Ungestalt

“Danach zu gieren, im Lauf der Zeit jenen Menschen – es sind wenige – zu begegnen, die mir bestimmt sind und die wirklich m i c h meinen. Erkannt zu werden. Im Unmittelbaren. Das wird aber nur gelingen, wenn ich das meinige dazu beitrage, mich nicht verstelle. Ich muss also bereit sein, mich auch roh und vermeintlich hässlich zu zeigen, damit die Rohheit und vermeintliche Hässlichkeit des anderen in mir Heimat finden kann. Eigentlich finde ich nur Geist schön. Intensität. Dringlichkeit. Körper sind einfach Körper. Man benutzt sie, wie sie sind. Ich werde deinen lieben, weil es deiner ist.”

Hormonschmäh

“Individualität ist weiterhin eine leicht dekonstruierbare Konzeption, man muss nur ein paar chemische Eingriffe vornehmen, schon kommt ein anderes Verhalten ans Licht.”
“Klar. Wir sind steuerbar und werden gesteuert, unablässig, von unseren eigenen Hormonen oder denen der anderen.”
“All das Geschiss um Motive, was Menschen angeblich ideologisch befeuert zu tun, was sie tun?!? Im Ernst jetzt? Ist doch alles Pillepalle!”
“Hormone sind geheimnisvoller als jeder noch so feinziselierte Gedankengang.”
“…Und resistenter als jede Ideologie!”
“Ich, rein hormonell, bin beispielsweise zwei Frauen. Eine dauergeile, vorwitzige in der ersten Zyklushälfte und eine grüblerische, schwerer erregbare in der zweiten. Hab’ ich mir das etwa ausgesucht?”
“Nö.”
“Überall in meinem System kreisen die Botenstoffe… und ohne Produkte der Pharmaindustrie einzusetzen hab’ ich kaum Einfluss darauf, wie die ausgeschüttet werden. Vielleicht sind andere ja gewiefter; i c h kann mich jedenfalls nicht steuern. Obwohl ich’s gefühlt seit Jahrhunderten versuche! Seitdem wir bluten sind wir dem Unfassbaren ausgesetzt. Richtig?”
“So isses.”
“Meinetwegen hätte die Natur bei mir auf den ganzen Kram nach dem Eisprung komplett verzichten können. Mein System müsste nicht jenen Monat wieder auf halber Strecke dieses hormonelle Nest bauen, damit das verflixte Ei reifen kann. Ist doch Mist, ich wollte eh nie KInder! Wo bleibt da die Individualität?”
“Reine Fiktion, wenn du mich fragst. Aber jetzt komm mal wieder runter.”
“Okay. Meinetwegen.”

 

Farah Days Tagebuch, 52

Samstag, 22. April

Anvertrauen

Früher einer der aufregendsten Impulse in meiner Welt. Auch einer der aufwändigsten.
(Stopp. Wollte doch niemals das Wort »früher« schreiben. Macht grau.)
Im Laufe der Jahre sind wir viele geworden, vertrauen uns einander an, beobachten unsere Reaktionen, werden abhängig von ihnen. Nicht mehr der Akt selbst ruft das stärkste Gefühl hervor, sondern der Effekt, den er online erzielt.

Draußen Glockengeläut. Lockruf der Kirche. Doch sie kommt nicht gegen all die anderen Köder an. Effekthascherei läuft über pics and tunes these days, nicht über Bronze.

Der Poet am wenige Meter entfernten Schreibtisch singt die Oper mit, die leise aus seinen Kopfhörern dringt; seine Finger tänzeln über der Tastatur. Im Verlauf einer Stunde schreibt er schätzungsweise die fünffache Menge an Text wie ich, während meine Wörterburgen in den letzten Jahren eine nach der anderen die Brücken hochziehen. Wo ist meine Dringlichkeit hin? Das Anvertrauenwollen?

