TTag, 16. Juni 2010.

Guten Morgen! Erstmal die Yogastunde.

14:16
So. Stiftungsarbeit erledigt. Ich muss ins Freie! Es ist so verflixt schön hier. Erinnern Sie mich daran, dass ich heute Abend über den diskreten Charme der Isometrie schreiben will. Und – natürlich – ist nachzusehen, was L. wieder angestellt hat.

TTag, 15. Juni 2010. Anmaßungen.

Guten Morgen, werte Leser. Bei mir ist’s gerade fast zwei Nachts – kann also sein, ich schlafe noch, während Sie jetzt hier vorbei schauen.
Ich muss sagen, L. hat mich ziemlich in Atem gehalten. Diese Frau! Ich weiß nicht, was ich von ihr halten soll. Doch sie braucht mein Wohlwollen nicht, das wird mir immer klarer.
Gut, dass mein Nachbar offenbar ebenfalls eine Nachteule ist: er hat mir die letzten Stunden freundlicherweise arabischen HipHop durch die geöffneten Fenster serviert. (Ich muss allerdings zugeben, dass ich erst jetzt, nachdem ich L.’s letzten Brief eingestellt habe, wirklich darauf aufmerksam werde)

Sie ahnen nicht, wie verlockend mein Bett aussieht gerade.
Unfug. Natürlich ahnen Sie es.
Bis später.

09:41 Uhr
eben überlege ich kurz, wie ich auf ‘Anmaßungen’ im Titel kam. Weil jedes Schreiben eine ist. Schreiben kennt viele An….’s: Aneignung, Anverwandlung, Anreicherung. (‘Augmented reality’ las ich kürzlich, sei der schicke Ausdruck dafür)
Heute werde ich zeichnen. L. braucht einen Ebenenwechsel, um sich neu zu sammeln.

TTag, 14. Juni 2010. Vorsprünge.

Guten Morgen!
Nie hätte ich gedacht, dass die beiden Wildtauben (das sind die schweren mit dem weißen Halstuch), die zuhause immer auf der Birke vor meinem Fenster schnäbeln, mir bis zu meinem hiesigen Quartier folgen würden. Taten sie aber. Eine der beiden schickte sich eben an, auf dem Mauervorsprung vor meinem Fenster zu landen, gelang ihr aber nicht, er ist zu schmal. Tja, so isses manchmal, wenn man zu dick ist, kann man nicht landen. (ups, blöder Witz)
Irgendwie juckts mich ja manchmal in den Fingern, Ihnen zu erzählen, wo ich mich aufhalte. Doch L.’s Geschichte würde sich unweigerlich verändern, vielleicht auch verengen für mich, das will ich nicht riskieren.

So, ich werde mal nachsehen gehen, was sie treibt.
Haben Sie einen schönen Tag! Die Luft hier ist so feucht, dass ich mein Zeichenpapier im Kühlschrank lagern muss, sonst ist es nicht zu gebrauchen.

p.s. Sah eben nach Tagen mal wieder in die Twoday charts: Schach, Kochtopf, das Straßenmädchen, der Schädel des ANH und Nessy natürlich. Bis auf ein paar sporadische WM-Beiträge also alles beim alten. Erstaunlich, wenn man bedenkt, wie viele blogs geführt werden, oder?

TTag, 13. Juni 2010. Mit diesen unsichtbaren Händen.

In der vergangenen Nacht konnte und wollte ich keine Ruhe finden, kennen Sie das, wenn das Bewusstsein einfach nicht abschalten will? Klar kennen Sie das. Fatal, wenn am nächsten Morgen Job und Beruf warten, wunderbar, wenn man im Ausnahmezustand, im “Freien” ist. Magisch auch, wie sich Kommentare zu den L.-Briefen noch spät nachts einfanden, offiziell oder per Mail; ich saß in dieser fremden Stadt und fühlte mich so eigenartig verbunden, hatte plötzlich diese kindliche Freude, im Internetzeiten zu leben: mehr oder weniger ungefährdet Worte, selbst wenn nur angedeutet, wechseln zu können mit anderen “da draußen”, die ebenso Persönlichkeitsfragment bleiben wie man selbst, und gerade darum bleibt dieses Fließen möglich, ebenso wie un-vermitteltes Verstummen, ohne Bestrafung.

Dieses im offline-Leben kaum relativierbare dem Anderen “gerecht” werden müssen, das Freundschafts-, Familien, auch kollegiale Beziehungen eben mit sich bringen – online mit Fremdvertrauten ist das anders. Es gibt keine Pflicht. Außer der vielleicht, die gebotenen Formen des Respekts zu wahren, doch selbst die können auf vielerlei Weise kreativ unterwandert werden: manchmal ist auch ein harsches Wort, ein zynischer Einwurf, ja Dada-Getrolle willkommen, weil’s der Aufladung dient.
Nebenan übt jemand am Piano.
Viel, viel besser als der Möchtegern-Popstar, der sich gegen zehn an seiner E-Gitarre vergriff, im Sinne des Wortes.
Ich geh’ mal meine Liegestützen machen.

TTag, 13. Juni 2010. Der berühmte Flow.

Ein merkwürdiger Zustand, so im Fieber zu schreiben: jene L. rückt mir immer näher auf den Leib. Was will sie? Woher kommt sie so plötzlich? Ich schwöre, noch einen Tag vor meiner Abreise hatte ich keine Ahnung, dass sie existiert.

