Siebter Brief. Nicht jeder Schemel ist ein Königreich.

K****, 15. Juni 2010, des nächtens

Sie belieben zu scherzen, verehrter Dr. Sago,

– nicht wahr? Ich schwöre, von diesem Rabauken, der sich Regisseur schimpfte, hab’ ich nach meiner ersten Begegnung nie wieder gehört. Wie auch? Das Mensch weiß doch gar nicht, wo ich abgestiegen bin. Überhaupt, Ihr Zweifel an mir!

Sie fragen nach meinen blauen Flecken.
Ich will Ihnen nicht verhehlen, dass ich ein wenig selbst Schuld daran trage. (Nicht genug, dass meine Kniescheiben noch von vorgestern mit Schorf bedeckt sind wie bei einer Sechsjährigen. Peinlich bei den kurzen Röcken, die ich trage)
Nun denn! Ich pflege auf meinen Streifzügen durch die Stadt wenig darauf zu achten, welche Stadtviertel für Personen meiner Herkunft und Abstammung geeignet sind – und welche nicht. Hatten Sie mir nicht selbst geraten, ich solle mich ins Getümmel werfen? Was haben Sie sich nur dabei gedacht? Und, weit wichtiger noch, worauf wollten Sie hinaus? Ihr Vorschlag, der sich, je länger ich ihm nachsinne, wie eine Anordnung liest, der weitere folgen könnten – ich ahne! Schon will mir die Vorstellungskraft davon galoppieren…

Doch zurück: ich war nächtens unterwegs (Sie kennen mich, ich ruhe gerne über Tage und das hiesige Kima begünstigt diese Vorliebe), ausgestattet mit meiner Perücke No 2., der schwarzlockigen, von der Sie immer missbilligend behaupten, sie mache ein Zigeunerweib aus mir. Darüber ein Schleier gleicher Farbe.
Oh doch, Sie lesen richtig! Ein wenig Rücksicht auf Sitten und Gebräuche muss sein – bei allem Freigeist, dem zu frönen ich mir gelegentlich erlaube. Auch der Rock: ab achzehn Uhr bodenlang.
Jetzt lächeln Sie wieder, ich weiß es genau!
Nun? Denken Sie sich schon, was geschah in dieser Nacht? Noch nicht?

Sehen Sie mich vor sich: ich sitze, es wird bald Mitternacht sein, erschöpft am Rande eines überdachten Basars, mitten in einem der vielen Stadtteile von K****, fragen Sie nicht, welchem. Eben habe ich beschlossen, mir in Kürze ein Taxi rufen zu lassen. Ein freundlich wirkender Mann, der nahbei einen Stand mit frisch gepresstem Granatapfelsaft betreibt, scheint mir zur Ausführung dieses kleinen Dienstes geeignet – insbesondere, als ich ihm einen großzügigen Obulus überließ. (Ich war zu müde, das Kleingeld wieder einzupacken.)
Ich trinke meinen Saft. Die Nacht scheint mir hold wie eine frisch vermählte Landjungfer, trotz des emsigen Treibens, das um mich herum auch zu dieser späten Stunde seinen Lauf nimmt.
Sehen Sie mich vor sich?
Ich falle nicht weiter auf. Das Haar unter dem Schleier verborgen, das lange Gewand, meine dunklen, kajalumrandeten Augen… ich falle nicht auf. Glaube ich. Insbesondere, als meine Füße auch ein Paar jener schlichten Pantoletten aus Satin zieren, die alle Frauen hier tragen, und zwar – aufgemerkt! eine Nummer kleiner, als der Größe meiner Füße angemessen wäre. Alle einheimischen Frauen dieser Stadt tragen zu kleine Schuhe. Lachen Sie nur! Es ist die Wahrheit.
Ich sitze friedlich und unbehelligt auf meinem Schemel, als eine junge Frau in mein Blickfeld gerät, offensichtlich nicht von hier stammend; ich tippe auf das vereinigte Königreich. (Ihr Teint ist makellos, wenn auch leicht gerötet). Nachdem sie am Rande der Handelszone ein wenig herumgestöbert hat, überkommt sie wohl der Durst, denn sie eilt zielstrebig auf meinen Mann mit dem Pampelmusen Granatapfelsaft zu. Sie fragt. Zahlt. Trinkt. Und tritt (mein Blick ruht auf ihr) plötzlich an mich heran.

Und da reitet mich doch plötzlich der Teufel, Doktor!!
Ich frage sie in vermeintlich gebrochenem Englisch, ob ich ihr aus der Hand lesen solle?
„How much?“ fragt die Dame, ihren Wortschatz meiner geringen Beherrschung ihrer Muttersprache anpassend.
„One hundred *****“ entgegne ich aufs geradewohl, „very cheap!“
(Ich wieherte innerlich vor Lachen, Doktor, Sie werden es sich denken!)
„Oh, please, yes!“ haucht die Engländerin, sinkt schwer neben mir nieder, den Becher beiseite stellend, und streckt mir ihr fleischiges Händchen entgegen. Welches ich ernst in meine linke nehme, während ich mit dem Zeigefinger der rechten ein paar Linien entlang fahre.