„Früher…“
„- Stopp!“

Beim Schreiben verrinnt mir die Zeit, während ich nach reifen Gedanken und Formulierungen ausgreife, beim Malen indes wallt sie grandios um mich herum auf, als erfände ich sie neu.
In der Arbeit mit Tusche und Papier geht es nicht um mich… vielleicht liegt’s daran. Ich male, was andere bereits vor mir gemalt haben, meine Motive nehmen keine Gegenwart für sich in Anspruch, sind weder zeitgenössisch noch veraltet, es gab sie schon immer und gibt sie weiterhin und ich male sie.
Meine Pinsel, Papier, das Wasser, die schwarze Tusche.
Seltsam, im Gegensatz zum Schreiben, bei dem mir immer ein Kobold im Ohr sitzt und mich auslacht, wenn ich Sätze hinschreibe, die schon tausendfach irgendwo anders notiert wurden, ist es gerade die Stärke der Tuschemalerei, dass sie nicht individuell sein will, sondern universell. Sagt mein Gefühl.
Im Grunde könnte ich jahrelang das gleiche Motiv malen und hätte wohl kein Empfinden von Falschheit. Vielleicht würde mir eintönig, vielleicht aber auch nicht … und vielleicht käme mit der Beschränkung auf ein einziges Motiv auch die Chance, die Fixierung auf Ergebnis und Originalität mal auszublenden.

Ich suche nach einer Entfesselung vom Ego, möchte fließen wie meine Tusche.

Farah Days Tagebuch, 51

Dienstag, 28. Februar 2017

Nox kommt eben über den langen Flur. Wie immer ist er entspannt gekleidet, dunkle Stoffhose, helles Hemd, dazu eines seiner typischen Jacketts mit dezent folkloristischen Details. Silbernes, fast schulterlanges Haar, unter dem links der kleine, dreieckige Ohrstecker glänzt, nach dessen Herkunft ich ihn immer mal fragen wollte. Ich erhebe mich.
„Farah.“
Er ignoriert meine ausgestreckte Hand, zieht mich an seine Brust. Mehrere Augenpaare sind auf uns gerichtet, außer mir warten noch andere. Mir egal, wenn’s ihm egal ist.
„Nox“, sage ich, den Mund an seinem Ohr. Er greift mir rechts und links an die Oberarme, bringt mich sachte auf Abstand, sieht mir ins Gesicht.
„Komm’.“
Er führt mich durch den Korridor nach hinten, öffnet die schwere Tür, lässt mich durchgehen.
„Setz dich. Was trägst du denn da?“
„Sie machen es mir angenehmer, Menschen die Hand zu geben.“
„Aber rotes Leder?“, fragt er, während er seinen Platz einnimmt. „Und vorne abgeschnitten..?“
„Das sind Fingerlose. Sportlich.“
„Soso. Dann erzähl’ mal. Wie ist es dir ergangen.“

[…]

„Ich weiß inzwischen eine Menge über mich, weiß, warum ich auf bestimmte Impulse innerhalb bestimmter Muster reagiere…
an klaren Tagen kann ich mich an Dutzende von Reaktionen erinnern. Manche waren wichtig, andere hatten kaum Effekt – jedenfalls weiß ich, wie sich eine Reaktion anfühlt.“
Nox hat die Hände mit den Handrücken nach unten im Schoß liegen, hört mir zu.
„ – Aber an meine Aktionen erinnere ich mich überhaupt nicht! Ich bin mir nicht mal sicher zu verstehen, was eine Aktion i s t. Geschweige denn, wie sie sich anfühlt.“
„Ein paar wirst du dir über die Jahre schon zuschreiben können, denke ich…“
„Die waren auch nur Reaktionen auf etwas, das mir zuvor passiert oder nicht passiert ist.“
„Präziser?“
„Bei jeder zukünftigen Handlung setze ich etwas voraus: eine Vorstellung dessen, was bereits geschehen ist und was durch meinen nächsten Schritt geschehen sollte. Ich brauche Voraussetzungen, um handeln zu können.“
„Und wo kommen die her?“ fragt Nox.
„Sie bestehen aus meinen ungezählten Reaktionen, die, sofern ich mich an sie erinnere, mein Ich-Gefühl ausmachen.“
Er nickt.
„Wo aber sind meine Aktionen,“ frage ich, „wie erkenne ich sie?“
„Was bedeutet dir die Vorstellung zu agieren?“
„- Anstatt zu reagieren?“
„Ja.“
„Unmittelbarkeit“, sage ich. „Und Entscheidungsfreiheit.“
„Du willst Entscheidungsfreiheit? Unbedingt?“
„Unbedingt.“
„Dann machen wir jetzt ein kleines Spiel.“
Er erhebt sich.
„Steh bitte auf. Und sieh mich an.“

