couple of days and you’ll be as good as new.“
Sie reichte mir ein Blatt Papier.
So gut wie neu! Diese einfache Person. Als ob ich das jemals gewollt hätte!
(Habe ich?)
Wie bloß sich mein Körper anfühlt ohne das Zeichen. Ich glaube es noch nicht. Dass es fort ist! Jahre trug ich es.
Ich hätte nicht schreiben dürfen, dass ich nicht esse, nicht wahr, das war es doch? Dass ich auch hier nicht esse? Da beschlossen Sie, es sei an der Zeit.
Was wird nun, Doktor? Ich bin viel zu ruhig. Das müssen die Tropfen sein. Seit ich zurück gebracht wurde, steht das kleine Fläschchen immer auf dem Tablett neben meiner Ta
…sse
Ich muss schließen die Müdigkeit…
Sind Sie zufrieden?
Lächeln Sie!
Es ist gean
t

später…

Ihre neue (?)
L.

Siebter Brief. Nicht jeder Schemel ist ein Königreich.

K****, 15. Juni 2010, des nächtens

Sie belieben zu scherzen, verehrter Dr. Sago,

– nicht wahr? Ich schwöre, von diesem Rabauken, der sich Regisseur schimpfte, hab’ ich nach meiner ersten Begegnung nie wieder gehört. Wie auch? Das Mensch weiß doch gar nicht, wo ich abgestiegen bin. Überhaupt, Ihr Zweifel an mir!

Sie fragen nach meinen blauen Flecken.
Ich will Ihnen nicht verhehlen, dass ich ein wenig selbst Schuld daran trage. (Nicht genug, dass meine Kniescheiben noch von vorgestern mit Schorf bedeckt sind wie bei einer Sechsjährigen. Peinlich bei den kurzen Röcken, die ich trage)
Nun denn! Ich pflege auf meinen Streifzügen durch die Stadt wenig darauf zu achten, welche Stadtviertel für Personen meiner Herkunft und Abstammung geeignet sind – und welche nicht. Hatten Sie mir nicht selbst geraten, ich solle mich ins Getümmel werfen? Was haben Sie sich nur dabei gedacht? Und, weit wichtiger noch, worauf wollten Sie hinaus? Ihr Vorschlag, der sich, je länger ich ihm nachsinne, wie eine Anordnung liest, der weitere folgen könnten – ich ahne! Schon will mir die Vorstellungskraft davon galoppieren…

Doch zurück: ich war nächtens unterwegs (Sie kennen mich, ich ruhe gerne über Tage und das hiesige Kima begünstigt diese Vorliebe), ausgestattet mit meiner Perücke No 2., der schwarzlockigen, von der Sie immer missbilligend behaupten, sie mache ein Zigeunerweib aus mir. Darüber ein Schleier gleicher Farbe.
Oh doch, Sie lesen richtig! Ein wenig Rücksicht auf Sitten und Gebräuche muss sein – bei allem Freigeist, dem zu frönen ich mir gelegentlich erlaube. Auch der Rock: ab achzehn Uhr bodenlang.
Jetzt lächeln Sie wieder, ich weiß es genau!
Nun? Denken Sie sich schon, was geschah in dieser Nacht? Noch nicht?

Sehen Sie mich vor sich: ich sitze, es wird bald Mitternacht sein, erschöpft am Rande eines überdachten Basars, mitten in einem der vielen Stadtteile von K****, fragen Sie nicht, welchem. Eben habe ich beschlossen, mir in Kürze ein Taxi rufen zu lassen. Ein freundlich wirkender Mann, der nahbei einen Stand mit frisch gepresstem Granatapfelsaft betreibt, scheint mir zur Ausführung dieses kleinen Dienstes geeignet – insbesondere, als ich ihm einen großzügigen Obulus überließ. (Ich war zu müde, das Kleingeld wieder einzupacken.)
Ich trinke meinen Saft. Die Nacht scheint mir hold wie eine frisch vermählte Landjungfer, trotz des emsigen Treibens, das um mich herum auch zu dieser späten Stunde seinen Lauf nimmt.
Sehen Sie mich vor sich?
Ich falle nicht weiter auf. Das Haar unter dem Schleier verborgen, das lange Gewand, meine dunklen, kajalumrandeten Augen… ich falle nicht auf. Glaube ich. Insbesondere, als meine Füße auch ein Paar jener schlichten Pantoletten aus Satin zieren, die alle Frauen hier tragen, und zwar – aufgemerkt! eine Nummer kleiner, als der Größe meiner Füße angemessen wäre. Alle einheimischen Frauen dieser Stadt tragen zu kleine Schuhe. Lachen Sie nur! Es ist die Wahrheit.
Ich sitze friedlich und unbehelligt auf meinem Schemel, als eine junge Frau in mein Blickfeld gerät, offensichtlich nicht von hier stammend; ich tippe auf das vereinigte Königreich. (Ihr Teint ist makellos, wenn auch leicht gerötet). Nachdem sie am Rande der Handelszone ein wenig herumgestöbert hat, überkommt sie wohl der Durst, denn sie eilt zielstrebig auf meinen Mann mit dem Pampelmusen Granatapfelsaft zu. Sie fragt. Zahlt. Trinkt. Und tritt (mein Blick ruht auf ihr) plötzlich an mich heran.