Ihr nächster Brief ist eben fertig geworden; ich stelle ihn nur noch nicht ein, weil er so lang ist und ich nicht weiß, wie ich künftig mit dieser Arbeit verfahren soll. Weiter auf die Hauptseite stellen? Das wäre mir am liebsten, schreckt aber, je länger die Texte werden, jene Leser ab, die lieber anderes von mir lesen und sehen, denen L.’s Abenteuer gleichgültig sind. Sollte mir das egal sein? Es ist immer leicht gesagt, man solle sich als Autor nicht scheren ums Publikum: das gilt für den Arbeitsprozess selbst, nicht aber für die Art und Weise, wie man Ergebnisse offen legt.

Ich behandele mich wie ein rohes Ei im Moment, fast, dass ich mir fremd sein will. Phyllis als Künstlerin ist eine verdammt ungeduldige Frau; sie verliert schnell das Interesse an der Disziplin, die es braucht, lange Manuskripte zu schreiben. Eine andere, ausdauerndere muss diese L. Geschichte voran treiben. Deswegen die Vorsicht. Falls Sie einen Rat haben: er ist willkommen.

TTag, 9. Juni 2010. Vorbereitungen.

Guten Morgen!
Ich werde die nächsten zwei, drei Wochen vom Ausland aus schreiben: möchte morgens mal wieder in einem anderen Bett aufwachen, andere Vorhänge aufziehen, durch ein anders unter meinen Absätzen hallendes Treppenhaus nach draußen treten, um andere Gesichter zu sehen. Mein Arbeits-, auch das Lohnarbeitsmodell erlaubt mir solche Phasen – ich bin nur immer wieder verwundert von mir selbst, weshalb ich sie nicht häufiger einlege. Wollte allerdings erst einmal meinem Rücken wieder etwas mehr vertrauen können: Schmerzen im Ausland wiegen doppelt. Sieht aber ganz gut aus. Mein schöner Physiotherapeut hat es in den letzten Wochen doch tatsächlich geschafft, mir etwas Ruhe ins Rückgrad zu zaubern (obwohl mich seine sachlichen Berührungen zu durchaus unruhigen Gedankenspielen veranlassen, aber, psssst!, das wird er nie erfahren)
Texte werde ich mitnehmen, die zu überarbeiten sind, dazu alles, was ich zum Zeichnen brauche. Zu den vier kommenden hab’ ich schon Titel – so beginnt das immer bei mir, erst Titel, dann Bild. Bei vielen Künstlern, die ich kenne, ist’s genau anders herum, doch die haben das Schreiben nicht als primäres Medium.
Wie ich mich freu’, mal wieder aus der Stadt zu kommen! Auf Tisch und Sofa liegen Klamotten und Arbeitsmaterialien für mindestens drei Monate … das muss noch schwer ausgedünnt werden heute. Nicht das ganze Wohlfühl- und Sicherheitsarsenal mitnehmen: drei Kleider, Schuhe, Laptop, mehr soll nicht übrig bleiben.
Wer will ich sein in der Fremde? Dem Alter Ego Raum zum spielen geben.

TTag, 5. Juni 2010. Von Flegeln und warmen Steinen.

Wie still es war heute morgen, als wären alle fort. Noch liegend zog ich mein linkes Bein an die Brust, Hände um den Oberschenkel. Fühl’ was. Da ist immer noch Taubheit, die sich zum Fußrand hinunter zieht. Wie langsam der Nerv erwacht, von seinem Ärger los lässt, so gequetscht worden zu sein. Von meinem Unmut, sich überhaupt in diese Situation gebracht zu haben, will er indes nichts wissen.
Ich erhebe mich, Espressomaschine, Paulus Böhmers neues Buch auf dem Badewannenrand, ein paar Zeilen: wie man immer darin eintauchen kann, an jedem willkürlich gewählten Punkt. Mein Gefährte pflegt Bücher im Bad abzulegen, bringt mir meine Bibliothek zu Bewusstsein. Ich mag das, weil ich dazu neige, nur in die Hand zu nehmen, was sich als neue Lektüre an meinem Bett stapelt.
Schauen, ob sich Schlaflose heute Nacht geäußert haben: nein. Nur der Flegel, der kürzlich schon mal rumpanschte. Ich behielte ihn ja gerne da, wer weiß, vielleicht rappelt er sich noch, die Einladung ist jedenfalls ausgesprochen.
Nebenan bei cellini las ich eben von Thymian, der sich Steine aussucht, nah bei ihnen zu wachsen. Weil er die Wärme liebt, die sie speichern. Ich halte das ähnlich.
Gestern hab’ ich lohnarbeitstechnisch geschludert, muss das nachholen. Dann Park, Freunde, einen leichten Schwips in der Sonne, weil ein Glas zu heben ist: meine in England lebende Schwester hat Geburtstag – sei innig umarmt, semiothicghosts! Dies wird ein privater Tag.

[…]

»… eine Frau ist allein. Sitzt vor einem Spiegel.
Wie sie, vor dem Spiegel, alleine,
die Spuren an ihrem Körper bemerkt,
erfährt sie, alleine, den doppelten Verlust.
Ein Mann hat, seit seines Lebens, nur im Stehen geliebt,
als ob ihn das Lieben, anders,
auf die Seiten der Toten schlüge.
Und ein Pochen, ein Knistern, ein Rauschen,
und dahinein entwickelte sich das Gehirn
wie das Ballen in dichten Knäueln, wie das Fangen mit einer Hand
– jedes Kleinkind, das seine eigene, separate Haut entdeckt
weiß davon mehr als wir.
Wer einen Stein berührt, verändert ihn schon?
Wer das Meer berührt, macht es anders?«

[…]

Paulus Böhmer
aus: »Am Meer. An Land. Bei mir.«
Verlag Peter Engstler, 2010