Farah Days Tagebuch, 50

Mittwoch, 4. Januer 2017

Und wieder einmal sind es die Weggefährten, nicht die neuen Gesichter, die mich mein Leben spüren lassen. Unsere wettergegerbten Bündnisse.
Wir kamen zusammen, als in allen Blicken noch der Mutwillen stand. Inzwischen mustern wir uns sorgfältiger, tauchen unsere Ruder in die Flüsse, die wir einander geworden sind. Unterschwellig geht es immer um Energie. Wer hat welche, wer nicht? So manches Ruder ist schwer von Algen.

Regen. Über Nacht hat er das Alpenveilchen geplättet, die vollgesogenen Blütenblätter liegen auf ihrem Blattwerk wie pinke Mündchen.

Farah Days Tagebuch, 49

28. Dezember 2016

Im kommenden Jahr mehr Bilder malen und ausstellen, häufiger unterschwelliges Denken aufspüren, seltener defizitär resümieren, (überhaupt seltener resümieren, himmelherrgott!), Entscheidungen, die zu treffen sind, nicht immer als Beschneidung der Vielgestaltigkeit auffassen,
Kurztrips ins Ausland.
Da Klamotten reichlich vorhanden und Schuhe ebenfalls wird es Zeit, die Kohle, falls überschüssig, in komplexere Entwürfe zu investieren, auch sieben bis zehn Kilo könnten runter, ohne dass die Garderobe ausgewechselt werden oder ein neuer Stil her müsste,
Landebahnen, Stege, Brücken malen. (Und Leitern aller Art)
Fixkosten überprüfen, im realen wie übertragenen Sinne, Investitionen desgleichen, einfach mal durchweg alles in Frage stellen, nach vorne, nicht nach hinten schauend,
Vorlieben erspüren, die nicht konsumabhängig sind. Auch die Nachlieben nicht vergessen,
dabei weniger Angst vor Fremdsein, Argwohn, Ungültigkeit zulassen (obwohl, Angst ist okay und vielleicht wesentlich zur Aufladung von Plänen und Situationen, wäre also nur die Starre zu vermeiden, die aus ihr resultiert, so oft),
Paukenschläge inszenieren.
Insgesamt nicht mehr so viel Zeit in die Neuschöpfung von Ausreden investieren, das Repertoire stattdessen wiederverwenden, vor allem, was jene anbelangt, die ich nur mir selbst gegenüber einsetze,
grundsätzlich gilt: Was ich nicht gemacht habe, habe ich nicht tun wollen, hugh, zumindest zu diesem Zeitpunkt nicht,
mehr Katzen zu treffen wäre hierbei lehrreich und vonnöten.
Gefühle identifizieren, denn so seltsam das anmuten mag, Gefühle zu identifizieren ist hohe Kunst, die werden andauernd interpretiert und vermarktet, ohne zuvor im Kern gefühlt worden zu sein, das hat Auswirkungen auf die Gesellschaft, den Sex, den Glauben, die Karrieren, die Schwarm- und Einzelintelligenzen, den Mut, Gleichzeitigkeit und Anderssein zu denken und was weiß ich noch, ist auf jeden Fall fatal und braucht mehr
mehr
Eigeninitiative.
Freiwilligkeit ist ein Privileg. Wir suchen uns nicht aus, geboren zu werden, geschweige denn in welche Kultur oder in welchen Krieg, wir werden schlichtweg an die Luft gepresst und dann läuft es für wenige wie am Schnürchen und für viele wie an der Kette und die wehren sich irgendwann und die Schnürchenmenschen behaupten dann gerne, ihre Schnürchen seien doch auch Ketten, aber das stimmt so nicht,
stimmt so nicht, weil die meisten von uns hier inklusive mir kämpfen um den Erhalt von Zuständen, nicht um deren Erlangung und das ist ein verdammtes Privileg, weil wir für diese doch recht angenehmen Zustände meist nicht sonderlich viel getan haben und dieses Privileg gilt es zu befragen, freiwillig, bevor –

Farah Days Tagebuch, 48

Samstag, 26. November 2016

Doch ein wenig erzählen davon, wie sich DERFLUSS gerade anfühlt, eine Armlänge unter dem Wasserspiegel gleitend:
Spiegel
Spiel-Gel
Zähflüssig. Vor allem aber still.
Wir sind viele hier unten. Wir reisen gemeinsam, doch wir lassen uns Zeyt.

