Dem gierig aufgesperrten

Schlund der Weltwirtschaftskrise hab ich heute Morgen ein paar Milliarden Raureifdiamanten in den Rachen geworfen, die mir beim Joggen den Weg beglitterten.
Man beobachte die heutigen Börsenkurse: Mal sehen, ob meine Diamanten als Währung akzeptiert wurden.

Abwegig?

Ob man es einrichten könnte, einmal am Tag, sagen wir eine halbe Stunde, gänzlich ungeschönt zu sein? Schwer wäre das, und nur in formalisierter Weise überhaupt durchführbar.
Ich stelle mir das so vor: Man nimmt sich einen Zeitpunkt, meinetwegen vierzehn Uhr.
Und lässt alle Welt wissen, dass man zwischen vierzehn und vierzehn Uhr dreißig täglich alle Beschönigungen, die das soziale Gefüge erst möglich (aber eben manchmal auch irreal) machen, außer Kraft setzen wird.
Wenn Sie mich in diesem Zeitraum anrufen oder treffen, würde man verlautbaren, erleben Sie mich ohne Pufferzone.
Man würde, in dieser halben Stunde täglich, die Dinge beim Namen nennen. Ohne das Schmieröl der Höflichkeit. Ohne Rücksichtnahmen, weder auf sich selbst, noch auf andere.

Es wäre ein Angebot. Ich komme darauf, weil ich immer wieder feststelle, dass ich meine Urteile, meine Meinungen und Wahrnehmungsleistungen insgesamt gewöhnlich verändere, bevor ich sie anderen zugänglich mache. Ich will keine Steine ins Getriebe werfen. Irritationen vermeiden. Verletzungen ausschließen. Ich ahne allerdings, dass ich mich und andere damit auch der Bewegung beraube, die der reine Klang der Denkmaschine hervorrufen kann, wenn sie einmal nicht mit Dreifachlagen von Konzilianz abgepuffert ist.

Wie halten Sie es denn so mit dem Schönreden, liebe Leser?

Kalt

soll es sein? Novemberfrust? Kopf zwischen die Schultern ziehen? Dieses Jahr merke ich nichts davon. Mein inneres Kraftwerk läuft auf Hochtouren. Das ganze Gerede von Energie sparen ficht mich nicht an. (Werd auch weiter die ollen, heißen Glühbirnen benutzen, solange die EU mich lässt)
Hektik
tik
tick
aber das wird schon wieder.
Plätzchen, selbst gebackene, sind mütterlicherseits eingetroffen, Vorzeichen für demnächst einsetzende Gemütlichkeit.

Plitsch

Schlabberige Tropfen vor dem Fenster, unentschlossen, ob sie Schnee oder Regen sind. Kaum Licht, überfrierende Nässe, die Autos juckeln vorsichtig durch den Matsch. Ich ziehe meine Rennklamotten über. Los jetzt, Phyllis. Der Winter wird lang. Nass. Und kalt. Wenn Du vor jedem Schneeregen einknickst, wirst Du die nächsten Monate weichlich auf Stube verbringen.
Also los. Beschleunigung. Und atmen. Immer schön atmen.

r rrrrrr

Was ich am besten kann? Alleine sein. Fühlt sich am natürlichsten an. Wenn ich alleine bin, gelingt es mir manchmal, mich zu vergegenwärtigen: Ich gerate dann in die richtige Verfassung, meinen Geist in meinen Körper einzuladen. Unbedarfte Beobachter mögen glauben, er sei immer darin, doch das ist nicht wahr; er streift frei umher, nur durch ein dünnes, unsichtbares Elastique mit meinem Körper verbunden. Er ist hochnäsig dem Fleisch gegenüber. Er empfindet die Daseinszustände des Fleisches als banal.
Ich erinnere mich nicht, ob ich dieses getrennt sein von Geist und Körper schon als Kind bewusst wahrgenommen habe. Kann gut sein. Die Neurodermitis plagte mich so sehr, dass ich früh raus wollte aus dem Gebäude meines Körpers. Das geistlose, rabiate, allgegenwärtige Jucken der Haut, von den großen Flächen bis in die kleinsten Winkel, war nicht auszuhalten. Nicht bei gesundem Verstand. Das Geistige an mir wollte weg vom Jucken. Bloß weg.

“Kann halt nicht jeder ein Pilz sein. Na und?”

Wie sich das anfühlt, verstehen wahrscheinlich nur andere Neurodermitiker – es ist wahrlich die Hölle, es hat biblische Qualität, es macht einen klein. Hier das Jucken, dort der menschliche Wurm, der davon heimgesucht wird. Man wird in seiner Persönlichkeit auf Reflexe reduziert, auf Kratzen, oder sich mit aller Gewalt daran hindern, zu kratzen. Das auszuhalten, macht auf die Dauer wahnsinnig, weil es alles andere, subtilere, einfach auslöscht.
Besser, man haut ab.
Da ich schon als Kind Neurodermitis hatte, ist dieses Abhauen in meinem Fall schon lange her. Jeder macht es auf eigene Weise; ich wählte Bücher. Lesen hat mir ganz, ganz sicher das Leben gerettet. Ich muss das so sagen, auch wenn meine Vehemenz für diejenigen, die noch nie in akuter Gefahr waren, peinlich wirken könnte. Alle anderen werden wissen: Es gibt Dinge, die retten einem das Leben. Fertig. So ist es einfach.
Das ist eigentlich keine Geschichte vom krank sein. Ich komme nur darauf, weil ich nach Erklärungen suche, warum mein Geist immer außerhalb unterwegs ist. Warum es ein bewusster Akt ist, ihn ‚nach Hause’ einzuladen.
Denn inzwischen ist er ja friedlich, der Körper. Ich muss ihn allerdings unentwegt und sehr bewusst in Gang halten, damit er geschmeidig bleibt und dem Geist ein wohnliches Zuhause bieten kann. Und dann, selbst wenn der Körper schön ist und warm und vor sich hin schnurrt wie vom Katzengott geküsst, selbst dann braucht es Ruhe, damit Gegenwart eintritt.
So wie
Jetzt.

