Hektor hat Angst

Es fällt ihm heute schwer, sich zu vergegenwärtigen, was er empfindet. Sicher gibt es einen Experten? Hektor wendet sich an sein TV. Es gibt immer Experten. Sie treffen sich in Runden und lassen ihn zuhören. Nonstop.
„Man unterscheidet sechs Basisemotionen“, erläutert einer von ihnen gerade. „Diese sechs sind nicht erlernt, sondern genetisch bedingt.“
Hektor, drinnen im Wohnzimmer, neigt verständig den Kopf.
„Sie werden kulturübergreifend bei allen Menschen in gleicher Weise erkannt und ausgedrückt“, fährt der Mann fort. „Es sind Wut, Trauer, Freude, Überraschung, Ekel und Angst. Die bestimmen uns von ganz unten.“
Gottseidank, denkt Hektor. Es gibt also eine Liste.
„Ist das nicht ein wenig zu übersichtlich?“, fragt der Moderator, der nur Moderator ist.
„Aber ja“, erwidert der Experte kühl. „Es gibt ja noch Verachtung. Und dazu Scham, Schuld, Verlegenheit und Scheu.“

Plausibel, findet Hektor.
Er selbst hantiert erratisch mit seinen Gefühlen. Die meisten Challenges auf Arbeit lassen sich besser erledigen, wenn er nicht weiß, welcher Motor ihn gerade antreibt. Wenn man voll in Fahrt ist, muss das Ding laufen. Fertig. Und die Karosserie muss sitzen. Den Unterbau zu zeigen kann Hektor sich nicht leisten. Plötzlich wäre er exponiert. Nicht ausgeschlossen, dass die Experten dann über ihn talken würden. Aber eben nur über ihn.

– Ob er dann verlegen wäre? Hallo? Es ist kein Zuckerschlecken, ein Beispiel zu sein! Man müsste hart trainieren, um damit umgehen zu können. The biggest Looser.
Hektor überlegt, ob er das Programm wechseln soll, bleibt dann aber am Ball.

Angst und Scham sind seine ältesten, verlässlichsten Gefühle. Spürt er nicht immer eher seine Bedrohungen als seine Möglichkeiten? Der Wert seines So-Seins würde ihn nicht davor schützen, unter die Räder zu kommen.
(Oder?)

Es kommt auf dich nicht an, raunt der Experte. Du hast keine Bedeutung und es gibt keinen Schutz. Tu’, was angesagt ist, und geh’ danach in Deckung, bevor dich jemand angreift. Das ist die verfickte Challenge. Versau’s nicht.

(- Hat der das eben wirklich gesagt?)

Ratschläge finden in Hektors Leben nur wenige statt, seitdem er kein Kind mehr ist. Die kommen durchweg von Männern und zielen darauf ab, ihn zu optimieren. Frauen finden ihn meistens super, aber die sind einfach zu nett, um wahr zu sein. Befürchtet er.

Er streckt die Oberschenkel, die vom langen Sitzen ein wenig krampfen.
Wie er sich dafür schämt, sich als wertlos zu empfinden! Nach allem, was er geleistet hat! Nach der Anerkennung, die ihm immer wieder gezollt wird!
Ge-zollt!
Wie kommt es, dass all die Likes ihn nicht vor sich selbst schützen können? Ist er etwa dumm? Beschädigt? Schwach? Machtlos?
Der alte Loop.

Hektor schließt die Augen. Fast unmerklich sinkt seine rechte Hand in seinen Schritt.
Und jetzt,
endlich,
darf er kriechen.
Unten sein.
Die Challenge ist vorbei.

Er sollte sich schämen für seinen Gehorsam, doch tatsächlich ist der jedes Mal ein Sieg. Hektors Wert bestimmen nun die Experten. Was für eine ungeheure Befreiung, dafür nicht mehr zuständig sein zu müssen! Wie könnte er sie nicht lieben, ihnen nicht verfallen?
Er und die Experten sind eins, sind die gleiche Person: Hektor macht sie zu vollständigen Menschen. Und sie ihn.
Er legt den Kopf nach hinten.