Hab einen neuen Liter schwarze Chinatusche gekauft, bei Boesner, der Großzügigkeit wegen. Ein bisschen Aberglaube auch: Aus kleinen Fläschchen steigen nun mal keine Dschinns.
Dazu gekörntes, leicht gelbliches Papier, handgeschöpft, klassisch. Von den traditionellen China-Pinseln bin ich gerade abgekommen zugunsten welcher mit synthetischem Schopf, die vertragen die Tusche auf Dauer besser. Kann nicht alle zwei Wochen ein neues Set Pinsel kaufen.

Das Atelier ist ein Krisenraum, für Anekdoten ist hier kein Platz, alles ist jetzt und neu und dringend. Krisen brauchen intime Sorgfalt, sonst verpuffen sie und man legt die Pinsel weg und isst ein Pfund Eis, anstatt sie auszureiten.
(Oder Schokokekse.)
(I know what I’m talking about, baby)
Die Serie hat mich voll im Griff. Jedes Motiv braucht andere Gesten, entwirft neue Bedeutungsfelder, die betrachtet und befragt werden wollen. Wer tagsüber mit seinen Bildern spricht, weiß abends in Gesellschaft oft nichts mehr zu sagen. Durchaus gefährlich bei Menschen wie mir, die eh zum Schweigen neigen, doch ich kann’s nicht ändern.

(Zum Schweigen neigen.)
(hübsch)

Ebenso will ich verkünden, dass ich ab sofort in meiner Wörterbude das Wort achtsam durch das Wort sorgfältig ersetzen werde, für mindestens ein Jahr. Eine minimal invasive Maßnahme, die dennoch nicht ohne Folgen bleiben wird. Ich mag tendenziell keine Wörter, in denen Zahlen vorkommen. Achtsam, zweisam, einsam… wer braucht die?
Behutsam indes ist hübsch. Fast adrett.

– Weiter, Frau. Erzähl.
– Wassn?
– Was du sonst noch so treibst.
– Ich suche meine verlorene Intimität.
– Wo suchst du sie?
– Außerhalb des Spiegelkabinetts. In der Hingabe.
– Etwas weniger kryptisch, bitte!
– Ich hab mich andauernd beobachtet: mich und meinen Kreis. Meine Auserwählten. Alles sollte immer gut sein, stimmen und nicht weh tun. Ich hab gezählt. Zustände, Stimmungen, Lüste und Leiden. Und versucht, alles in Ordnung zu halten.
– Klingt anstrengend.
– Die Belohnungen sind aber verlockend… deswegen ist es so schwer, davon runterzukommen. Doch bei andauernder Gestaltung von Situationen verschwindet die Falltür: das Gefühl, von einem Augenblick zum anderen verwandelt werden zu können. Ohne zu wissen, ob man das will.
– Verwandelt vom anderen?
– Ja. Und ohne Verwandlung keine Intimität.

Farah Days Tagebuch, 47

Sonntag, der 13. November 2016

Leonard Cohen war der Mann im dunklen Anzug, in dessen sonore Melancholie ich mich fallen ließ, wenn ich fürchtete, mein Chaos nicht mehr aushalten zu können. Als ich noch keine hatte, hat er mir eine Haut gesungen, seitdem trage ich sie unter meiner eigenen. Sie ist ganz weich.

Ring the bells that still can ring

Forget your perfect offering

There is a crack in everything

That’s how the light gets in.

Er ist gestorben.
Stille, erst einmal. Ich lausche immer noch.
Wie das eben ist, wenn jemand stirbt: jemand, auf den es ankommt.

