Sechster Brief. Vom Hunger und anderen Misslichkeiten.

K****, 14. Juni 2010

Verehrter Dr. Sago,

Ihr Vorschlag kommt doch sehr überraschend. Gestatten Sie mir, Sie auf meine Antwort ein ganz klein wenig warten zu lassen?
Heute morgen vor dem Spiegel im Schlafgemach (seine Ausmaße sind enorm!) sah mir ein weißes Antlitz entgegen, das ich nur widerwillig als das meine erkennen mochte; der gestrige Tag (von der Nacht noch zu schweigen) hat seine Spuren hinterlassen: Ihre L. als Schneekönigin! Bizarr, nicht wahr, in dieser von dunklen Körpern bevölkerten Stadt? Auch die wenigen Westeuropäer, derer ich bisher ansichtig wurde, leben schon lange hier, wie mir scheint: ihr Teint ist fast ebenso verdorrt dunkel wie jener der Einheimischen.
Ich meide ihre Blicke, glauben Sie mir. Nichts stößt mich mehr ab als die Selbstverständlichkeit, mit dem sich unseresgleichen in der Fremde begegnet. Reist man tausende von Kilometern in die Ferne, um dieses Übelkeit erregende Zucken in den Mienen der eigenen Landsleute vorzufinden? Gewiss nicht!
Doch das interessiert Sie alles wenig, ich weiß …
Sie (darf ich es sagen?) brennen zu erfahren, was mir geschah seit meinem letzten Brief. Was mir nicht geschah… darüber haben wir in den letzten Jahren viel zu ausführlich schon gesprochen, nicht wahr?
Nun, ich kann stolz berichten, dass ich einen der schlichteren Ratschläge, die Ihre Depesche enthielt, seit gestern in die Tat umsetze: ich treibe Körperertüchtigung. Morgens, bereits vor dem Frühstück! Nicht, dass mir das leicht fiele; mein armer Körper jault und ächzt unter den zusätzlichen Belastungen, seit gestern gehe ich krumm. Doch ich halte durch! Obschon die blauen Flecken, die ich vorvergangene Nacht bezog, nicht dazu beitragen, mich friedlich auf Atem und Muskelspiel zu konzentrieren.
Ach, Doktor! Lassen Sie mir doch etwas Zeit. Ihre Zeilen – so drängend, so ungeduldig!
Mein Magen knurrt. Ich hungere mich aus… ganz den Vorgaben jenes Mannes gehorchend, der in der Heimat über meinen Körper verfügt. Wehe, ich würde nur ein Gran ansetzen, er mich bei meiner Rückkehr nicht mehr, von hinten in meine Rippenbögen greifend, von der Erde heben könnte! Er würde mich gewiss verlassen. Und so nähre ich mich von den allgegenwärtigen Düften der Speisen, die hier in zahllosen Pfannen und Kesseln mitten in den Straßen zubereitet werden.

Mittagsruhe, lieber Doktor…
Später! Versprochen!

Aus den Kissen winkend,
Ihre
L.

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