Sashimi

Wir sind Publikum in einer Art TV-Show, eine Kochzeile in Form einer Bar. Auf unserer Seite sitzen zwei Juroren und eine Handvoll VIP-Gäste, im Küchenbereich sind zwei Männer bei der Arbeit. Heitere Atmosphäre im Studio.

Der schmale, junge Koch ist hörbar ein Schweizer. Er gilt als handsome und bescheiden, hat eine Menge Potenzial, derzeit aber Stress. Wir spüren die Verhärtungen in seinem Nacken, als ob es unsere eigenen wären. Sein Lächeln sitzt, die Messer handhabt er meisterlich, aber ob das reichen wird?

Der zweite Kandidat, Sternekoch wie sein Kollege, ist von asiatischer Herkunft und massiger Statur. Scheinbar gleichmütig blickt er aus seinen Augenschlitzen. Weil er niemals lächelt, sollen wir annehmen, dass er jedes kleinste Detail registriert. Dass er ultracool ist.

Die beiden schenken sich nichts. Um Gunst geht es! Und um Geld natürlich.
Während die Köche ihre Tricks vorführen, werden sie von den Juroren ausgiebig mit Spott bedacht. Man kennt sich. In der Welt der Bootcamps und Fightclubs sind Geheimnisse Spielgeld: Irgendwann wirft jeder auch noch sein letztes in den Ring.

Wir spulen vor.

Der dicke Asiate hat eben gewonnen. War es nicht köstlich, wie er als einziger im Raum sein Geheimnis bewahrt hat? Bei all dem Spott der Juroren, dem nervigen Countdown und den surrenden Cams, die sein fleischiges Gesicht abgetastet haben?
Er reckt die Faust mit dem Messer ins Publikum.
(Tatsächlich! Das könnte jetzt fast sein Lächeln sein!)

Die Juroren geben nun grünes Licht für das Highlight der Show. Wir denken, dass der Sieger das verdrängt haben muss.
Oder gewollt.
Jedenfalls schlendert der junge Schweizer an seine Seite. Aus einem Laptop, das sich beim Aufklappen als Mappe entpuppt, zieht er eine Nadel. So ein Ding wie aus der Arztpraxis; wir sehen es im Zoom. Das Publikum im Studio offenbar auch. Die Gespräche verebben.

– und zack.

Ehe wir wissen, wie uns geschieht, setzt der Schweizer seine erste Nadel. Einstich, Austritt. Wir sind nicht beim Fußball, es gibt keine Zeitlupe.
Zoooom!
Die Cam hält auf das rechte Ohr des Asiaten. Dort ist nun, direkt vor dessen Ohrmuschel, eine Nadel durch die Haut gesteckt. Der Mann indes verzieht keine Miene. Dreht nur schweigend den Kopf.
Und erneut, mit gleicher Akkuratesse, sticht der Schweizer zu, diesmal am linken Ohr. Zoom in die Augenschlitze des Asiaten, doch da ist nichts. Druckerschwarze Pupillen. Langsam öffnet er den ersten Knopf seines Hemdes, dann den zweiten, dritten, vierten. Als sein weißer Bauch bis zum Nabel freiliegt, nimmt der Schweizer ein Skalpell aus der Mappe. Er setzt es an die rechte Brustwarze des Asiaten an, zieht kurz nach unten durch, legt das hauchdünne Scheibchen Fleisch auf ein lackiertes Sushi-Brett.
Zoom.
Zweite Brustwarze!
Kommt ebenfalls auf’s Brettchen.
Während die Cam weg war, hat jemand ein bisschen Wasabi mit draufgelegt, und Ingwer.

Die beiden Männer sind ganz zu zweit.
Ein winziges Husten aus dem Publikum. Ansonsten Schweigen.

Bis die Cam zurückkommt, hat der Schweizer sein Skalpell längst gesäubert und verstaut. Er beugt sich, ergreift das Brettchen von der Theke. Beide Köche drehen sich in die Kamera, senken fast gleichzeitig ihre Fingerspitzen darauf.
„Was? Keine Stäbchen?“
Unsere Frage bleibt ungehört.
Zoom auf die zwei Scheibchen Fleisch. Die Münder der Köche öffnen sich; jeder legt sich eines davon auf die Zunge.
Abblende.

