Black gloves

Komme eben von einem Vortrag im Historischen Museum, wo ich Teil einer Langzeit-Installation bin. Sie nennt sich “Bibliothek der Alten”, ein Trum von einer Mahagoniwand, bestehend aus lauter großen Fächern, in denen dunkelblaue, mit Leinen bezogene Boxen liegen. In jeder dieser Boxen ist ein Leben enthalten. Man kann hinein tun, was man will. Der Name der Person, die das Leben lebt (ein paar sind schon tot) ist auf ein Messingschildchen an der Kante des Fachs graviert. Ich glaube, wir sind über achzig insgesamt, Alte, die ihre Boxen schon gefüllt haben, Junge, bei denen erst ein bisschen was drin liegt.
Mein Fach ist leer, die Box liegt unterm Bett, mein Abgabetermin ist noch eine Weile hin. Im Ernst: So ist der Deal. Die Alten müssen innerhalb von zwei bis fünf Jahren liefern, die (mehr oder weniger) Jungen haben 25 Jahre Zeit. In regelmäßigen Abständen hält eine der Personen, die Teil der Installation sind, einen Vortrag vor dieser Wand. Irgendwann werde ich das auch tun.
Die Boxen darf man als Besucher nur mit den weißen Handschuhen öffnen, die auf der Vitrine gegenüber ausliegen. Für die erotischen Zeichnungen, mit denen ich meine Box eines Tages füllen werde, werde ich die Museumsleitung um die Bereitstellung schwarzer Handschuhe bitten.

Guten Morgen.

Bin noch etwas wortkarg, erstmal laufen. Ich weiß übrigens inzwischen, worin das Problem liegt, vom Joggen zum Gehen zu wechseln, vor ein paar Tagen kam ich drauf: Als Rennende war ich eine der Entspannten, ich rannte immer genau so langsam, dass sich meine Muskeln weich wie ein Hefezopf anfühlten. Ein ganz wunderbar losgelöster Zustand. Als Geherin ist es umgekehrt, ich gehöre zu den schnellsten Gehern im Park, wie an einer Schnur gezogen eile ich dahin, alle Muskeln in Anspannung. Ein komplett anderer Input fürs Gehirn, kein Wunder, dass es da einen neuen Mix produziert. Nun experimentiere ich mit allen möglichen Atmungen, Geschwindigkeiten, Schuhen und Klamotten, um auch beim Gehen wieder diese Stimmigkeit hinzukriegen.
Das nur für diejenigen von Ihnen, werte Leser, die selbst laufen. Alle anderen werden sich eh denken, was macht die für einen Aufstand wegen so ein bisschen Freikörperkultur.
Und los.

Das Jetzt

birgt keine Geschichten. Das widerspräche seiner Natur. In der Wahrnehmung währt es nur drei Sekunden. Für meine Begriffe gibt es nichts schwierigeres, als sich in diesen drei Sekunden anzusiedeln, mit allen Sinnen.
Die Geschichten kommen dann später, und fast von allein.

