Adieu, Praxis Dr. Schein

Geschätzte Leser:innen,

neben allem Guten, Katastrophalen und Neutralen, das unser Planetchen heute im Newsflash zu berichten hat, gibt es eine Tatsache, die ich nicht unerwähnt lassen möchte: morgen schließt >>> Dr. Schein seine Praxis. Ich nehme an, er hat die Faxen dicke. Wer kann’s ihm verdenken? Die Sinnstifterei im Netz fällt einem ja nicht einfach so zu, schon gar nicht auf seinem Niveau. Gutes Bloggen braucht Zeiiiit. Oder liegt’s wirklich am Geld, wie er drüben schreibt? Wer weiß, vielleicht haben auch die Freunde gemeckert, oder die Angetraute. Keine Ahnung, ob eine solche existiert; ich kenne den werten Doc nicht persönlich. Aber er zählt zu jenen Netznachbarn, die ich immer gerne besucht habe. Sein Abschied aus der Praxis – so er denn tatsächlich wahr werden sollte – ist mir keineswegs egal, seine geistreichen Beiträge brachten mich manches Mal zu Schmunzen und Nachdenken, auch zum nachdenklich schmunzeln. Einmal hab’ ich wirklich laut aufgelacht: das war, als er das letzte (oder vorletzte?) Mal ankündigte, die Praxis dicht machen zu wollen. Jemand schrieb irgendwas Labbrigsülziges untendrunter. Er schrieb zurück, wenn es eines gäbe, das ihm den Abschied aus dem Netz leicht mache, dann die Tatsache, den Quark ebendieser Person nicht mehr lesen zu müssen. Ganz schön markig – da ist Pfeffer unter dem zivilisierten Schein.
Ich überlege schon seit seiner Ankündigung, ob wir versuchen sollten, ihn zum Weitermachen zu überreden. Aber mit welchem Argument? Wenn ihn der Drang verlassen hat, soll er aufhören. Für mich ist seine Praxis ja ein Stück Netzheimat. Vertrautes Revier, schlagfertige Menschen, die Kommentarfolgen an manchen Tagen freundlich plätschernd, an anderen sehr konzentriert – grad’, wie man’s mag, so als Blogweltenbummler:in. Meine Güte, mir ist eben, als ob das coole Café nebenan zumachen würde.

Mein Programmierzauberer erzählte kürzlich, die Zugriffszahlen auf Twoday bei den Blogs wären insgesamt schwächer geworden, das läge an der schlechten Performance der Plattform. Na, denke ich, vielleicht liegt’s auch daran, dass die Schreibenden Besseres zu tun haben. Mir beispielsweise geht das Genöle auf den Wecker, mit der die Medien seit gefühlten zehn Jahren die schlechte Qualität der Weblogs monieren. Und die Existenz literarischer Weblogs wird schlichtweg ignoriert – Rainald Goetzens längst stillgelegtes Tagebuch mal ausgenommen. Mir aber fallen auf Anhieb mindestens zehn Weblogs von Autor:innen ein, die beständig auf hohem Niveau arbeiten. Ach was, zwanzig. Und ich bin nicht einmal die große Forscherin, was diese Zusammenhänge anbelangt. Wäre schon gut, jemand machte sich mal die Mühe und recherchierte und schriebe einen ausnahmsweise angemessenen Artikel zum Thema literarischer Positionen im Netz. Als Anfangspunkt könnte man prima die >>> Litblogs – Seite hernehmen, allein dort sind schon eine ganze Menge interessanter Köpfe vertreten.

Ah, immer diese Abwertungen der Blogs. Anstatt sich zu freuen, dass zunehmend mehr Menschen sich die Zeit nehmen, die Vielgestaltigkeit unser aller Hirne sichtbar zu machen (ob nun literarisch oder einfach privat, damn it), wird immer nur über deren vermeintliche Egomanie gegreint. Das ist, als hätte man einen Eintopf vor sich stehen und würde sich weigern, den Löffel reinzutunken, weil oben nur klare Brühe mit ein paar Fettaugen zu sehen ist. Man muss eben stochern.
Genug erst einmal. Muss an die Lohnarbeit.
Ein Bild noch, für Dr. Schein. Er kann’s auch behalten, falls er sich seinen Abschied doch noch einmal anders überlegt ; )
Shine on, Doc.

“Back to Basics”

01:14
Komme eben nach Hause und lese die Stimmen, die sich hier erhoben haben. Reichlich Temperament heute im Atelier – schade, ich wär’ gerne dabei gewesen. Na, nächstes Mal wieder. Gute Nacht, allerseits.