Im Studio erlischt langsam das Licht.

 

 

 

 

 

 

Flirt du jour, Episode 8

Dezember. Sonnenschlitze auf der Wand.
Für die Dauer einer Zigarette verharrt ihr in Schweigen, obwohl keiner von euch raucht.
Ihr seid sediert.
Lispelnde Nervenenden. Die Haut unter deinem Schamhaar zieht den Schweiß wieder ein.
Alles ist warm. Doch bereits während deine rechte Hand noch einmal die Konturen ihrer Brüste entlangstreicht,
während sie lächelt und sich den Zeigefinger leckt, um den Kajal unter ihren Augen abzuwischen,
tritt euer Gedächtnis in Kraft und ihr verliert die Gegenwart.
Langsam grasen eure Sucher auf der Fülle des Erlebten.
Einzeln.
Und die Liebe nimmt ihren Lauf.

Speed Dating für Fortgeschrittene

Wirst du harmlos, wenn du dich von anderen positiv vereinnahmen lässt oder andere bei dieser Praxis beobachtest? Was machst du mit deinen gesellschaftlich nichtkompatiblen Persönlichkeitsanteilen?
Wann hast du gemerkt, dass es Kontingente von Gefühlen, Erfahrungen, Möglichkeiten gibt – anstelle sich immer erneuernder Energien? Wer darf dir sagen, was Sache ist?
Wer gehört zu deinem Rudel? Worauf bist du geeicht, abgesehen von der Konditionierung auf Dominanzgesten und Unterwerfungsrituale?
Was geschieht, nachdem man in seine Behauptungen hineingewachsen ist? Was machst du, um deine Sexualität ebenso bedacht auf deinen Organismus abzustimmen wie deine Ernährungsgewohnheiten?
Oder deinen Schlaf? Gehst du zu Versammlungen und wenn ja, wer von dir geht hin?
Was tust du, wenn dein Autopilot ausfällt? Hast du eine Blackbox? Wer soll sie finden, wenn du abstürzt? Schenkst du mir ein Paradox? Wie oft spritzt du am Tag?
Darf ich dir in die Parade fahren und wenn ja, wie deutlich?
Wer frisst deinen Frust? Was passiert, wenn du dich mit einer Sache anfreundest, anstatt dich mit ihr abzufinden? Wann ist mein Bild in dir fertig? Wer bespricht dich adäquat? Wer läuft neben dir auf der Suche nach der verlorenen Zeit? Wer macht sich zum Chronisten deines Lebens, damit du nicht in Vergessenheit gerätst?
Was, wenn es niemand tut?
Wer belohnt deine Abgrenzungsversuche?
Warum tun wir uns alle so schwer mit Entgrenzung? Werden Fragen inflationär, wenn man sie aneinander kettet? Wie erkennst du die Gunst der Stunde? Auch sexuell? Wie erfindest du eine Versuchsanordnung, ohne ihre Auswertung gleich mitzudenken? Wann befreien wir die Verdrossenheit von der Politik?
Wer von uns beiden erzählt mal was Schönes zum Orgasmus? Was passiert, wenn uns mit den Jahren die Kraft ausgeht, etwas Eigenes zu wollen?
Wer beschreibt deine Freude, ohne sie zu seiner eigenen zu machen? Wessen Liebe hat sich zu dir nur verirrt? An wessen Schweiß bricht dein eigener heute Nacht aus?
Wer bestimmt die Reihenfolge meiner Fragen? Welche Rituale brauchst du, um aus der Reihe zu tanzen? Wie tröstest du eine Frau? Warum können nur Kinder ungestraft Geheimnisse in die Welt setzen? Wie viele riskante Fragen musst du mir mindestens hinwerfen, um dich zu spüren?