Zwei Ardbeg gestern. Zum Trost. Aber auch, weil B. mich in der Lobby des Hotels warten ließ, in das er mich bestellt hatte. Während er eine Etage höher in einer Konferenz saß, nahm ich in einem der Sessel Platz. Ich trug den schwarzen, fast bodenlangen Kaschmirmantel, hohe Stiefel und sonst nichts.
Das Foyer war pastellig beleuchtet, dazu starkes Lila aus zwei Lichtschächten an der Decke. Ich hatte einen Sessel gewählt, in dem mich jeder würde sehen können, der aus dem Lift träte. Ab- und an hörte ich, wie sich seine Türen öffneten, blickte aber nicht hin. Irgendwann würde es B. sein; das würde ich beim Atmen spüren. Etwas in der Luft verändert sich, wenn er da ist.
Noch war ich offline, doch die Dame an der Rezeption hatte mir einen Code ausgehändigt. Eigentlich rechnen wir den Zugang pro Stunde ab, hatte sie gesagt, doch ihnen erlasse ich die Gebühren. Ich hatte den Zettel mit dem Code dankend entgegengenommen, meinen Mantel fest um mich gezogen und war zurück zu meinem Sessel gegangen.
Ich öffne mein Laptop, gebe die Zahlenfolge ein und warte.

– Ich will das Kügelchen platzen spüren
tippt B. aus dem ersten Stock.

Meine Finger flattern über der Tastatur wie frisch geschlüpft.

It works every time, hat Cohen einmal in einem Interview gesagt und meinte die Sogwirkung seiner Songs. Wie Schatten, unter die man kriecht,
wie wir als Kinder, früher: ein paar Decken über einen Tisch werfen und schnell drunter.
Cohen wusste, was Intimität bedeutet. Und ich, heranwachsend, lernte es auch.
Ich habe lange über sie nachgedacht in den letzten Jahren. Warum sie für mich, hätte ich sie beschreiben wollen, stets dunkel war, im Gegensatz zur Vertrautheit mit einem Menschen. Die immer hell ist.
Es gibt einen Raum zwischen Wollen und Nichtwollen, eine Zeit und einen Klang. Dort eröffnet sie sich. Das Frappierende ist, man kann dort nicht willentlich hin, unwillentlich aber auch nicht.
Intimität wird gegeben.
Und nur, wenn Du einen Raum hast, eine Zeit und einen Klang, wirst Du wissen, dass es gerade passiert.

Farah Days Tagebuch, 46

Montag, 31.Oktober 2016

Alles dehnt sich aus derzeit. Meine Wahrnehmung beginnt, ihrem Anspruch gerecht zu werden; sie ist wahr und sie nimmt.

– Was haben wir getan, warum stürze ich?
– In der Matrix warst du safe, erwidert er, bei mir indes gibt’s nichts als Fallen. Zieh’ noch dein Hemdchen aus.
– … ok
– Nicht flattern. Ich bin doch dabei.

Ganz friedlich jetzt, doch die Nägel mal wieder runter. Schreibt sich leichter so, ganz weich, intim, bis auf den leisen Schmerz. Morgen wieder künstliche drauf und ein Lack in Herbst-Ocker, Sahara, Serengeti.
Farben des Lebenwollens; ich lass’ das Über heute weg.
Bleib dir troy, flüstert jemand in meinem Kopf. Ich frag’ mich, wer von uns gerade navigiert.
Wir sind viele.
In uns ist alles.
Solange sie flüstern, kann ich sie schlecht unterscheiden, doch im Fortschreiten des Tages wird jemand das Ruder übernehmen.

Den Eintrag, behauptet grad wer, wird wieder keine Sau verstehenwollen.
Is nich’ wichtig. Verstehen wird überbewertet. Montags eh, da wolln alle spielen und dürfen nicht mehr.

Also spielen wenigstens wir.

Farah Days Tagebuch, 45

Dienstag, 25. Oktober 2016

“Veränderung geschieht, wenn jemand wird, was er ist, nicht wenn er versucht, etwas zu werden, das er nicht ist.”
Arnold R. Beisser

Doch wie erfahre ich, was ich bin, was sind die Worte, die Werkzeuge, die Zeichen und Bilderfluten des Ist?
Wie geht Vergegenwärtigung?
Aus welchen Quellen speist sich Schreiben, das Unmittelbarkeit herstellt? Kann es das geben, überhaupt? Ein Jetztschreiben müsste wohl sehr viel mehr mit dem Unbewussten verbunden sein als mit dem Bewussten. Da dieses doch fortwährend nur rekapituliert. Das vermeintliche Bewusstsein praktiziert ein Wiedereinfangen und ins-Wort-setzen von Wahrnehmungsprozessen, deren ursprünglicher Impuls immer bereits in der Vergangenheit liegt, während man nach Worten dafür sucht.