Kurz davor

Es sind sechs. Pünktlich schlendern sie durch die Glastür, hinter der ich sie erwarte. Ich stehe noch, die Handflächen auf den Tisch gestützt. Beobachte. Wie jung sie sind.
Ich weiß sehr gut, wie es sich anfühlte, Anfang zwanzig zu sein, meine Tagebücher sind lückenlos. Schon mit dreizehn schrieb ich stundenlang in chinesische Büchlein, die Seiten aus ganz dünnem Papier. Ich entdeckte sie in den Indien-Läden, die immer nach Räucherstäbchen dufteten, ebenso wie die leichten, bodenlangen Kleider, die es dort zu kaufen gab. Trägt heute niemand mehr.
Sie grüßen mich. Obwohl ihre freundlichen Mienen nichts davon preisgeben, haben sie bereits ein Bild von mir: Es gibt Geschichten über dieses Seminar. Einige davon kenne ich. Sie selbst werden auch welche erzählen. Später.
Für ihren ersten Eindruck brauchen sie nur Bruchteile von Sekunden. Das hier sind keine gewöhnlichen jungen Leute. Sie wollen mehr sehen als andere, mehr aufnehmen, mehr mitteilen; sie haben so eine Ahnung, dass es aufregend sein könnte, sich zu unterscheiden. Wer sich an meinen Tisch setzt, bringt diesen besonderen Hunger mit. Niemand hat sie dazu genötigt, hier zu sein.
Bilder. Auch ich nehme meine ersten auf: Die schmale, mit einem Stoffband gegürtete Taille einer jungen Frau, ein neugieriger Blick aus kajalumrandeten Augen, die Innenspannung eines männlichen Körpers, die sich in einer schnellen Handbewegung entlädt. Sie kommen gewandet in ihre Geschichte, ihre Wurzeln: Türkischirakischjugoslawischrussischdeutsch. Worte verschmelzen; das, was sie bezeichnen, nicht.
Immer, wenn ich einer neuen Gruppe gegenüber stehe, rauscht mir das Blut in den Adern. Lieber Geist der Seminare und Workshops, mach, dass ich die Aufregung in Gegenwart dieser jungen Leute nie verliere: Lass mich nie cool werden. Lass mich nie glauben, dass ich schon weiß, was mich erwartet. Denn so ist es nicht. Erst, wenn wir ein Stück miteinander gearbeitet haben, werden wir anfangen, etwas zu wissen. Wenn wir riskieren, für das hier unsere Vorsicht ziehen zu lassen, wird dieser sterile Raum bald ins Blubbern kommen.
Sie wissen es noch nicht. Ein besorgter Blick schwimmt über den Tisch, ein Laptop wird zu schnell aufgeklappt, ein kleines Knarzen, die Ungeduld seines Besitzers offenbarend.
Wir haben zwei Tage. Zeit, zu schreiben… Die Zeit hat ihre eigene Größe, das Schreiben auch. Kann sein, die Zeit wird uns dick und die Lust ganz dünn, fast transparent, dann misslingt das Seminar. Ist noch nie passiert.
Wir mustern uns. Eine gute Gruppe. Vielleicht eine sehr gute, das wird sich weisen. Viel wird davon abhängen, ob sie sich trauen, sich aus der Sicherheit ihrer anziehenden Gesichter heraus zu wagen. Sie sind so klar, ihre Gesichter. Das, was sie durchlebt haben, hat noch kaum Spuren hinterlassen. Hinter ihren Augen, gut versteckt, leuchtet etwas, das ich fangen, ihnen widerspiegeln will.
Euer Schreiben ist die Waffe, die für euch kämpft, wenn ihr eure Augen nicht einsetzen könnt, Leute. Wenn ihr nicht da seid. Wollt ihr immer nur dort etwas bewirken, wo euer Körper, euer Lächeln ist?
Nein.
Dann lasst uns anfangen.
Es ist wenig kühl. Seitdem die Glastür geschlossen ist, dringen kaum Geräusche von außen durch.

Sie mögen das mit der Waffe.

Ich hasse Verbote.

Ich hab sie abgeschafft. War ganz einfach. Ich wache morgens auf und denke, ich kann alles tun heute. Oder lassen. Oder ignorieren. Es ist wirklich kein Kunststück, in unserem Teil der Welt ohne Verbote zu leben.
Doch nun hat sich eines zurück geschlichen sozusagen in meinen Alltag: Ich darf nicht mehr rennen. Sagt der Chirurg, der mich operiert hat. Er ist dabei ganz heiter – ist ja nicht seine Droge. So, wie der Mann aussieht, beschleunigt er nur im äußersten Notfall. Doch zurück zur Droge: Ich nenne das kalten Entzug.
Laufen Sie, sagt er freundlich. Laufen Sie stramm, aber rennen Sie nicht.
Nie mehr? frage ich.
Er schüttelt den Kopf.
Und so ziehe ich ab, gesenkten Hauptes. Das tägliche Rennen ist mir in Fleisch und Blut übergegangen. Jetzt soll ich also laufen? Das ist absurd. Ich versuche es, es ist absurd. Rennend hatte ich immer einen unsichtbaren Windhund an meiner Seite, und jetzt soll ich mit einer Ente vorlieb nehmen?
Ich versuche es, was bleibt mir anderes übrig? Operiert werden ist brutal. Und so marschiere ich jeden Morgen zügig durch den Park und flüstere der Ente heftig zu, sie möge sich doch wenigstens in einen Strauss verwandeln. Ich rede mit Engelszungen auf sie ein. Und tatsächlich, ihre Beine sind schon ein ganz kleines bisschen länger geworden. Glaube ich.

(Hier sollte ein Titel stehen.)

