Mehr als zehn neue Erlaubnisse, numéro 2

Was ich heute auch tun werde.
Bin mit einem Schmerz aufgewacht an genau der Stelle unten im Rückgrad, an die bereits zweimal von Chirurgen Hand angelegt wurde. Wissen Sie, was mein erster Gedanke war? Ob es da irgendwo draußen (oder in mir selbst, was wahrscheinlicher ist) eine geheimnisvolle Instanz gibt, die sich einschaltet, wenn es mir zu gut geht, wenn ich zu freischwebend bin, zu übermütig, zu unbefangen, und mich auf den Teppich zurück holt. Es gibt kaum etwas wirksameres als Schmerz, um das zu gewährleisten, Angst zu machen. Die Idee einer Schwachstelle ins Gehirn zu bohren. Ah, das Körpergedächtnis.

Atmen, Phyllis.

Ich hab’ kurz überlegt, ob ich überhaupt davon sprechen soll, doch auslassen will ich’s auch nicht. Als könnten Sie, Leser:innen, keine Einbrüche aushalten! Unfug. Dies ist ein Tagebuch. Wir kämpfen gehen alle mit Beschädigungen um; sie wirken sich aus, beschleunigen oder behindern unsere Prozesse, alle Prozesse. Diese Stelle in meinem Rückgrad: Seitdem es sie gibt, hat mein Krafttraining nichts mehr mit Eitelkeit zu tun.
Manchmal konzentriere ich mich auf sie. Die Stelle. Sage ihr, schau, ich bau’ dir von vorne und von hinten schöne Muskeln als Wächter, damit du nicht alles alleine tragen musst. Das Unheimliche ist, der Schmerz kommt nie, wenn ich mich anstrenge, sondern in Phasen, wenn der Körper locker lässt: nachts, wenn die Wächter schlafen.

So. Ich gehe eine Stunde Laufen. Nicht rennen, nur einfach Laufen und Atmen. Es ist so warm draußen, so dicht, die Luft ist wie Eingeweide.

Haben Sie einen schönen Tag.

Phyllis

Miss TT’s Lektüre-Liveticker: Gedankenfetzen

Heute mit:
Barry Stevens „Don’t push the river – Gestalttherapie an ihren Wurzeln“, Peter Hammer Verlag

Originalausgabe: „Don’t push the river“, Real People Press, Moab/Utah, 1970

START

Ihr Platz ist leer. Also setze ich mich mit meiner Lektüre an genau den Tisch, an dem die alte Dame gestern saß. Ich hatte den Blick nicht von ihr abwenden können, so gegenwärtig war ihr Gesicht, ihr Antlitz, wenn sie ab und an von ihrem Buch aufsah.
Als sie ging, bemerkte ich, dass sie ein schlimmes Bein hatte, das linke, sie musste es zur Seite schwingen, um nach dem Überqueren der Straße über den Bordstein zu kommen.

Ich kann mich an Frauen einfach nicht sattsehen.

Meine Kunst, meine Auffassung von Kunst, setzt auf Flüchtigkeit. Sie will nicht standhalten. Müssen.
Ich verhalte mich künstlerisch entgegen dem gewohnte Ablauf von
Wahrnehmung erzeugt Arbeit / Arbeit verdient sich Resonanz
Ich versuche mit dem, was ich frei schaffe, v o r der Fleissarbeit zu bleiben, im Feld der Wahrnehmung. Nichtmanifest. Dass ich dennoch Resonanz bekomme, spannt eine versöhnliche Brücke über das Feld der vermeintlich nicht-getanen Arbeit.
Ich bin so wahnsinnig gern mit mir allein.

Was mir immer mehr auffällt: Dass ich mir von Frauen verfasste Sachbücher leichter und lieber zu eigen mache, ihre Stimmen in mein inneres Parlament einlade, ich (be)greife sie intuitiver, während ich bei Autoren dazu neige, mir ziemlich kaltblütig einzelne Happen herauszuziehen; ihre Schlussfolgerungen gehen mir bei weitem nicht so n a h.

Häufiger den Verknüpfungen nachspüren. Wie durch die Beschäftigung mit etwas, das zu Anfang noch unspezifisch war, durch die Aneinanderreihung von Assoziations-Schnipseln etwas sehr Spezifisches zustande kommt: Nach dem Ursprung meiner Schlussfolgerungen Ausschau halten: Die erste Kugel in der Kette.
Schnipp –
Was war zuerst da: Die Sau oder die Perle?