Lockstoff: Vorfreude auf Faust Kultur

Vorfreude ist lappig von der Statur, inhaltlich prall und hat ein flashiges Cover. Nur, um es gleich vorweg zu sagen: Lesen Sie das Ding, wenn Sie es in die Finger bekommen.
Was nicht unwahrscheinlich ist, denn es verbreitet sich mittlerweile verdammt schnell.

Stellen Sie sich vor, da gibt es einen Hochbegabten, den seine nicht selten in Turbosprech mündenden Vernetzquickungsfähigkeiten in die Position eines Verlagsleiters katapultiert haben. Stellen Sie sich weiterhin vor, dieser Mann würde eine Verlagszeitschrift machen wollen, die komplett anders daherkommt, intellektuelles Frischfutter, noch dazu umsonst und in spektakulär hoher Auflage. (Die sich seit der ersten Ausgabe von 7000 auf inzwischen 85.000 gesteigert hat, uff)
Drinnen eine Art Meteroitenwolke aus ersten Vermutungen, frühen Verdachtsmomenten, zaghaften Ansätzen und Halbfertigprodukten, bereit zum Aufschlag:

In den Papierkörben und unter den Schreibtischen von Text- und Bildautoren, in den Asservatenkammern von Archiven und Museen, in Verlagslägern und Froschmappen liegen und gären embryonale Konzepte und Ideen, deren Realisierung auf Zeit und Mittel wartet. Material für Nachrichten, die nie journalistisch aufbereitet werden, solange sie nicht zu Ereignissen werden und deshalb keine Öffentlichkeit erfahren. Wir bemühen uns als ›Digitalakrobaten‹ um die Rettung dieser untergehenden Welten.

Na, das ist doch mal ‘ne Ansage, oder?

Also ich steh’ auf embryonale Konzepte und auf Vorfreude sowieso. Gern auch knisternd. Aber ohne Scherz: Es gibt nicht viele Leute, die den Boden für die Realisierung solcher Vorhaben und deren spätere Beachtung bereiten wollen. Wirtschaftlich kommt man mit so etwas nicht in die A-Liga.
Aber:

Lamentiert wird schon genug. Statt klassischer Nachrichten über Ereignisse, die bereits stattgefunden haben, liegt der Schwerpunkt der Berichterstattung auf Projekten, die erst noch stattfinden sollen – sowie auf Neu- und Wiederentdeckungen. Dabei geht es der Redaktion vor allem darum, Inspiration und Erkenntnisgewinn miteinander freudvoll zu teilen.

Seit neuestem ist >>> Faust Kultur ebenfalls mit am Werk. Was nicht wundert, denn auch die drehen ein gutes Rad.

Zum Vorfreude/Bruttank geht’s >>> hier lang.
Die Vorfreude/Keimzelle finden Sie bei >>> Faust Kultur/Kategorie/Gesellschaft.

Lockstoff: parallalie

lange herzen …

lange herzen
brummen gegen
fensterscheiben

kurze herzen
setzen sich
auf deine hand

die frucht
flieht den baum

das fliegen
der fliegen
die fliegen

die finger
an den händen
wie immer
zu träg’
ins vage
hinein

go to: >>> parallalie

Die Arbeit dieses Dichters lässt mir immer das Wort diskret in den Sinn kommen. Vielleicht, weil ich vermute, wie viel passieren muss, bevor aus der Fülle des Erlebens so eine leise schöne Rätselstange werden kann.
Darüber verliert parallalie dann ein Wort. Oder ein paar mehr. Aber nie viele – immer gerade richtig viele. So dass ich immer denke: danke.

Lockstoff: andreas louis seyerlein

echo

~ : oe som
to : louis
subject : SCHNECKEN
date : sept 24 11 7.12 p.m.

“Früher Abend, ruhige See. Möwen, die unser Schiff wie eine Insel bewohnen, kreisen dicht über dem Wasser. Gerade eben meldete Noe, zwei Putzerschnecken näherten sich seinem Gesicht. Er müsse jetzt vorsichtig sein, um sie nicht zu verletzen, sofern sie seinen Mund entern sollten. Noe wohlauf. Seit zwei Wochen senden wir Jazz, wann immer Noe Jazz zu hören wünscht. Wir haben zunächst Charlie Parker geladen, das machte ihn nervös, weil er sich nicht bewegen kann im Taucheranzug im Rhythmus, der schnell geht, ruhelos. Wir proben, forschen nach sanfteren Takes. Er könne, das sei neu, berichtet Noe, wenn er das Wort Regen lese, sich das Geräusch des Regens nicht länger in Erinnerung rufen, als würde sich das Wort Regen nach und nach entleeren. Wir haben versprochen, Regen für ihn aufzuzeichnen und in die Tiefe zu schicken. Gestern, als wir nachts alleine miteinander sprechen konnten, wünschte Noe, dass ich ihm das Schiff beschreibe, unter welchem er schwebt. Er sei glücklich, sagte Noe, aber er sehne sich nach einer Uhr.” – Dein OE SOM

Go to: andreas louis seyerlein >>> andreas louis seyerlein.de

Auch Seyerleins Weblog entdeckte ich vor einiger Zeit via >>> Litblogs.net, herausgegeben von Christiane Zintzen und Hartmut Abendschein. Thanx a lot.

