Archiv des Autors: phyllis
Ehrensache
Dinh
Als ich durch das offen stehende Tor in den Jardin trete, ist er bereits da, hält sich ein paar Meter weiter an dem schmiedeeisernen Gitter fest, das den Rosengarten umschließt. Als er sich abstößt, schlägt die Tasche mit dem Instrument auf seinen rechten Oberschenkel. Er verzieht das Gesicht. Eine schlanke, nicht mehr ganz junge Frau ist ihm ein paar Schritte voraus; sie blickt sich kurz nach ihm um.
Die beiden setzen sich vor eines der alten Museumsgebäude auf die steinernen Stufen, die Frau klappt ein dickes Buch auf, er rückt die Beine zurecht, das Paar macht nicht den Eindruck, als wolle es schnell wieder aufbrechen.
Ich ziehe meine Runden.
Mir fällt viel ein, während ich laufe. Wenn mir etwas wichtig erscheint, nehme ich es mit der Diktierfunktion meines Handys auf, dann lasse ich es los. Mein Körper mag Augenblicklichkeit, hör’ auf zu zählen, hör zu
spät
er fallen mir Dinge ein, die vor zwanzig, dreißig Jahren passiert sind, klitzekleine Details, einzelne Sätze. Mein Gedächtnis archiviert nach Kriterien, von denen ich nicht viel verstehe.
Die beiden haben sich auf den Stufen eingerichtet, Handtuch, Wasserflasche, Taschen. Wenn ich vorbeitrabe, begrüßen mich die weichen Töne der Skydrum.
Ich habe mir angewöhnt, den Berg hinaufzurennen. Er ist klein, doch die kurze Sprintstrecke fühlt sich famos an. Seit der Sache mit meinem Rücken bin ich nicht mehr gerannt.
Die zwei Menschen, die mich, seitdem ich hier bin, wirklich neugierig machten, haben verdrehte Beine: Die Dame im Café und der Musiker. Beide fielen mir durch Intensität auf, bevor ich die Beeinträchtigung bemerkte.
Ich werde mir eine Schlange nähen, eine kleine. Nachts wird sie unter meinem Kopfkissen liegen, tagsüber binde ich sie um mein Handgelenk. Etwas hat sich verändert, ich
darf mehr
fahrlässig zeichnen.
Orte in Beschlag nehmen, mir ihre Struktur vergegenwärtigen und überschreiben, mir ihre Methodik zu eigen machen, einen imaginären Garten anlegen, mit einem Gerätehäuschen, mit Beschilderungen und Bienenstöcken, Statuen, Bewässerungsschläuchen, wilden und geordneten Stellen und dort Dinge machen, die ich ansonsten nicht tun würde. Ich werde weiterhin Erlaubnisse notieren.
Notiz nehmen
Nach der letzten Runde lasse ich mich auf dem Rasen am Fuß der Treppe nieder. Die Frau sieht kurz auf, als ich mich setze. Ich hab’ das Stück Wiese für mich, dies ist der offizielle Rosengarten, es gibt Wandelgänge und alle paar Meter ist ein Bogen über den Weg gespannt, an dem die Rosen hochranken. Das Betreten der Rasenflächen ist verboten, kleine, elegante Schilder weisen darauf hin. Auf dem Rasen wachsen unzählige Gänseblümchen, Bienen sind unterwegs, dem Rasen geht’s gut, das seh’ ich sofort, und auch, was anders wäre, wenn sich alle mit ihren Decken niederließen und ihre Zigaretten
Die Franzosen rauchen echt, was das Zeug hält
auf ihm ausdrückten.
Ich lasse mich rücklings neben ein Verbotsschild auf die Wiese fallen und lausche. Ab und an gehen Touristen vorbei, schnuppern an den Rosen; viele von ihnen haben etwas so Entschlossenes im Gesicht, dass ich schnell wieder wegsehe.
Dies hier ist einer der leichtesten Augenblicke, die mir das Jahr bisher geschenkt hat, ein Fläumchen, es hat damit zu tun, wie der Mann spielt, während die Mittagssonne knallt, es begann damit, dass ich Lust empfand, einem Fremden ein zweites Mal zu begegnen, was mir verdammt nicht oft passiert; ich spreize die Fühler, schnappe nach Luft,
hätten
Sie etwas dagegen, wenn ich ein Foto von Ihnen mache, während Sie spielen, stört es Sie.
Nein. Er lächelt.
Ich hab’ mein iphone zur Hand, gehe um ihn herum, ein kleiner Film, ein paar Fotos. Als ich mich zurück auf mein Stück Wiese lege, passe ich auf, dass ich nicht aus Versehen eine Biene zerdrücke.