Wie meine französische Freundin mir am Telefon erklärte, was „petits riens“ sind: wie ich dachte, genau so will ich gewahr sein: in der Fülle kleinster (Selbst)beobachtungen. Ohne Schuldgefühl. Ohne dieses Nagen, zu sehr auf mich selbst zentriert zu sein. Nur, sage ich, wer mit seiner Innenwahrnehmung spielt, gewinnt die Menschlichkeit, auch im Außen, mit Anderen, achtsam sein zu können.

Die Zeit, in der man willentlich n i c h t s tut: Das ist der Strohhalm im Nadelhaufen.

Mein erstes petit rien:
Ein grandioses Buch lesen, x-Stellen unterstreichen, mit Ausrufezeichen versehen, dann aber genau die Stelle, die man sich eigentlich hätte merken wollen, und müssen, nicht unterstrichen zu haben und auch partout nicht wiederzufinden

Der erste Schritt besteht darin, die Dinge zu bemerken. Das Gewahrsein dessen, was im Innen vorgeht. Was ist es? Wichtig: Nicht warten, bis die Umstände „stimmen“. Stattdessen die Mittel nutzen, die zur Hand sind, um es auszudrücken.

FRAGMENTE überleben lassen!

Wie entgeistert meine Mutter war, als ich ihr erzählte, dass ich immer lieber eine Gazelle gewesen wäre als ein Vollweib. Scheiß auf das Vollweib.

Übung. Fünf einzelne Begriffe unterschiedlich in Reihenfolge bringen: einmal als Logikkette, einmal nach dem, wie das unmittelbare Gefühl sie am liebsten angeordnet sähe

– Warum das Betreiben eines Weblogs so viel Freude macht? Weil es, im besten Fall, in der Interaktion nämlich, ein Vermischen bewirkt. Inspiration für beide Seiten. Bleibt es beim zwanghaften Vorführen der Einzelpersönlichkeit, des Ich-Ideals, bewirkt es bei Mitlesenden und Kommentierenden nichts als Reflexe von Sympathie oder Antipathie. Solche Spaltungen unterbinden das, was ein lebendiges Weblog ausmachen könnte.

Neuer Claim: Erratisches Lernen. Das Anti-Seminar.

ENDE

“‘Weil’ ist in der Gestalttherapie ein Schimpfwort. Als ich damit experimentierte, bemerkte ich, wie das ‘Weil’ mich mehr und mehr von mir selbst und meinem Tun (egal wie gut oder schlecht) entfernt, während ich ohne dieses ‘Weil’ schlicht und einfach sage, dass ich etwas getan habe. Und dann kehrt meine Kraft zu mir zurück. (In unserer Gesellschaft hören wir den Satz:’Warum hast du das getan?’ schon sehr früh, und meistens handelt es sich dabei nicht um eine Bitte um Information, sondern um einen Vorwurf.)
Ohne ‘Weil’ werde ich mehr zur Indianerin, ich lebe mit Tatsachen – ohne Lob oder Tadel, jenem Auf- und Ab unseres Lebens, das dazu führt, das wir unseren Mittelpunkt und damit unser Gleichgewicht verlieren.”

(Barry Stevens, 1969)

Farah Days Tagebuch, 13

Samstag, 6. Juli 2013

Ich könnte mir jeden Tag etwas Neues erlauben. Es könnte auch sein, dass ich alles ziehen lasse, von dem ich dachte, es gehörte unabdingbar zu meinem Ich, mir stattdessen andere Dinge angedeihen lasse. Schwer, natürlich. Es darf jetzt auch mal soweit kommen, dass es mir scheißegal ist, ob mir etwas zusteht oder nicht, wenn ich es einfach will, wenn es einfach auftaucht. Dieser Wille. Der geheimnisvolle. Immer hadere ich damit herum, dass es die Augen der Anderen sind, die ihn errichten. Wie es mich manchmal provoziert, wenn sie einen so starken haben, dass er ihre Gesichtszüge verzerrt: als müsse immer, bei aller Anstrengung, allem Wollen, die Kack-Fassade gewahrt bleiben. Bullshit. Wer ist schon souverän, wenn wirklich etwas auf dem Spiel steht. Niemand. Also. Siehst Du Farah. Wenn mir etwas wichtig ist, soll es mich verzerren dürfen, mein Gesicht, meinen Trott. Es ist nicht schlimm, verhaltensauffällig zu sein, jedenfalls nicht so schlimm, wie sich die Vorstellung davon anfühlt.

