Kurz davor

Es sind sechs. Pünktlich schlendern sie durch die Glastür, hinter der ich sie erwarte. Ich stehe noch, die Handflächen auf den Tisch gestützt. Beobachte. Wie jung sie sind.
Ich weiß sehr gut, wie es sich anfühlte, Anfang zwanzig zu sein, meine Tagebücher sind lückenlos. Schon mit dreizehn schrieb ich stundenlang in chinesische Büchlein, die Seiten aus ganz dünnem Papier. Ich entdeckte sie in den Indien-Läden, die immer nach Räucherstäbchen dufteten, ebenso wie die leichten, bodenlangen Kleider, die es dort zu kaufen gab. Trägt heute niemand mehr.
Sie grüßen mich. Obwohl ihre freundlichen Mienen nichts davon preisgeben, haben sie bereits ein Bild von mir: Es gibt Geschichten über dieses Seminar. Einige davon kenne ich. Sie selbst werden auch welche erzählen. Später.
Für ihren ersten Eindruck brauchen sie nur Bruchteile von Sekunden. Das hier sind keine gewöhnlichen jungen Leute. Sie wollen mehr sehen als andere, mehr aufnehmen, mehr mitteilen; sie haben so eine Ahnung, dass es aufregend sein könnte, sich zu unterscheiden. Wer sich an meinen Tisch setzt, bringt diesen besonderen Hunger mit. Niemand hat sie dazu genötigt, hier zu sein.
Bilder. Auch ich nehme meine ersten auf: Die schmale, mit einem Stoffband gegürtete Taille einer jungen Frau, ein neugieriger Blick aus kajalumrandeten Augen, die Innenspannung eines männlichen Körpers, die sich in einer schnellen Handbewegung entlädt. Sie kommen gewandet in ihre Geschichte, ihre Wurzeln: Türkischirakischjugoslawischrussischdeutsch. Worte verschmelzen; das, was sie bezeichnen, nicht.
Immer, wenn ich einer neuen Gruppe gegenüber stehe, rauscht mir das Blut in den Adern. Lieber Geist der Seminare und Workshops, mach, dass ich die Aufregung in Gegenwart dieser jungen Leute nie verliere: Lass mich nie cool werden. Lass mich nie glauben, dass ich schon weiß, was mich erwartet. Denn so ist es nicht. Erst, wenn wir ein Stück miteinander gearbeitet haben, werden wir anfangen, etwas zu wissen. Wenn wir riskieren, für das hier unsere Vorsicht ziehen zu lassen, wird dieser sterile Raum bald ins Blubbern kommen.
Sie wissen es noch nicht. Ein besorgter Blick schwimmt über den Tisch, ein Laptop wird zu schnell aufgeklappt, ein kleines Knarzen, die Ungeduld seines Besitzers offenbarend.
Wir haben zwei Tage. Zeit, zu schreiben… Die Zeit hat ihre eigene Größe, das Schreiben auch. Kann sein, die Zeit wird uns dick und die Lust ganz dünn, fast transparent, dann misslingt das Seminar. Ist noch nie passiert.
Wir mustern uns. Eine gute Gruppe. Vielleicht eine sehr gute, das wird sich weisen. Viel wird davon abhängen, ob sie sich trauen, sich aus der Sicherheit ihrer anziehenden Gesichter heraus zu wagen. Sie sind so klar, ihre Gesichter. Das, was sie durchlebt haben, hat noch kaum Spuren hinterlassen. Hinter ihren Augen, gut versteckt, leuchtet etwas, das ich fangen, ihnen widerspiegeln will.
Euer Schreiben ist die Waffe, die für euch kämpft, wenn ihr eure Augen nicht einsetzen könnt, Leute. Wenn ihr nicht da seid. Wollt ihr immer nur dort etwas bewirken, wo euer Körper, euer Lächeln ist?
Nein.
Dann lasst uns anfangen.
Es ist wenig kühl. Seitdem die Glastür geschlossen ist, dringen kaum Geräusche von außen durch.

Sie mögen das mit der Waffe.

2 Gedanken zu „Kurz davor

    • Eine junge Frau schrieb mir gestern, “Kurz davor” erinnere sie an ihr eigenes Seminar bei mir, die drei Tage im vergangenen Jahr, die so unerwartet schöpferisch und emotional gewesen seien. Der Text nun wirke auf sie wie ein kurzer Ausschnitt aus einem Roman, den sie gern weiter lesen würde.
      Ich weiß, dass Du das lesen wirst, A., und danke Dir.

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