Bettelfische

Und morgens, rücklings bei Ladybird auf der Holzterrasse, während die Meisen in den Ästen der alten Kiefer herumpiepen, zu deren knorrigen Ästen man, atmend (heute mit “ocean-breath”, für die Eingeweihten), aufblickt; dazu die zwölf (In Zahlen: 12) Goldfische im Teich, von denen man nicht viel mehr weiß, als dass sie Bettelfische sind, weil sie immer angeflutscht kommen, kaum, dass man unten an die Teichkante tritt, sie kommen pulkweise und schwappen und reißen erstaunlich große, innen rosafarbene Mäuler auf, auf dass man etwas hineintue, wofür nur das Einmachglas zu öffnen ist, das dort immer bereitsteht, hernach hineinzugreifen und ein Händchenvoll Flocken herauszu, die wie ein Rieselwind von oben in die schaukelnden Mäulchen,
während plötzlich diese Brise,
und Ladybird verabreicht in Sri Lanka handgefertigte, freundliche Hosen, denn Yoga wird nicht einfach gemacht, sondern praktiziert, das geht entweder ganz nackend oder in weichstem Gewebe
(der > Wirklichkeit)
und die Fingerspitzen am Holz, während wer sich vom Aste aufschwingt mit leichtem Flügelschlag (nein, nicht die Seele, ein Fink ist’s)
doch ich ihm hinterher (feinstofflich betrachtet)
während der Körper einmal nicht (gottlob) irgendwas will, Hunger Pippi Durst, oder Ziepen hat irgendwo, des Körpers Verfassheit also einfach nur wohlwollend, einen Moment lang (kaum zu fassen: wohlwollend!)
und ocean breath (!) mittenmang der hessischen (!) Vogelwelt, gell, von den Insekten ganz zu schweigen:
frag’ einer bitte keiner nach der Ameisenstraße, die Ladybird seit Tagen argwöhnisch in der Küche beobachtet, von draußen durch die Kachelritzen schnurgeradewegs ins Schlaraffenlad ihres dreifach segmentierten Mülleimers ziehen ordentliche Kolonnen,
frag’ auch niemand nach dem REIHER, der schon siebenbisachtmal alle Fische gefressen, nein, heruntergeschlungen haben soll, ihren Klagen zufolge,
während doch alle aus der dunklen, dunklen Tiefe des Gewässers irgendwann (bis auf den dicksten, dreizehnten, doch das ist auch der älteste gewesen und vielleicht an Altersschwäche(…?)…) wieder quicklebendig zum Betteln heranschwimmen, sobald wir, schlaff und wehrlos glücklich (sagte letztens ein Kursteilnehmer, im Ernst, “wehrlos glücklich” sei er nach meinem Kurs!), also wir runter zum Wasser, halberleuchtet ins Konservenglas greifen,
Futterwind machen,
lachen,
und wirklich einen Augenblick lang vergessen, was wir eigentlich gewollt haben sollten

Anfechtungen

Im Atelier direkt über dem meinigen singt ein junger Mann: nicht sonderlich gut, aber inbrünstig. Es wird einer der Maler sein, oder ein Bildhauer. Jene, die aufgrund ihrer Sangeskünste ein Stipendium innehaben, proben meistens zu zweien in den Räumen am Ende des Korridors, die sind mit einem Klavier ausgestattet.
Der Korridor ist lang, sehr lang, und gesäumt von Holztüren, auf denen jeweils ein kleines Messingschild prangt mit dem Namen des Landes, welches das Atelier und das Stipendium bezahlt. Manchmal ist es auch eine Stiftung. Oder etwas ganz anderes. Auf meiner Tür, beispielsweise, steht:

Atelier François Preziosi
Tombé en mission le 17. Août 1964

Ich habe nachgelesen. François Preziosi. Ein italienischer UNHCR Mitarbeiter der International Labour Office. 1964 verlor er sein Leben bei dem Versuch, ruandische Flüchtlinge im Ostkongo zu beschützen.
Ein merkwürdiges Gefühl, in einem Atelier zu wirken, das mit dieser Geschichte verknüpft ist. Fast wie ein Hinweis.
Wie fühlte es sich in mir an, würde ich „arbeiten“ durch „wirken“ ersetzen? Schwing Dich auf, dann kommt auch Wind, flüstert eine Stimme in meinem Kopf. Klingt nach Sanssourir.

Ateliers sind Krisenräume. Wenn eine Stimme etwas anderes behauptet, muss sie künstlich hinzugefügt sein. Keine von meinen.