Und dann, vor zwei Wochen, tauchte dieser Mann auf. Fast aus dem Nichts. Er ist noch hinter der Mauer, doch einer wie er bleibt das nicht lange.
„Ich werde Sie Brando nennen“, sage ich in mein leeres Zimmer hinein.
Seine Ausschweifungen stehen ihm ins Gesicht geschrieben. Bestens gekleidet. Groß.
Reck’ Dich, wenn Du kannst, sagt der Blick aus dem hellgrauen Augenpaar. Ich weiß nicht, was meiner erwidert. Vielleicht einfach nur:
Ich bin hier.
(Einmal geübt, schon gekonnt)

Ich verweigere die Verkontextualisierung. Will eine Weile lang in neuen Situationen nicht mehr „Ich bin, wie…“ sagen, und dann
immer flugs
zur Verdeutlichung nach einem Vergleich suchen.
Sondern einfach „Ich bin“ sagen.
Denn Vergleiche sind gut gegen die Angst vor dem großen, nassen Namenlosen, doch sie wirken wie diese orangenen Schwimmflügelchen von früher: verhindern das Eintauchen.
Inzwischen bin ich entwachsen. Doch die Angst vor dem Unwägbaren ist nicht kleiner geworden, auch wenn man meine Schwimmflügel nicht mehr mit bloßem Auge sehen kann.

Aussagen zu treffen bedeutet, die jeweils aktuelle mit allen anderen in Bezug zu setzen, die ich gerade im Bewusstsein habe: ihren Kontext herzustellen. Die Aussagen miteinander zu vergleichen, ihre Wechselwirkungen zu registrieren. Das alles recht schnell und – zumindest im Gespräch – reflexhaft.
(flugs)
Das ist normal. Wir sind in einer Gesprächskultur des NichtNachklingen-Lassens, haben gelernt, uns zu unterbrechen in der Wahrnehmung dessen, was wir wollen.

„Wir unterbrechen uns. Und einander.“ (– Das mal nachklingen lassen. Was bewirken Unterbrechungen?)
Und im Gespräch mit einem Gegenüber extreme Achtsamkeit praktizieren, auf kleinste körperliche Regungen achten, auch nachfragen:
„ – Was war das gerade? Und was ist Deine Frage dabei? Was ist das B e d ü r f n i s ?“
Ich bin Therapeutin, längst. Und Künstlerin. Schreiben als Bindeglied zwischen den Welten.

„Mein frühes Werk ist die Angst zu fallen. Später wurde daraus die Kunst, zu fallen. Wie man fällt, ohne sich zu verletzen. Noch später – die Kunst, auszuharren.“
Sagte Louise Bourgeois einmal. Meine Seelenverwandte.

Das Pendel von äußerer Wahrnehmung zum inneren Erleben praktizieren.
Die Grundübung dazu: einfach mit geschlossenen Augen in gesammelter Haltung auf einem Stuhl sitzen. Mindestens zehn Minuten, wenn möglich länger.
Wenn ich anfange, das, was ist, anzuerkennen, stellt sich Veränderung ein. Nicht aus der Geste des Verändernwollens.
Vielleicht ist es auch, wenn ich den Tuschepinsel zum Blatt führe, die Sehnsucht nach Expression, nicht jene nach Modifikation. Ich will ausdrücken, was ist. Nicht etwas verändern, das bereits gewesen ist.
gewesen ist
(- Wie unheimlich Sprache werden kann!)

Als Brando sich erhebt, werden Luftmassen verdrängt. Ich horche, doch sein Atem geht ruhig, er muss sich nicht wuchten. Er erinnert mich an jemanden, den ich mal erfunden habe.
Oder war es LeBlanc, der ihn erfunden hat? Schwer zu sagen: Unsere Welten sind im Wechselspiel. Unberechenbar. Wer abwägt, bleibt außen vor. Meistens sind das die anderen.
– Machen wir noch eine Runde?, fragt Brando.
Er lässt mich weiterträumen, nimmt einfach nur meine Hand und führt mich zum Wagen.

Jetzt.
Ich mache mich wahr. Es ist ganz einfach, wenn man nicht unterbrochen wird.