Keine da.
Tick
Manchmal lässt der Mann die Hände sinken und bewegt die Beine, als suche er nach Positionen, um dem Schmerz eine Sekunde voraus zu bleiben. Dabei lässt er die Schlagstöcke sacht auf das Instrument fallen.
Als ich mich viel später verabschiede, wird er warten (die Frau ist bereits vor Stunden aufgebrochen), bis ich außer Sichtweite bin, bevor er aufsteht und seinen Weg ins Hotel nimmt. Wir haben festgestellt, dass wir Paris am gleichen Tag verlassen. Vietnam.
Doch das ist noch gar nicht passiert.
Ich
darf
jederzeit Dinge sagen, die ich nicht beweisen kann
Sie haben eine Website, sage ich. Ich hab’ Sie gefunden im Netz mit Ihrer Skydrum.
Wen haben Sie gefunden.
Einen Mann namens Jean-Francois, der Skydrum spielt. Sind sie das nicht?
Nein.
Ich fühle mich sehr unschlüssig, als
(warum kommen mir eigentlich immer Kinder ins Gehege)
eine Mutter mit einem Mädchen erscheint, vielleicht acht Jahre die Kleine, und sich zu uns setzt. Mit einer Geste bietet er ihr einen Schlagstock an. Das Kind, scheu, erzeugt ein paar samtene Töne. Lächelt. Ich hatte auch Zöpfe mit acht.
Seit Stunden habe ich schon nicht mehr darüber nachgedacht, wie ich wirke. Was die Menschen, die plaudernd an uns vorbei gehen, wohl sehen, wenn sie mich sehen.
Ich bin zufällig
Als Mutter und Kind aufbrechen, sieht er mich an. Ich schicke meinen Blick wie ein Lauffeuer durch sein Gesicht.
– Könnten Sie mir die Fotos -? Ich nehme mir immer vor, die Leute darum zu bitten, die welche von mir machen, vergesse es aber immer.
Klar, sage ich. Haben sie email.
Ja.
Schreiben Sie in mein Handy, ich hab’ kein Papier.
Ich setze mich so dicht neben ihn, dass mein Oberarm seinen berührt.
Die Frau nimmt den Kopf aus ihrem Buch.
– Dass ich schon über ihn geschrieben habe, nachdem ich ihn unter dem alten Baum sitzen sah.
– Ah, die Zeder!
– Die am Hang.
– Morgen werde ich wieder dort spielen, sagt er. Mittags.
Die Frau steht auf, faltet das Handtuch, nimmt ihre Tasche. Sie tauscht sich kurz in ihrer Sprache mit ihm aus, dann geht sie die Stufen hinunter, ohne mich anzusehen. Der Moment der Befangenheit sitzt auf meiner Nase wie ein Schmetterling, hebt ab
… – lebe in Vietnam. Ich war in Paris, um in ein Krankenhaus zu gehen.
– Hat die Operation etwas gebracht, hoffentlich?
– Es war nur eine Konsultation.
Ich habe gesehen, wie er den Park betrat, wie komprimiert sein Gesicht war, die schlenkernden Beine, das Ausbalancieren. Ich frage nicht weiter. Wie sie wohl auf ihn wirkt, die Fremde mit ihren geraden, starken Beinen, den breiten Schultern. Sieht aus, als könne sie Bäume ausreißen. Vielleicht. Was weiß ich.
Ich schreibe, sage ich.
Ich auch. Schauen Sie, ich habe eine Website, dort können sie finden, was ich mache. Ich baue Schachbretter und große Drachen. Und Musikinstrumente. Er tippt etwas in mein Handy.
Ich bin eine Frau des Wortes, sage ich, ich kann nichts bauen.
Wollen Sie? Er deutet auf sein Instrument. Ich muss mich mal ausruhen.
Ja.
Es gibt nur zwei Regeln für die Skydrum, sagt er, in den Schoss legen und träumen.
Meine erste Sekunde beginnt gerade.
Ich bin so
Sie machen das gut, sagt er. Scheuen Sie sich nicht, den ganzen Oberkörper mitzunehmen beim Spielen, machen Sie weite Bewegungen mit den Armen.
Später
lege ich die Stöcke beiseite, sehe mir die Skydrum genauer an. In der Mitte ist sie horizontal verschweißt, oben diagonale Schlitze, auf dem Bauch eine Öffnung, rund, handgroß. Das handlichste, robusteste Instrument, das ich je gesehen habe, ein Zaubertopf. Jedes Kind kann sie spielen. Sie hat acht Noten.