Und da reitet mich doch plötzlich der Teufel, Doktor!!
Ich frage sie in vermeintlich gebrochenem Englisch, ob ich ihr aus der Hand lesen solle?
„How much?“ fragt die Dame, ihren Wortschatz meiner geringen Beherrschung ihrer Muttersprache anpassend.
„One hundred *****“ entgegne ich aufs geradewohl, „very cheap!“
(Ich wieherte innerlich vor Lachen, Doktor, Sie werden es sich denken!)
„Oh, please, yes!“ haucht die Engländerin, sinkt schwer neben mir nieder, den Becher beiseite stellend, und streckt mir ihr fleischiges Händchen entgegen. Welches ich ernst in meine linke nehme, während ich mit dem Zeigefinger der rechten ein paar Linien entlang fahre.

Ich kürze ab: Sie wissen aus leidiger Erfahrung, wie gut ich fabulieren kann… am Ende jedenfalls reicht mir die beglückte Dame nicht hundert, sondern zweihundert ***** auf die Hand. Vor aller Augen.
Das nun hatte ich nicht bedacht.
Denn da sind die Weiber gleichen Gewerbes, derer ich erst jetzt gewahr werde, als sie -fast synchron- von ihren verstreuten Arbeitsplätzen aufspringen. Entschlossen drängen sie mir und meiner ersten (einzigen!) Kundin entgegen – ich habe, vor ihren Augen, in ihrem Revier ein Geschäft abgewickelt, das mir nicht zustand.
„Go! Quickly!“ dränge ich die Britin, schiebe sie von mir.
„What’s the matter?“
„Trouble, maybe fight“ raunze ich. „Go away!“
Kopfschüttend entfernt sie sich. Während ich mich innerlich wappne.
Und den heimischen Damen zuwende.

Sie ersparen mir, den Ausgang dieser ungleichen Begegnung zu schildern, nicht wahr?
Ich bin recht müde vom Schreiben, auch habe ich Ihre Aufmerksamkeit heute über Gebühr beansprucht. Doch lassen Sie mich noch anfügen, dass ich alle Blessuren der letzten Tage mit Stolz trage! Sie wären nicht der Mann, für den ich Sie halte, wenn Sie nicht wüssten, warum…

Ah… der Nachbar betet wieder.
Ich gehe zu Bett. Jedoch nicht, ohne zuvor einen innigen Gedanken zu entsenden…
als die Ihnen herzlich verbundene
L.

Sechster Brief. Vom Hunger und anderen Misslichkeiten.

K****, 14. Juni 2010

Verehrter Dr. Sago,

Ihr Vorschlag kommt doch sehr überraschend. Gestatten Sie mir, Sie auf meine Antwort ein ganz klein wenig warten zu lassen?
Heute morgen vor dem Spiegel im Schlafgemach (seine Ausmaße sind enorm!) sah mir ein weißes Antlitz entgegen, das ich nur widerwillig als das meine erkennen mochte; der gestrige Tag (von der Nacht noch zu schweigen) hat seine Spuren hinterlassen: Ihre L. als Schneekönigin! Bizarr, nicht wahr, in dieser von dunklen Körpern bevölkerten Stadt? Auch die wenigen Westeuropäer, derer ich bisher ansichtig wurde, leben schon lange hier, wie mir scheint: ihr Teint ist fast ebenso verdorrt dunkel wie jener der Einheimischen.
Ich meide ihre Blicke, glauben Sie mir. Nichts stößt mich mehr ab als die Selbstverständlichkeit, mit dem sich unseresgleichen in der Fremde begegnet. Reist man tausende von Kilometern in die Ferne, um dieses Übelkeit erregende Zucken in den Mienen der eigenen Landsleute vorzufinden? Gewiss nicht!
Doch das interessiert Sie alles wenig, ich weiß …
Sie (darf ich es sagen?) brennen zu erfahren, was mir geschah seit meinem letzten Brief. Was mir nicht geschah… darüber haben wir in den letzten Jahren viel zu ausführlich schon gesprochen, nicht wahr?
Nun, ich kann stolz berichten, dass ich einen der schlichteren Ratschläge, die Ihre Depesche enthielt, seit gestern in die Tat umsetze: ich treibe Körperertüchtigung. Morgens, bereits vor dem Frühstück! Nicht, dass mir das leicht fiele; mein armer Körper jault und ächzt unter den zusätzlichen Belastungen, seit gestern gehe ich krumm. Doch ich halte durch! Obschon die blauen Flecken, die ich vorvergangene Nacht bezog, nicht dazu beitragen, mich friedlich auf Atem und Muskelspiel zu konzentrieren.
Ach, Doktor! Lassen Sie mir doch etwas Zeit. Ihre Zeilen – so drängend, so ungeduldig!
Mein Magen knurrt. Ich hungere mich aus… ganz den Vorgaben jenes Mannes gehorchend, der in der Heimat über meinen Körper verfügt. Wehe, ich würde nur ein Gran ansetzen, er mich bei meiner Rückkehr nicht mehr, von hinten in meine Rippenbögen greifend, von der Erde heben könnte! Er würde mich gewiss verlassen. Und so nähre ich mich von den allgegenwärtigen Düften der Speisen, die hier in zahllosen Pfannen und Kesseln mitten in den Straßen zubereitet werden.

Mittagsruhe, lieber Doktor…
Später! Versprochen!

Aus den Kissen winkend,
Ihre
L.