Ich kann es nicht glauben.

Madame Renee Michel, die Concierge in Muriel Barbery’s Roman “Die Eleganz des Igels”, ist eben gestorben. In meinem Bett. Vor acht Seiten hatte ich noch geglaubt, sie würde an der Seite des kultivierten japanischen Herrn glücklich werden, der sie aus der Reserve ihrer selbst gewählten Einsamkeit gelockt hatte. Und die zwölfjährige Paloma, aus deren Tagebucheintragungen der andere Teil des Romans besteht, würde die beiden zu ihren Wahleltern gemacht haben.
Nun ist sie überfahren worden. Bis eben wollte ich es nicht glauben. Der Moment, in dem Madame Renee auf der Straße stirbt, gehört zu den ungeziertesten und schönsten, die das Buch zu verschenken hat.
Sowas kann mir auch nur ein französischer Roman antun. Die Franzosen haben das Buch vielfach geehrt. Wegen der Concierge. Wegen des altklugen Kindes. Wegen der Hiebe auf das französische Großbürgertum. Nicht zuletzt bestimmt wegen der vielen übergewichtigen Katzen, die darin vorkommen. Und ein wenig, schätze ich, weil die Autorin, die zugleich studierte Philosophin ist, ihre (wie mir scheint, recht eigenwilligen) Ausflüge in ihr Fachgebiet immer so charmant zwischen Törtchen und Tee trinken packt, dass man als Leser gar nicht merkt, dass man etwas lernt.

Zwei Tagebücher, daraus besteht der Roman: Dem der vierundfünfzigjährigen Concierge, die ihren Scharfblick und ihre Bildung versteckt, um von der gehobenen Gesellschaftschicht, zu der sie nie gehören wird, in Frieden gelassen zu werden. Und dem einer überdurchschnittlich intelligenten zwölfjährigen, Paloma, die sich in ihrer eigenen hochherrschaftlichen Familie wie ein Mutant vorkommt.
Die Autorin, 1969 geboren, hat Philosophie studiert; man merkt es manchmal ein bisschen zu sehr, machmal tritt der gewichtige Inhalt die Sprache ein wenig platt. Doch die Idee, diese beiden Frauenfiguren, diese Tagebucheinträge gegeneinander zu setzen, gefällt mir, obwohl man meinen könnte, die Konstruktion sei sehr an den Haaren herbeigezogen. Auch die Sprache der weiblichen Hauptfiguren unterscheidet sich nicht, die über fünfzigjährige spricht genauso wie die zwölfjährige. Der übergroße Intellekt der beiden wird auch ständig, und unnötigerweise, akzentuiert. Egal. Künstlichkeit, stelle ich mal wieder fest, ist nicht unbedingt ein Manko. Das Buch liest sich, als sei es echt. Als habe Muriel Barbery Freude daran gehabt, es zu schreiben.
Ich kenne die Rue de Grenelle, in der “Die Eleganz des Igels” spielt. Ich war oft in in dieser Straße, wo die feinen Familien schon seit Generationen wohnen. Wenn ich nächstes Mal nach Paris komme, wird sie sich anders anfühlen.
Die Autorin übrigens, weit weniger sentimental an Paris gebandelt als ich, hat nach 600 000 verkauften Exemplaren wissen lassen, sie sei keine Person, die mit Ruhm umgehen könne, und ihren Wohnsitz nach Japan verlegt.

Sturm und Regen.

Kein Platz heute für Albernheiten; ich bin in Gedanken bei meiner Freundin Parastou, deren Eltern Dariush und Parvaneh Forouhar, beide oppositionelle Politiker, heute vor zehn Jahren in Teheran in ihrem eigenen Haus ermordet wurden.
Seit zehn Jahren bemüht sich Parastou, den Prozess um die Aufklärung dieser Morde voranzutreiben, unter zunehmend schwierigeren Bedingungen. Sie ist, wie jedes Jahr im November, in den Iran gereist, um die Trauerzeremonie abzuhalten.

In den ersten Jahren gerieten diese jährlichen Zeremonien, die sie mit großem persönlichem Risiko organisiert, zu Kundgebungen, auf denen die Leute nach Gerechtigkeit und Demokratie für ihr Land schrien. Dafür oft geprügelt wurden. Verhaftet. Doch in den letzten Jahren hat man Parastou verboten, die Zeremonie überhaupt abzuhalten, geschweige denn öffentlich. So wird sie heute mit den ihr verbliebenen Verwandten in ihrem Elternhaus die Kerzen anzünden, abgeriegelt.