Lockstoff: Denkwerk Zukunft

[…] “Damit die westlichen Gesellschaften auch bei sinkendem materiellem Wohlstand funktionsfähige, demokratisch regierte Gemeinwesen bleiben, müssen die Menschen erkennen, dass eine weitgehend auf materielle Wohlstandsmehrung fokussierte Kultur eine arme Kultur ist. Gegenwärtig stehen sämtliche Erscheinungsformen der Kultur wie Bildung und Wissenschaft, Politik und Recht, Kunst und Sport, Kommunen und selbst die Familie im Dienste des einen großen Wachstumsziels. Ihr Eigenwert ist demgegenüber nachrangig. Dies führt jedoch dazu, dass sie wichtige gesellschaftliche Funktionen nicht oder nur noch eingeschränkt erfüllen können.” […]

Go to: Denkwerk Zukunft >>> Stiftung kulturelle Erneuerung

Lockstoff : Antje Schrupp

[…] Aber die Unvereinbarkeit zwischen Frauen und dem Prinzip des Rechtsstaats geht noch tiefer. Ganz objektiv ist das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit eines, das vor allem dazu erfunden wurde, um Konflikte unter Männern zu regeln: Von allen Inhaftierten in Deutschland sind lediglich 5 Prozent Frauen, bei den rechtskräftig Verurteilten sind es 16 Prozent. (Quelle) Was die schweren oder „gemeingefährlichen“ Verbrechen angeht, so betrifft das Rechtssystem also praktisch ausschließlich Männer. Man könnte es auch zugespitzt so sagen: Würde es nur Frauen geben, bräuchten wir keine Justiz.

Ähnlich sieht es im Übrigen auf Seiten der Opfer aus. Mit Ausnahme von Sexualdelikten, bei denen die Opfer fast alle weiblich sind (über 92 Prozent) sind auch die große Mehrzahl der Opfer von Straftaten Männer oder Jungen, nämlich knapp drei Viertel zum Beispiel bei Gewaltdelikten. (Quelle)

Da wir uns wahrscheinlich alle darüber einig sind, dass der Grund für diese Ungleichverteilung nicht darin liegt, dass Frauen die besseren Menschen und generell brave Lämmchen sind, bleibt nur eine Schlussfolgerung: Die Themenbereiche, um die es geht, wenn Frauen in zwischenmenschliche Konflikte über Richtig und Falsch, Gut und Böse involviert sind, werden nur zum Teil und quasi zufällig vom „Prinzip Rechtsstaatlichkeit“ abgedeckt. Es ist also durchaus nachvollziehbar und meines Erachtens auch notwendig, dass Frauen eine distanzierte Haltung zu diesem Komplex einnehmen. […]

Go to: Antje Schrupp auf >>> Antjeschrupp.com

Lockstoff : Gleisbauarbeiten

Wir alle hier haben diesen nucleus. Bei manchen sieht er aus wie eine Feuerstelle. Eine Praxis oder ein See. Ein Urwald. Andere haben Netze. Es gibt Paläste und Nester, Ashrams und private kleine Vorführräume; er kann jede denkbare Gestalt annehmen.
Es ist eine Kunst, solch einen nucleus zu bauen und zu füllen – man trifft harte Entscheidungen. Es darf nur einen geben und er muss eher kompakt sein als groß. Damit sich möglichst nur Essenzen dort verbinden. Selbst wenn diese erst dabei sind, welche zu werden. Wenn der nucleus zu stark anschwillt, wird er beliebig, füttert man ihn zu oft mit geliehenen Stoffen, wird er beliebig, überlässt man ihn allzu lang fremden Blicken, wird er ebenfalls beliebig: er braucht wirklich größte Aufmerksamkeit, um eigen zu sein.
Verdammt selten kommt es vor, dass sich diese Dinger einander nähern – so vieles muss stimmen oder auf die richtige Weise falsch sein. Wenn es aber geschieht, entsteht eine Konstellation. Da rückt etwas in die Nähe, das auf eine Weise vertraut genug ist, die Befangenheit zu nehmen und gleichzeitig fremd genug, eine Unruhe zu wecken. Sie, die Unruhe, ist das Gebot, nicht auf den eigenen Kissen einzupennen.
Das Geniale an solchen Konstellationen: sie vergewissern, ohne schlaff zu machen. Es ist mit ihnen wie mit dem Duft von frischem Brot, der durch ein offen stehendes Fenster herein zieht: er macht die Lust, er sagt, da draußen wird gebacken, ersetzt aber nicht den eigenen Ofen.
Manchmal braucht man ja einfache Bilder)

Soweit das, was sicherlich für uns alle gilt.