Ich habe auch eine mit zehn, sagt Dinh, die bringe ich morgen mit.
Ich werde da sein.
Mittags an der großen Zeder.
Ja, sage ich.
Er rückt wieder die Beine. Zeit, zu gehen. Ich hebe die Drum von meinem Schoß, haue ihr mit der flachen Hand kräftig eins über.
Er verzieht den Mund zu einem Grinsen. Die hat Sie wirklich bezaubert, sagt er.
Oui.
Ich möchte auf der Treppe bleiben.
Auf Wiedersehen.
Ich schicke Ihnen die Bilder nachher per Email. Bis morgen.
(“Machst Du wieder Mätzchen?” Plötzlich, beim Gehen, die Stimme meiner Großmutter. Alles ist immer gleichzeitig.)
Gestern, als ich zufällig einen von außen unansehnlichen Laden durchstöberte, an dem ich seit Jahren vorbei gehe, fand ich eine handgearbeitete vietnamesische Jacke aus weichem, stumpfem Baumwollgewebe. Schon, als ich den ersten Blick auf sie warf, wusste ich, das ist eines dieser Kleidungsstücke, die man kennt, bevor man sie kauft. Eine gute Jacke, um darin zu schweigen.
Die Eigentümerin der Boutique erklärte mir fast jeden Stich. Lila und Indigo, etwas Ocker, ein winziges Bisschen Rosa. Ich zog sie über und spürte, dass in ihr die gleiche Stille ist, die sich in mir ausbreitet. Vielleicht von der langen Reise.
Wie ich es genießen würde, ein Haus zu haben mit Stufen davor, auf denen ich im Sommer morgens mit meinem Kaffee säße, neben mir eine kleine Schlange, die sich sonnte.
Unter dem Pflaster
Madame TT’s kleiner Tipp zum Sonntag
Einmal geübt, schon gekonnt XL
Himmeltrommel
Als ich gestern meine Runden zog, hörte ich etwas klingen, so weich, so rettungslos lieblich, als machte jemand mit Bommeln aus Angorawolle Musik. Ich war in der dritten Runde, stieg eben mit heißer Haut den Hügel hoch, ich war mir eines jeden meiner Schritte gewahr, wie die Zehen in den geräumigen Schuhen sich spreizten, hephep riefen, ihrer Wuseligkeit im Schuh, rechter Fußballen, linker, schön abrollen dann, den Zug spüren vom Miteinander der Muskeln, die den Fuß tragen, hinauf, über die Wade, nach vorne kippen ein wenig jetzt,
komm’ schon,
in den Berg neigen, die Kraft spüren bis hoch in den Glutaeus Maximus, diesen mächtigen Muskel, der die Arschbacken formt, rechts, links, Rücken (Atmen nicht vergessen), das Päckchen der Bauchmuskeln nach innenchchchch ziehen, der Wirbelsäule entgegen, ich war auf dem Weg zum
Turbulenzen
zulassen
Gipfel,
als da die Bommeln in der Luft hingen auf halber Höhe, und da saß einer.
Von so etwas nehme ich Notiz.
Wenn etwas anders ist.
Ein Instrument wie seines hatte ich nie gesehen, sah aus wie ein umgekehrter Topf, wie der Bräter, nur in rund, in dem bei mir zuhaus’ immer die Gans gebacken wird, zu Weihnachten; ich warf einen kurzen Blick darauf, einen zweiten auf des Mannes leises, konzentriertes Gesicht, seine Gestalt, wie er dort unter dem Baum saß, seine Hände, seinen Rhythmus und
rannte weiter
hoch zum Pavillon, denn es war etwas in der Art, wie er die Bommeln auf dem Bräter tanzen ließ, das ich nicht unterbrechen wollte mit unangemessener Neugier, nicht, wenn eine achtsam wäre, nicht, wenn
da ein Kind kommt an der Hand seiner Mutter. Die haben nicht
Schnitt.
Ich mache kehrt, nun, da der Zauber ohne mein Zutun gebrochen ist, der Fremde dem Kind bereits die Bommeln in die Finger gelegt hat, auf dass es seine Kunststückchen mache, die Mutter, lächelnd, nahbei, ich seh’ das alles von oben, springe in siebenundfünfzig Schritten nach unten, stell’ mich dazu, betrachte den Mann, mache mich schmal, warte, bis der Junge endlich die Patschehändchen hochnimmt.
Verzeihung, aber, hat Ihr Instrument einen Namen, frage ich.