Ich kürze ab: Sie wissen aus leidiger Erfahrung, wie gut ich fabulieren kann… am Ende jedenfalls reicht mir die beglückte Dame nicht hundert, sondern zweihundert ***** auf die Hand. Vor aller Augen.
Das nun hatte ich nicht bedacht.
Denn da sind die Weiber gleichen Gewerbes, derer ich erst jetzt gewahr werde, als sie -fast synchron- von ihren verstreuten Arbeitsplätzen aufspringen. Entschlossen drängen sie mir und meiner ersten (einzigen!) Kundin entgegen – ich habe, vor ihren Augen, in ihrem Revier ein Geschäft abgewickelt, das mir nicht zustand.
„Go! Quickly!“ dränge ich die Britin, schiebe sie von mir.
„What’s the matter?“
„Trouble, maybe fight“ raunze ich. „Go away!“
Kopfschüttend entfernt sie sich. Während ich mich innerlich wappne.
Und den heimischen Damen zuwende.

Sie ersparen mir, den Ausgang dieser ungleichen Begegnung zu schildern, nicht wahr?
Ich bin recht müde vom Schreiben, auch habe ich Ihre Aufmerksamkeit heute über Gebühr beansprucht. Doch lassen Sie mich noch anfügen, dass ich alle Blessuren der letzten Tage mit Stolz trage! Sie wären nicht der Mann, für den ich Sie halte, wenn Sie nicht wüssten, warum…

Ah… der Nachbar betet wieder.
Ich gehe zu Bett. Jedoch nicht, ohne zuvor einen innigen Gedanken zu entsenden…
als die Ihnen herzlich verbundene
L.

9 Gedanken zu „Siebter Brief. Nicht jeder Schemel ist ein Königreich.

  1. Die Masken. Und dass, wenn sie getragen werden, ohne Umstände eingetreten werden kann: Masken kürzen den Zweifel, das Zögern zu Beginn einer Interaktion ab. Dafür entsteht im Ausklang einer maskierten Szene ein neues, sehr spezifisches, weil vorhersehbares Feld: die Demaskierung. Selbst wenn sie nicht stattfände, dächte man sie mit.

    Selbstverständlich wartet eine Maske auf L. Wir wissen es alle. Ihre Sorge um sie ist nicht ganz unberechtigt.

  2. Wir wissen es (alle?) “Sie trägt eine Maske. Die Züge darunter vergaß sie mit den Jahren selbst. Welch Grübchen ist das da, welches sich um den Mundwinkel gebildet hat? Das Spiegelbild lächelt. Es dauert Minuten bist sie sich entschließt dies Lächeln zu erwidern, noch unsicher. Kennen wir uns? Ich sah dich lange nicht. —Beim Hinausgehen wirft sie der bleichen Larve einen letzten Blick durch die Augenschlitze zu. Sehen wir uns noch einmal?”

    Umstandslos ein- und austreten, andere Umstände – meine nicht, bin sehr umständlich.

  3. Für die Umständlichen sind Masken grandios. Nicht jene, von denen Sie zu sprechen scheinen, die aus den Gesichtszügen geformten, derer man sich im Alltag bedient. Sondern die anderen. Die man auf- und absetzt, um zu spielen. Nicht, um zu funktionieren.

    Sie könnte sich ja mal eine zeichnen…

  4. Melusine, p.s. Warum gelingt es mir nur nicht, bei Ihnen auf Gleisbauarbeiten zu kommentieren? Ich würde so gerne. Gibt es da irgendeinen Trick? Oder sind mir jetzt auch noch die letzten Synapsen durchgebrannt?

    • Sch…Technik…. Ich glaube nicht, dass einen Trick gibt. Wenn ich es tue (also antworten), dann mit meiner googlemail-Identity (brr, wie das klingt9. Aber andere können offenbar auch anders. Aléa Torik schrieb mir, dass der Umfang begrenzt ist. Das stimmt und vielleicht kann man es ändern, indem man am Code fingert, aber dafür brauche ich ein Wochenende Zeit (falls ich es dann hinkriege). Im Prinzip müsste es aber ganz einfach sein: Kommentar-Funktion anklicken. Vielleicht liegt es dran, dass Sie im Ausland sind, liebe Phyllis. Ich freute mich jedenfall sehr über einen Kommentar. Wenn´s gar nicht geht, könnten Sie in mir ja hilfsweise, bis wir das Problem gelöst haben, per mail senden und ich stelle ihn dann unter Ihrem Namen ein (melusinebarby@googlemail.com). Blöd ist das aber. Was passiert denn, wenn Sie es versuchen? Ich beschreibe das mal den Admins. –

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