Ein Seminar für Kreatives Schreiben steht an, ab Freitag drei Tage. Freue mich, die Schreibstube zu verlassen, lehren zu gehen. Draußen walzt die Spätsommersonne über Straßen und Häuser, ich brüte hier drinnen über dem Ablaufplan. Immerhin, joggen war ich heute Morgen.
Der Park trägt sein eigenes Parfüm, feuchtes Gras, Erde, Blattwerk und Algen. Das Wasser im See hat seit Wochen Sonne getankt. Die Wildgänse schlafen mit eingestecktem Schnabel oder wanken auf ihren kurzen Beinen über die Wiese. Wenn ich daran denke, dass sie bald in den Süden abfliegen, wird mir ganz anders. Doch sie haben sich den Sommer über so fett gefressen, vielleicht kommen sie ja nicht hoch…

Es scheint noch einiges in Ordnung

zu sein hierzulande.
Einfaches Beispiel: Wenn die Sonne scheint, hab ich hier nur halb so viel Gäste. Kaum stürmt es, wie heute, verdoppelt sich die Zahl wieder.
Das zeugt doch eigentlich davon, dass die Besucher von Tainted Talents gute Instinkte und flexibel handhabbare Jobs haben…? Bei Sonnenschein entfernen sie sich von ihren Monitoren, ziehen ins Freie, bei Regen kehren sie an ihre Schreibtische zurück.
Ah, liebe Leser! Der Herbst kommt.
Und so sehr ich es begrüße, wenn hier die Bude voller wird – die Zeit beginnt, in der die Blätter anfangen, dieses knirschende Geräusch zu machen. Jaul.

Die Bäuerin

hat eine erwachsene Tochter und einen Sohn, die sind ebenfalls Bauern und arbeiten auf dem Hof. Sie hat auch einen florierenden Hofladen mit selbst gemalten Preisschildern am Gemüse. Ich decke mich dort immer ein, wenn ich meine Mutter auf dem Land besuche. Da steht die Bäuerin bei ihren Waren und lächelt, während der Altbauer bedächtig die Eier nach Größe sortiert.
Die Bäuerin glaubt an die Kraft der Zuversicht und an viele andere Dinge. Früher gab sie mir immer was umsonst, einen halben Ring Fleischwurst, Kartoffeln, ein Glas Eingemachtes. Man müsse die Künstler unterstützen, sagt sie immer. Wie arm wäre unsere Gesellschaft, wenn es keine Künstler mehr gäbe, sagt sie. Ich finde das äußerst bemerkenswert.
Vorhin redeten wir über die bevorstehende Bundestagswahl. Welche Partei. Es mache keinen Unterschied, bemerkte die Bäuerin abschließend, wer da oben säße, denn sobald sie an der Macht seien, verhielten sich die Politiker nicht anders als ihr Vieh auf dem Hof: “Wer am Trog steht, frisst.”

LaSolitude setzt sich ab.

Gestern bekam ich diese Mail, unterschrieben mit LaSolitude, dazu die dringende Aufforderung, den Text hier auf Tainted Talents zu veröffentlichen.
Ich tue das, weil ich nicht weiß, was sie damit bezweckt. Bin eben neugierig.
Warum sie sich Öffentlichkeit von mir leiht? Warum zieht sie sich nicht einfach zurück?

LaSolitüde, Sie werden das hier natürlich lesen.
Vielleicht antworten. Nein. Doch.
Aber was auch immer Sie sich von dieser Veröffentlichung erhoffen, möge es eintreten.

Hier also der Text von LaSolitude:

“Ihr seid mir alle zuviel, Fremde, Vertraute, die Vertrauten noch mehr als die Fremden. Alle wollt ihr irgendwas, und wenn’s nur sprechen ist. Mit mir. Doch ich will nicht dieses Austauschen von Leben. Keine Lust, ständig beschreiben zu sollen, wie es mir geht, was in mir vorgeht.
Dieses ganze Reden kommt mir vor, als ob währenddessen meine Felder überschwemmt würden, die ganze Ernte vorzeitig abgetragen wird. Und ich bleibe mit dem verdammten, trostlosen Matsch zurück. Wie soll ich mit Matsch arbeiten? Für das Entwickeln eigener Ideen brauche ich Wachstum. Sorgfalt und Ruhe. Nicht dieses ständige abtastende Wohlfühlgelaber.
Kauft euch eine Wärmflasche. Ich bin keine. Ich bin nicht die Erfüllungsgehilfin für eure Bedürfnisse. Warum wollt ihr euch eigentlich ständig austauschen, habt ihr nichts Besseres mit eurem Innen zu tun, als es dauernd mit dem der Anderen zu vermischen? Psychischen Ausfluss nenne ich das. Dieses Bedürfnisgetue: Ich kann es riechen. Es widert mich an. Mit mir könnt ihr nicht mehr rechnen.
Das Einzige, was ich wirklich brauche, ist Ruhe. Ich kann mich mühelos selbst befriedigen, in jeder Beziehung.
Dazu brauche ich nichts weiter als einen Baustopp. Hört auf, die verdammten Schwalbennester eurer Begehrlichkeit an mein Dach zu pappen. Zieht nicht bei mir ein. Kommt nicht jedes Jahr wieder zum Brüten vorbei. Ihr Arschgeigen. Ihr denkt, ihr kennt mich, weil ihr mein immer währendes Lächeln kennt. Die ist nett, denkt ihr, die rettet mich vor Leere und Verfall, an die kann ich mich kuscheln.
Verflucht noch mal, könnt ihr nicht.
Ich hab euch zu sehr verwöhnt, eine einzige Wohlfühlorgie war das. Das Lächeln ist schuld; es macht euch weich. Hat was sanftes, mein Lächeln, man kann gut draufspritzen. Und dann erwartet ihr noch, dass ich mit diesem Nährschleim des gebraucht-werdens auf dem Gesicht rumlaufe, mit dem ihr mich bei Laune halten wollt.
Schluss damit.
Ich bin weg.”

Ende des Briefes.

Übungen zur Überwindung der guten Erziehung

Diese hier funktioniert nur, wenn Sie eine Frau sind.
Setzen Sie sich mit einer Decke auf die große Wiese in den Park, mitten hinein zu den anderen, die auf die gleiche Idee gekommen sind. Entkleiden Sie sich bis auf einen Bikini. (Sollten Sie in Arbeitslaune sein, nehmen Sie ihren Laptop mit, Stift und Block, Diktiergerät, oder einfach Ihr Gehirn, für die Übung ist das unwesentlich)
Trinken Sie eine Menge Wasser.
Verweilen Sie für mindestens drei Stunden. So lange auf jeden Fall, bis sich der Druck in Ihrer Blase nicht mehr ignorieren lässt.
Halten Sie noch ein bisschen ein.
Vergegenwärtigen Sie sich den Stau vor den sanitären Anlagen. Die unbefriedigenden hygienischen Verhältnisse inside. Ziehen Sie auch Büsche und Sträucher in Erwägung, hinter denen niederzuhocken grundsätzlich möglich wäre. Verwerfen Sie dieses: Sie sind träge, wollen Ihr Laptop nicht allein lassen, die Sträucher sind kratzig.

Nun die Übung.
Rutschen Sie auf Ihrer Decke ganz nach vorne, bis Ihr Po vollständig auf der Rasenfläche aufliegt. Nehmen Sie den so genannten Schneidersitz ein. Als wollten Sie meditieren. Legen Sie sich ein möglichst großes Handtuch über die gekreuzten Beine.
Schieben Sie unauffällig eine Hand unter die Abdeckung und entfernen Sie das kleine Stückchen Stoff, das Ihren Schritt bedeckt.
Sehen Sie sich um.
Die Übung ist besonders effektiv, wenn sie von lagernden Familien umgeben sind, gerne auch ein paar einzelnen Erwachsenen, die müßig den Blick über die Wiese schweifen lassen.
Nehmen Sie Haltung an. Rücken gerade, Arme hängen locker an Ihren Seiten herab. Konzentrieren Sie sich auf Ihre mittlerweile peinigend volle Blase. Reden Sie ihr gut zu. (möglichst ohne die Lippen zu bewegen)
Dann lassen Sie laufen.
Es kann ein paar Minuten dauern, bis Sie den Einhaltereflex besiegt haben. Lassen Sie sich davon nicht entmutigen.
Genießen Sie, wie Ihr Bach langsam und ganz natürlich ins Erdreich versickert, ohne Spuren zu hinterlassen. Schauen Sie sich um: Sollte jemand Ihren Blick suchen, erwidern Sie ihn, ohne den Strahl zu stoppen. Je mehr Menschen Sie in diesem Moment beobachten, desto höher ist der Erfolg der Übung einzuschätzen.
Fertig?
Greifen Sie nach unten, ziehen Sie das Bikinihöschen wieder in Form. Heben Sie das Handtuch von Ihrem Schoß. Befördern Sie Ihren Hintern mit einer schwungvollen Bewegung zurück auf die Decke.
Achten Sie bei Wiederholung der Übung darauf, nicht die gleiche Stelle zu wählen.
Gras ist sehr empfindlich.