Diese hier, sagt der Mann, heißt Skydrum. Ich habe sie erfunden. Er hebt sie hoch, damit ich ihren Bauch sehen kann.
Erkennen Sie es?
Ich nicke. Ich weiß nicht, warum ich nicke.
Das Kind hebt wieder an.
Ich sehe, dass ungefähr neun Schlitze oben in der Skydrum sind, diagonal, manche nur ein paar Zentimeter lang, andere
Jetzt bin ich mir bewusst, dass …
Vielleicht irritieren mich Kinder deswegen so oft. Weil sie sich nicht vornehmen müssen, im Moment zu sein.
(Was „muss“ ich tun? Was „muss ich tun“?
Nichts.
Nur gewahr sein.)
Es gibt nichts, das ich tun könnte außer Laufen, alles andere ist verbaut, ich hab’ keinen Fuß im Jetzt, ich bin verlegen. Ich laufe.
Heute morgen, gleiche Stelle, der Mann war nicht da. Er hat eine Website, ich hab’ sie ganz einfach gefunden, er heißt Jean-Francois und baut Instrumente, auf denen er mit Lichtstrahlen spielt. Im Ernst.
Ich wollte zurückgehen und sagen: Das erste, was ich dachte, war, dass
(Vorhang)
Er hätte genickt. Und mir, vielleicht, noch einmal den Bauch der Skydrum gezeigt.
(Du schälst einen Apfel. Jetzt stell’ Dir vor, der Apfel schält Dich.
Lass das Bild wieder los.
Nimm wahr, was anders ist.)
Draußen geht die Post ab. Übermorgen ist der 14. Juli, die feiern sich schon mal ein.
Dort unten
Jiiieep
Heute mit Selbstporträt
Man beachte –
Nein, vergessen Sie’s. Auf das Offensichtliche soll man nicht hinweisen : )
Hier noch ein kleines Zitat aus meiner derzeitigen Lektüre:
“Ich glaube, ich werde verrückt. Wenn ich nicht noch verrückter werde, stecke ich fest.” (Barry Stevens)
Im letzten Winter hatte ich mir vorgenommen, mehr dem Irrationalen zu frönen. Den Gehalt meiner Ideen und Erfahrungen nicht immer sofort daraufhin zu überprüfen, ob sie verwertbar sind, ob ich sie beispielsweise in meinen Seminaren verwenden kann, ob sie Bestand haben. Irrational wäre auch, mehr Exzentrik zuzulassen: nicht mehr so darauf zu schauen, ob sich bestimmte Verhaltensweisen und Ideen mit dem vereinbaren lassen, was andere als angenehm empfinden.
“Alle Wahrnehmung ist immer Kollage” schrieb Schneck vorgestern unter den Lektüre-Liveticker Text. Es wäre schön, diese Kollage (sie Stückwerk zu nennen, wäre bereits wieder wertend) vor sich selbst bestehen zu lassen, nicht ständig stringent sein zu wollen, es wäre großartig, den Inneren Wolpertinger auch im Außen häufiger sichtbar werden zu lassen. Sehr vernünftig, gerade im Arbeitsleben, wäre das nicht: Meiner Erfahrung nach lieben die Leute es, wenn man einen Stil hat. Ausgeprägt ist. Klingt aber schwer nach Stanze, finden Sie nicht?
“Ich gedenke, in den nächsten Jahren zunehmend exzentrischer zu werden” kündigte ich einem meiner langjährigen Auftraggeber vor ein paar Wochen an. Er grinste nur, schien nicht weiter beunruhigt. (Eben fällt mir das Wort “großspurig” ein. Meine Ankündigung war großspurig, und, what the hell, was ist eigentlich gegen große Spuren einzuwenden, hm?)
Sie sehen also, es geht weiter. Die Vernunft, Verbündete und Sklaventreiberin in einem, ich kann ihr unmöglich weiterhin den Regiestuhl an meiner Seite zugestehen, selbst wenn ihr Name für alle sichtbar in Großbuchstaben auf der Rückenlehne prangt. Ich stelle mir gerade vor, dass es ein Klappstuhl ist, wie an Filmsets üblich. Hui! Wenn ich ihn nicht brauche, klappe ich ihn einfach zusammen. (Und ahne schon, dass er klemmt, und wie)
Gerade fange ich an, mich diebisch auf die nächsten Jahre zu freuen. Auf das Kauzigwerden. Vielleicht zeichne ich mir Schmuckfalten ins Gesicht.
(Für den Rücken muss ich mir noch was überlegen…)








