Anders

Ich könnte schwören, dass gerade eben noch Jetzt war, doch etwas ist anders.
ANDERS
Je länge ich starre, desto unheimlicher wird mir das Wort.
Manchmal denke ich, mir entgleitet so viel, so schnell, ins ANDERS, dass es irgendwann nur noch Extreme für mich geben wird: explodierend vor Worten oder komplett sprachlos.

Der Unterschied zwischen Jetzt und Danach: den zu spüren. Ob es ihn gibt?
Jetzt: Eine Seite vollzuschreiben.
Danach: eine Seite zu lesen.
Was ist zwischendurch geschehen, war ich während des Denkens wirklich bei mir, oder doch jemand ANDERS?

Wie kann man überhaupt geistesgegenwärtig sein? Oder wird man von den eigenen Zuckungen gelebt, alles nur Instinkt, Reflex, Anziehung, Zurückweisung, Inklusion, Exklusion? Ich wollte immer eine Art unbestrittenen Könnens erlangen, irgendwann gewisser Dinge sicher sein. Das Einzige, was mich dabei immer wieder irritiert, ist dieses ANDERS in meinem Kopf. „Ja, aber”, flüstert es, “Du solltest es anders machen: nicht so, wie Du bist. Sondern so, wie Du sein solltest.“

Damit steht und fällt die Selbstkonzeption. Niemand von Außen kann mich aufrichten, solange dieses ANDERS mich kleinlaut macht und formatiert. Ich spüre es. In mir, in uns, es ist nie zufrieden mit dem IST, will immer woANDERShin.

Und eben läuft mir die Frage zu, wie das wohl wäre…? Ich spreche von Außenwahrnehmung,
wie es also wäre, wenn sich hinter der höflichen, rücksichtsvollen Person, die wir präsentieren, hinter unserem hübschen, tageslichttauglichen Schirm das unverputzte IST zeigte, das wir so gerne verschlossen halten. Was, wenn wir unser IST zeigen würden?

Der Fluss! Vielleicht ist der Fluss der Schlüssel. Das sich in der Gegenwart aufgehen lassen. Wir müssen uns verhalten! Gegenüber unserer Angst vor dem IST.
Wir sind keine Herde Fluchttiere, auch wenn das Krisenvokabular unserer Zeit uns genau dort haben will. In der Flucht. Der Vermeidung. Von innen aber sind wir grundsätzlich vielschichtiger als das Bild, das sich fremde Wortgeber von uns machen. Was, wenn wir geistesgegenwärtiger wären als alle, die bereits ihre Schlüsse gezogen haben?


***

Aerosolisten

 

Donnerstag, 26. März 2020

(unten als Audio-Datei)

 

Bleib’ solo, Dein Aerosol kann womöglich töten.

Neue Phänomene: sich der eigenen Physis im Kontext anderer Körper auf eine Weise bewusst zu werden, die noch nicht eintrainiert ist. Gefahr, flüstern die neu aufgetauchten Experten, Gefahr, Gefahr, zieht euer Fleisch aus dem sozialen Körper zurück.

Wie viel Raumforderung stellt ein einzelner Mensch? Die dünneren bewegen sich eilfertig, tauchen unter Regalen, Schildern, auch unter den Alten und Schwerfälligen weg, dieses und jenes wird ratzfatz erledigt, während andere verlässlich wie Frachtschiffe ihre Bahnen ziehen. Die hab’ ich gerade besonders lieb.

Klar, den Alten helfen! Dass dazu explizit aufgefordert werden muss! Wir Jogger, das erweist sich unterdessen im Park, kriegen es einigermaßen hin, unsere schweißschleudernden Glieder auf Distanz zu halten, wir mit unseren Stretch und Beats-per-Minute- Playlists, trotzige Atmer, Auftreter, Abroller, die sich quer über’n Feldweg zunicken und denken:
yeah,
bloß nicht einknicken jetzt, gell. Weder real noch metaphorisch.

Zahlen, deren Gültigkeit schon im Moment des Aussprechens erloschen ist, schwirren durch die Kanäle. Ich seh’ Leute im TV, die vorher nur über Skype oder die Resopaltische ihrer Labore und Kantinen hinweg mit ihresgleichen gefachsimpelt haben, Leute, die neuerdings aus jenen No-Go-Areas vor die Kameras treten, für die man Tastenkombis an den Türen braucht. Infizierte Sprache: Jedes dritte Substantiv im Diskurs scheint durch Fachvokabular ersetzt. Wie schnell wir in Veränderungen katapultiert werden können, wenn nur genug Druckmittel da ist! Dabei war ich’s schon vor Corona leid, andauernd vor vermeintlichen Expertenmeinungen in die Knie zu gehen. Jetzt aber sind es gerade diese Gesichter, die es nicht gewohnt sind, in Kameras und Scheinwerfer zu schauen, auf die ich mein Augenmerk richte. Wie heilend so ein ungekünstelter Mensch wirken kann. Hatte das fast schon vergessen.

Zwischenstand for ever

Das Chronische kommt gegen das Akute nicht an. Niemals. Jene, die ringsum akut um ihr Überleben kämpfen scheinen immer mehr im Recht zu sein als jene, die schon ein kalter Regentag depressiv machen kann, oder das Leben als solches. Subjektiv aufgeladener Schmerz ist moralisch nicht mehr tragbar, wirkt narzistisch. Also drückt man’s weg.

Doch der Rückzug auf politisch untadelige Positionen ist ein bisschen wie Marmelade einkochen: als Belohnng kriegt man was Dickflüssiges hinter Glas mit einem Etikett drauf, das nicht mehr abgeht.

Gleise und Achsen

Täglich gegen halb neun dieser energische PIEP vom Balkon, mit dem die Kohlmeise ihr Frühstück anmahnt. Zu diesem Zeitpunkt bin ich längst geduscht und eingecremt. Ich ziehe meinen leichten Kimono über, trete nach draußen, ergreife den handgeschnitzten Kochlöffel, den ich vor Jahren aus Kenia mitgebracht habe, tauche ihn in den Futtereimer und verteile Körner im Häuschen.
Wenige Minuten später der Meise zweiter charakteristischer Ruf: das Trillern. Die versammelte Hinterhofkolonie weiß jetzt, es ist angerichtet.
Nun kommen auch die blauen hinzu. Die sind vornehmer und gucken einen immer ein bisschen schief an. Blinzeln so unter ihren Käppchen hervor, als wollten sie sagen, na, was tust du denn noch hier, du Trampel.
Wie ich da so stehe, nackend in mein Stück Stoff gehüllt, bin ich recht kolossal. Klar. Im Vergleich zu diesen Luftschnuckelchen. Sie müssten es mir aber nicht so unter die Nase reiben.
Bei den Meisen ist es übrigens so, dass immer eine besonders keck und die Neugierige ist. Allen anderen scheint es zu reichen, dass sie Bescheid getrillert kriegen.

Was unterscheidet eine Gewohnheit von einem Ritual, warum erscheint mir das eine fremdgesteuert und das andere nicht? Ich wünsche mir weniger Gewohnheiten, merke ich gerade, weniger Echokammer, weniger Filterblase. Dafür mehr selbstgemachte Magie.
… Aber ich hab’ ja ‘ne Meise. Schon mal ein guter Anfang.