Alles, was von außen kommt, ist gut.
Alles, was von außen kommt, ist verfälscht.
Für das, was zählt, gibt es kein dictionnaire.
Aber die Mauern.
Dahinter zu sein.
Ich zweifle an mir wie am ersten Tag.
Es gibt einen interessanten Unterschied zwischen authentisch und ehrlich. Irgendwann werde ich ihn herausfinden. Man kann, und das ist wirklich eine große Erkenntnis für mich, nicht alles nachschlagen.

Inbrünstig die Hitze von beiden Seiten; am Tage ganz gewellt. Die Nächte hingegen legen sich wie Lappen übers Gemüt, drücken es flach, sehr sanft, wie ein zum Trost für den Geist ausgelegtes Tuch.
Wenn ich erwache, ist es immer schon hell.

Während wir in den Tag gleiten, sind wir noch alle beisammen, Farah, Sanssourir, Sha’ und ich, erst nach dem ersten Cafe au lait übernimmt eine von uns die Führung. Sha’ indes nicht, sie ist die einzig Abhängige, deswegen spreche ich nicht von ihr. Das verschafft ihr etwas Freiheit.

Er singt nicht mehr.
Etwas hat ihn gepackt, an den Tisch, die Staffelei geführt. Vielleicht liegt er auch auf dem alten, schwarzgrünen Linoleumboden, der sich durchs ganze batiment zieht: gebügeltes Wachs. Kann sein, er hechelt in der Hitze und vom Singen. Ich werde ihn nie kennen lernen. Ich lerne hier niemanden kennen, meide die Künstler im Haus, spreche nur mit Menschen auf der Straße. Berichte aus anderen Krisenräumen? Das fehlte mir noch. Doch eines Abends, gegen Ende hin, werde ich die Tür meines Ateliers öffnen. Ich werde sie mit einem Zettel versehen, auf dem steht:
Venez me voir.

Wer sich dann traut, ist mehr als willkommen. Bis zu diesem Tag indes vergehen noch welche: an denen das gellende Licht wie ein Bulldozer auf die Fassade knallt, durch die ältlichen Scheiben meiner langen Fensterfront, durch meine Poren und mein Fleisch bis ganz tief hinein. Endlich hell von innen. Die Organe sieden feucht vor sich hin.
Ha, eine Wiese, ein Meer! Was tu ich nur? Was ficht mich an, mir ein heißes Stück Metall auf den Schoß zu legen?

Kippen Frauen anders

Ob sie „unsichtbar werden“. Wiederholt schon begegnete mir diese Behauptung. Frauen, alternde, über die fünfzig hinaus, würden unsichtbar in den Augen der Männer. (Echt? Ist das so, Ihr Männer draußen?)
Sagte eine im Tatort. Niemand widersprach. „Zwischen vierzig und fünfzig“, hieß es dort auch, „kippen die Frauen“.
Bullshit. Kein Bullshit? Irgendwer lacht hell auf. Ich bin’s nicht.
Veränderungen wahrnehmen. Ich könnte schwören, dass gerade eben noch Jetzt war, doch etwas ist anders.
Anders.
Je länge ich starre, desto unheimlicher wird mir das Wort.
Manchmal denke ich, mir entgleitet so viel, so rasch, ins Anders, dass es irgendwann nur noch Extreme für mich geben wird: Berstend vor Worten oder komplett sprachlos. So fühlt es sich an, mein Leben; dazu dieses Knickknack im Nacken, wenn ich den Kopf nach hinten lege, um es zu schlürfen.

Der Unterschied zwischen Jetzt und Danach: den zu spüren. Ob es ihn gibt? Jetzt: Eine Seite vollzuschreiben. Danach: eine Seite zu lesen. Was ist zwischendrin geschehen? Wie kann man überhaupt leben? Oder wird man nur gelebt, alles nur Instinkt, Reflex, Anziehung, Zurückweisung? Ich wollte, bis ich fünfzig wäre, eine Art von Können erlangt haben. Nun, das Einzige, was mich noch daran hindert, ist das Anders in meinem Kopf. Es sagt: „Ja, wenn…“

Damit steht und fällt die Selbstkonzeption. Niemand von Außen kann sie aufrichten, solange das Ja, wenn sie zu Boden drückt. Die alternden Frauen vom Tatort, der Spiegel-Kolumne, was-weiß-ich, die alternden Frauen von überall: die lassen mich nicht los. Komisch.
Und eben läuft mir die Frage zu, wie das wohl ist. In der Außenwahrnehmung: Wie das wohl wäre, wenn sich hinter der konzilianten (meist) Frau, die ich hier präsentiere, hinter diesem hübschen, getupften, tageslichttauglichen Schirm das unverputzte Anders zeigte, mit dem ich so gerne hinterm Berg halte. Was, wenn ich Zeit zeigen würde.

