Neunter Brief. Seidene Finger.

K****, 23. Juni 2010.

Dr. Sago,

tagelang nicht ein Wort von Ihnen, und jetzt nur diese eine Frage? Wissen Sie eigentlich, was ich durchmache, w i s s e n Sie es? Ich bin von Sinnen, Tage und Nächte ziehen rasend vorbei, in rötliches Licht getaucht. Nachdem ich aus jenem Institut zurückkehrte, glaube ich, geschrieben zu haben, bevor ich auf mein Lager sank. (Habe ich? Ist mein Brief angekommen? Aber ja doch, er muss Sie erreicht haben, sonst machte Ihre Frage keinen Sinn.)
Ich glaube, ich war noch in der Lage, im Nebenzimmer einen Zettel zu hinterlassen. Später jedenfalls, als ich erwachte, waren sämtliche Fensteröffnungen mit langen Bahnen aus burgunderfarbener Seide verhängt. Hätte man nicht eine andere Farbe – ? Doch nein, blutrot, wie um meinen Jammer zu beflaggen. Die Stoffe sind so großzügig bemessen, dass sie von jedem Fenster fallend sich am Boden noch in Wellen ausbreiten. Auf jene hat man jeweils einen großen, behauenen Stein gesetzt, um zu verhindern, dass die Bahnen bei dem steten Wind (langsam beginne ich, ihn zu fürchten!) in mein Zimmer hineinflattern. Ich kann nicht umhin mir vorzustellen, wie diese Bahnen unbeschwert als lange, seidene Finger bis an mein Bett heranwehen würden…
Oh, ich höre Sie lachen, Doktor. Wie unpassend.
Sie machen sich keine Vorstellung.
Wenn doch, wüssten Sie! Wie es mir, unmarkiert zu sein nach all den Jahren, den Boden unter den Füßen raubt. Ich wage nicht, mir auch nur andeutungsweise vorzustellen, was er tun wird, wenn er es erfährt; kaum streift mich ein solcher Gedanke, fängt mein Herz an zu rasen, als wollte es mir durch die Kehle zum Mund heraus springen.

Sie fragen, wie es aussah, mein Zeichen.
Die Krankenschwester (dieses Ross) gab es mir in einer kleinen, farbigen (ist denn hier alles farbig?) Plastiktüte mit, bevor ich das Institut verließ: „Better you bury it“ sagte sie. Ich konnte ihren Blick nicht deuten, benommen wie ich war; inzwischen glaube ich, es lag etwas Verachtung darin. Doch was schert mich das? Was ich tat, tat ich aus eigenen Stücken. Er hätte darauf bestehen können, doch das war nicht nötig.
Moment…
Ich höre, im Nebenzimmer wird mein Mittagsmahl angerichtet. Sie werden sich gedulden müssen, bis ich gespeist und geruht habe. Wenn Sie mir die Bemerkung gestatten: es tut mir nicht leid! Sie sind ein Untier, Doktor. Ihr Übergriff!!

L.

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