Lassen Sie mich einen dieser nuclei benennen, die für mich eine unwiderstehliche Anziehungskraft haben: Die Gleisbauarbeiten. Sie kennen Gleise und See: diese Orte sind keine geheimen mehr, könnte man denken. Für mich aber schon. Immer, wenn ich dort bin, habe ich diesen Eindruck einer nicht vergleichbaren Nähe.
Selbstverständlich ist das Projektion. Na und? Was anderes könnte es denn sein? Konstellationen entstehen durch Projektion; die ist erst einmal egozentrisch. Dann verwandelt sie sich. Manchmal.
Ich weise auf das Offensichtliche hin: das, was dort passiert, ist von hoher literarischer Qualität. In meinem Fall geht das oft so weit, dass es mich entwortet. Was schade ist, denn Melusine will ja andere nicht zum Verstummen bringen, nur weil sie eine feine Sprache am Leibe hat.
Das weniger offensichtliche, das, wofür man Zeit braucht drüben auf den Gleisen: wie dort alles Stoff wird. Wie sich Erlesenes und Erlebtes transformiert, wie Areale entstehen und all die unterschiedlichen Stimmen und Laute eine Gestalt bekommen. Fleisch werden. Das ist überzeugend, braucht aber seine Zeit; man muss da eine gewisse Hartnäckigkeit entwickeln. All die Spuren laden ein, ihnen zu folgen, verführen aber auch massiv dazu, eigene zu setzen. Denken Sie an das Brot.)
Wie sehr mich das anregt: Diese Struktur. Die Manifestationen. Ebenso wie das Verfahren: die Übersetzung von Innen nach Außen. Dort an den Gleisen unterwegs zu sein, schafft den seltsamsten Gegensatz zwischen intim und unpersönlich, der mir bisher im Netz begegnet ist. Danke dafür.

Go to: Melusine B. auf >>> Gleisbauarbeiten

Lockstoff : Samtmut

“Der Alte war so ein charakterfester Typ. Die Leute sagten immer, er gehe seiner Wege. Man schätzte ihn wegen seiner zugeknöpften Art. So brauchte man sich nicht lange mit ihm herumschlagen. Er, der oft tagelang in seiner abgelegenen Sennhütte verschwand, hätte sicherlich nichts zu erzählen. Das glaubten alle. Bis zu dem Tag, als eine der Dorfbewohnerinnen in einem Gedränge auf dem Markt an seinen Leib gepresst wurde und vor Schreck erstarrte.”

Go to: >>> Samtmut

Lockstoff: Zeitnetz

“Sie erkennt, dass sie den Täuschungen anheimgefallen ist. Dass sie nie geglaubt hat, was sie sah, was sie fühlte, nur das was zu sehen erwartet wurde.
Die Tür ist offen. Sie verlässt den Raum. Sie macht sich keine Gedanken über die Papiere, die auf dem Tisch zurückbleiben. Was dort geschrieben steht, diese Geschichte, war nur für sie bestimmt.
Die Möwen schreien. Einige Fischer kehren heim. Mit halbvollen Netzen. Sie grüßt die fremden Männer, setzt sich zu ihnen, bewundert ihren Fang, bedauert mit ihnen, dass es immer schwerer wird zu leben, auszukommen. Bedauert, dass es keine aufrechten Worte des Bedauerns gibt. Keine, die denjenigen, der sie ausspricht, mit Stolz erfüllen könnten.
Kann man stolz sein, auf seine leeren Hände, fragt sie sich. Warum nicht, denkt sie. Das ist der Moment, in dem sie anfängt zu zeichnen.
Sie wählt eine Farbe, zeichnet eine Straße, Häuser am Straßenrand, viele, eng beieinander stehende, identische Häuser. Sie folgt dem Stift. Sie hat keinen Willen, zeichnet, was ihre Hände ihr diktieren.
Sie fühlt sich frei. Solange ihre Hand sich bewegt, ist alles gut. Sie vergisst. Es gibt kein Gestern und kein Morgen. Kein Bild. Nur den Moment, der sie zeichnet, den sie zeichnet.”
(“Leere”)

Go to: Weberin im >>> Zeitnetz