(Welch himmelweiter Unterschied zwischen der Sehnsucht, dazu zu gehören, und dem Zwang, dazugehören zu müssen.
Andere schreiben besser als ich:
Andere schrieben anders als ich:
Ich schreibe besser als andere:
Je mehr man mit Wertungen herumspielt, desto behaupteter fühlen sie sich an. Wie Schrott, letztendlich.)

Der Fluss! Vielleicht ist der Fluss wichtiger als alles andere. Das Sich Gehen Lassen. Wir müssen uns verhalten. Gegenüber der Angst vor der Zeit. Wir sind keine Herde Fluchttiere, keine alternden Frauen oder triebgesteuerte Männer. Was wäre, wenn
wir alle Zuweisungen als eine Fiktion von unendlich vielen möglichen betrachteten, was wäre dann. Ich bin zum Henker, nicht das, was man mir in den Mund legt. Oder ins Hirn.

Vielleicht ist die Vorstellung, irgendetwas, und sei es Jugend, behalten zu können, zu wollen, schon ein zu großes Eingeständnis, nein, Zugeständnis an die Gegebenheiten. Man vergegenwärtige sich nur einmal das Wort „Gegebenheiten“! Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen, gelobt sei der Herr.
(Na, mal abgesehen davon, dass Gott damit nix, aber auch rein garnix zu tun hat, ob wer was hat und wer was genommen kriegt.)
Wie hell es werden könnte.
Wie, wenn man mal den ganzen Tag keinen Stuhl verwendete, auf dem Boden säße, wenn man mal eine ziemliche Weile nichts äße, sich das Haar samt Augenbrauen abrasierte, was, wenn es künstliche Schmuckfalten fürs Gesicht gäbe, dazu niedliche Silikonspeckrollen zum Umbinden und kleine, leuchtend gefärbte Haarbüschel für die Ohren, was, wenn wir uns hinausschöben, an den Konsensgrenzen vorbei, vorbei an zweifelnd hochgezogenen Augenbrauen und don’t kill the messenger und den Kaufläden der Normgesellschaft, zum Mond hin heulend, wenn wir stärker wären als alle
Anschauhuhuuung

Nulltoleranz

Nichts erklären, nichts entschuldigen. Keine Defizitlisten. Keine Indiskretionen. Keine Hinweise auf mangelnde Supervision, kein feiger Ruf nach dem Korrektiv. (Oder Kollektiv.) Keine Übersprungshandlungen, keine PMS-induzierten Einkaufsorgien, keine Verspannungen ignorieren, keine Gebete an importierte Göttinen und Götter.
Kein Schmu.
Keine Lapalien, Flausen, Gickeligkeiten, keine dem Alter unangemessenen Frisuren/Schleifchen/Volants. Kein Singsang. Keine atypischen Signale, Stilbrüche, keine Fragmentierung. Kein Schnee. Kein Zusammenhangklammern und/oder Kontextfetischismus. Keine Liebesdienste, handshakes, kein quid pro quo – Hecheln. Kein Mehrwertwarten. Keine German Angst. Keine Proportionsverweigerung, kein gerüttelt Maß, keine Verschnittakzeptanz. Keine Labberliebe, Hokuspokushoffen, Dauerbrennerbegehren. Kein Beuteschema, keine Siebenmeilenstiefeletten oder gar Quickstartkickoff.
Keine Reihenfolgenjunkies. (Bloss nicht.)
Keine Drohgebärden und/oder Drohnengeburten. Kein Schmeißfliegenmentaltraining. Keine Güterzüge, keine Güte im Zug. Keine Obdachlos-Ziehung ohne mindestens einen Heimgewinn. Keine Finanzamtsangst. Kein Strategiepapierstau. Keine Depressionskonfiguration. Keine Haie ohne Becken, kein Becken ohne Waschen, kein Waschen ohne Unschuld.
Soweit erst einmal.
Ende der Durchsage.
Wir arbeiten daran.

