K****, Montag, 18. Oktober 2010
Ich grüße Sie, Doktor,
und ziehe am Regler, bis der Monitor das gleiche schmutzige Weiß annimmt wie die Wände des Hauses sehr früh morgens, wenn noch die Nacht auf ihnen ruht. Ich träumte von dieser kleinen, energischen Frau, die besser schreiben kann als ich. Wie gerne wäre ich gelobt worden, doch es war ihr Text, der die Miene der Lehrerin erweichte und mit einer Sehnsucht zeichnete, die ich hatte hervorbringen wollen, ich, ich!
Man reichte mir das Laptop der Kleinen. Wo sie sei, fragte ich. Sie käme wieder, erwiderte ein junger Mann, wir lagen zu vielen auf einer Wiese draußen – ein Campus, eine Schafweide, ich erinnere mich nicht – ich nahm das Ding, nur halb so groß wie meines, sah ihm in die Augen:
„Sie kommt wirklich zurück?“
„Ja“
und begann zu schreiben, ohne mich nach den Zeilen umzusehen, die ich hinter mir ließ. Wie ich diese Weide hinter mir ließ. Denn was hätte ich erwarten können, das nicht zuerst von mir selbst –
Ich liebe es, blind zu sein. Nein. Ich liebe es, unsichtbar zu sein. Nein. Wahrnehmen sollen Sie mich. Für wahr nehmen. Nehmen, fürwahr.
Ich war mir selbst nie wahr, nie wert, nie so, dass es reichte. Nur diese Rissigkeit, dass ich an der Haut meines Ellenbogens zog & es war genug von ihr da, dem Arm die Krümmung zu erlauben, das Biegen, & ich dachte, überall dort, wo nötig, ist zusätzliches Material, das mir Bewegung ermöglicht, warum ist das nicht so in meinem Geist, kaum bewegt sich der, reißt an anderer Stelle etwas auf. Kein zusätzliches Material, nichts. Ich denke im Schwund, in Rissen, die hinter mir nicht heilen wollen, ah, wer möchte das glauben, doch es ist so. Persönlich ist es. Als müsse ich alles Wasser, das mich trägt, jeden Tropfen einzeln aus mir herauswringen für ein bisschen Nässe auf den Rissen. Da blutet es sich doch leichter.
Glauben Sie mir nicht, glauben Sie der anderen. Es ist einfacher, wenn Sie mir nicht glauben, die gestrenge Lehrerin tut das ebenfalls nicht, sie sieht zur Seite, sie streicht den Mädchen über das Haar.
Ich habe kein Haar. Gullhiver die Wintermöve hat kein Haar. Ich biete keinen Widerstand, ich hebe mich kaum ab von den Flächen, über die ich fliege und meine Scheiße fällt pausenlos ins Nichts. Alles, was mir früher heilig war, Musik, Geschichten, Gegenstände, längst ausgeschissen. Ich schreie im Wind. Der Winter kommt. Noch. Nicht. Ich träume. Fliehe. Mir, mir können Sie nicht folgen, versuchen Sie es nicht, dort, wo ich bin, gibt es nichts zu verstehen, nichts zu schlafen, da wollen Sie sicher nicht hin. Meine Verbündeten werden durchsichtig, wenn die Sonne sie berührt, meine Schatten sind nicht anhänglich, meine Kunde erreicht kein Ohr. Also. Lassen Sie’s.
Die Andere leugnet das. Manchmal erreicht mich der Duft ihres Parfüms, der Klang ihres Lachens, während sie fort ist, oh, ich verstehe sie gut, ich binde ihr die Schleife morgens und sehe ihren schmalen weißen Waden hinterher.
Nichts. Bleibt. Von mir. Wenn sie unterwegs ist. Außer den Tieren. Ich bin Tiere, weiche und harte, sie immer schon Mensch, sie springt und lässt die Röcke wehen, damit ich sein darf. Ich verkacke mir die Federn. Oh Gott, wie ich es liebe, besudelt zu sein; wie ich es hasse, rein zu sein. Ich bin jene von uns, der nichts bleibt, der alles Errichtete unter Händen und Flossen und Pfoten und Flügeln zerrinnt; ich lebe in den Rissen, nichts, das ich anhäufe, hat Bestand, nichts hat Wert, von einem Tag zum anderen erlischt mir jeder Funke, jede Hoffnung, der Furor, der in mir wütet, bricht über jede Sicherheit herein wie ein Berserker und fegt alles hinweg, jedes Erinnern, jede Genugtuung, bis nur die: nackte: Ödnis übrig bleibt, splitternder Schiefer.
Ich klirre vor Schiefer, Schicht auf Schicht und alles dazwischen wird zum leblosen Gewese: s o bin ich. Jeden Tag aufs Neue erfinde ich Bilder, die mich nachts wieder verlassen, ich kenne keinen Stolz, ich bin mir selbst fürchterlich, ein Netz aus Unrat, in dem kein einziger Fisch hängen bleibt, nie; sie schlüpfen durch meine Maschen, manchmal erwische ich eines mit dem Munde, dann schwimmt es dort, bis ich es ausspeie, es schmeckt süß, sie schmecken alle süß.
Loben Sie mich.
Loben Sie mich dafür, dass ich schweige.
Ich überlasse ihr das Feld.
(Soll ich?)
Gehaben Sie sich wohl, Doktor.
J.