17:32 Uhr
Kein Listenfimmel.

Gegendarstellung

Jener, der mir seit je verkündet, die Welt verändern zu wollen: Er meint das. Unnötig zu erwähnen, es wär’ ihm genehm, wenn ich dabei mitmachte.
Warum, frage ich, warum so groß. Verlierst du da nicht den Blick fürs –
Mag sein, raunzt er, aber Kleinklein bringt nichts.
Du meinst, wenn, muss man das ganze Ding ins Auge fassen. Den Planeten.
Yep.

Nun muss erwähnt werden, er bohrt große Bretter; ein Maulheld ist er nicht.
Ich schon. Komplett zufrieden damit, den Rücken der Gesellschaft abzuernten. Wenn mich die Lust packt, beäuge ich, was gerade herumtreibt, Plankton von Handlungen, sauge ein paar Liter davon ein, schwelle auf zu beeindruckender Größe: Mein Talent besteht darin, winzigste Dinge mit Bedeutung zu pimpen, denn, was ist schon eine Tat?
Hm?
Ein Zippeln im Gesellschaftskörper, ein juckender Punkt! Ohne Trara gewinnt sie kaum Fläche.
(Sagt mir, dass ich mich irre.)

Ich mag sie nicht, bemerkt er zu einem anderen Zeitpunkt.
Wen?
Die Ehrgeizigen! stöhnt er. Solang’ sie jung und am Aufsteigen sind, hängen sie dir endlos am Bein. Sind sie älter und glauben, sie könnten es mit dir aufnehmen, versuchen sie, dich mit Flitzegedanken zu blenden, bis du vor lauter Großartigkeit Kopfschmerzen kriegst.
(Mich betreffend hat er sich da nie Hemmungen auferlegt: mit einem mächtigen Hieb soll ich mich durch den Mainstream hauen, den Stahl durchziehen, während rechts und links meiner Schneide die Redundanz wegspritzt)

Wie sollte man denn stattdessen sein, frage ich vorsichtig.
Himmel und Arsch, es gibt schon zu viel Plauderton auf der Welt!, ruft er.
(Weshalb mir immer das Messer in der Hose aufgeht, wenn ich mit ihm zusammen bin? Ratet mal.)

Wettbewerb ist das Benzin der Gesellschaft. Doch wer betreibt die Tanke?

Okay. Ich sag’s Euch.

…Nee.

Hab’s mir anders überlegt.

Vom Gewebe der Wirklichkeit

… Ein Moment, als ob du ohne nachzudenken an einem kleinen Faden rucktest, der aus der Fassade eines bestimmt über hundert Jahre alten Hauses heraushinge, und überrascht feststelltest, dass da etwas nachgäbe, und vorsichtig weiter zögest, eine Handbreit,
dann noch eine, schließlich hättest du bereits einige Meter beisammen, so dass du anfingest, den Faden zu einem Knäuel aufzurollen und gewahr würdest, dass du mittlerweile dabei wärst, den rechten unteren Fensterrahmen und schließlich den Mörtel zwischen den Backsteinen aufzuribbeln, die restlichen Fenster, die Tür samt Schwelle und die Backsteine selbst.
Ja.
Und wiewohl das alles nicht länger als einen Moment gedauert haben würde, hättest du natürlich bald einen ordentlichen Knäuel.
Du machtest so lange weiter, bis das ganze Gebäude aufgeribbelt wäre, auch die mottenzerfressenen Teppiche im Inneren, das cordbezogene Sofa, die zwei Paar Filzpantoffeln aus dem Schlafzimmer, die Teekanne, der Duschvorhang, einfach alles, und stündest nun vor einer ziemlich riesigen Lücke, wo gerade noch das Haus war. Dann hieltest du inne.
Es wäre immer noch Zug auf dem Faden.

Zustand, Ausstand, Einstand.
Zufluss, Ausfluss, Einfluss.

Wähle den Fluss, nicht den Stand. So beginnst du.