Aus dem Maul der toten Ziege steigen eines Nachts die little people und spinnen eine Puppe aus Luft.
Haruki Murakami hat auch keine Angst vor seiner Vorstellungskraft. Und der, wette ich, ist in Japan noch viel mehr auf Anpassen gedrillt worden, als kleiner Junge, als ich mir vorstellen kann.
Das Wort angelegentlich häufiger verwenden.
Das Wort unschlüssig wieder in den Wortschatz aufnehmen.
Dem Fluss mehr Bedeutung beimessen, Sachen nur auf Vorrat tun, wenn’s nicht anders geht, ansonsten lieber regelmäßig.
Sinnstiftung, Dschinn-Stiftung, Dschinnftung: wenn Worte sich kneten lassen, lässt sich auch Wirklichkeit formen.
Die Sache mit den Vorbildern: es könnte auch so sein, dass man sich klammheimlich damit begnügt, dass andere die tollen Dinge machen, klugen Ideen ausschwärmen lassen, dringenden Entschlüsse fassen. Als ob die Vorbilder zu Stellvertretern würden, die eigenes Handeln überflüssig machen.

Zwischen ich will alles haben und ich kann auf alles verzichten liegt die große, weite Landschaft der Sozialverträglichkeit, die Bundesgartenschau der Mäßigung. Der erste Preis für die schönste Hecke wird millionenfach vergeben.
Hecken schützen, Heckenschützen, Hägen Schudts. Fast schon Eiscreme. Worte lassen sich kneten, man muss nur auf Vorbilder verzichten, dann ist es ganz leicht.
Einen Sommer lang. Mich anrühren lassen. Mir vorstellen, ich meine wirklich, dass alles Vorgestellte nur ein Paravent vor dem Brodeln des Ungeformten ist und selbst wenn man ihn wegnähme und versuchte, in das Brodeln einzudringen, klappte schon der nächste hoch. Wer noch denkt, verpasst das Unmittelbare. Hören wir auf zu denken.

Old school, zum Zweiten

Wie alle Kinder in Frankreich hab’ auch ich die Galette des Rois, den Kuchen der Könige, geliebt.
Immer am 6. Januar gab es in allen Bäckereien diese wahnsinnig süßen, runden Kuchen mit Marzipanfüllung, in die jeweils eine “Fève”, eine “Dicke Bohne” eingebacken war. Wobei “Bohne” die Sache nicht ganz trifft, denn die Fèves waren Porzellan-Figürchen, kleine Männchen und Weiblein, Madonnen, Babys, Königinnen und Könige, Phantasiefiguren oder Personnage aus Comics oder Fernsehserien und vieles mehr. Man konnte sich locker die Zähne an ihnen ausbeißen, wenn man nicht vorsichtig war. (Unnötig zu erwähnen, dass die Fèves inzwischen aus Plastik sind, oder?)

Die Galette kam zudem mit einer Krone aus goldfarbener Pappe: wer nämlich die fève in seinem Stück fand, war König oder Königin für einen Tag und durfte r e g i e r e n!
Der Kuchen wurde in ebenso viele Teile geteilt, wie Leute um den Tisch versammelt waren. In manchen Familien (zu denen meine nicht zählte, muss ich gestehen) schnitt man, der Tradition folgend, ein zusätzliches Stück für “die Armen” von der Galette… das dann für die nächste Person, die zu Besuch kam, reserviert gewesen wäre. Doch was, wenn ausgerechnet in diesem Stück die Fève versteckt war? Das konnten wir Kinder keinesfalls dulden.
Das jüngste, also vermeintlich unschuldigste von uns (das war fast immer ich) musste nach dem Schneiden des Kuchens unter den Tisch krabbeln und ausrufen, wer als Nächstes ein Stück bekommen sollte, bis alle verteilt waren. (Wie ich da unten saß und dachte, wenn ich die Fève nicht kriege, sterbe ich bestimmt)

So. Kleiner Exkurs in die Vergangenheit beendet. Da ich die Fève nicht oft in meinem Stück fand, durfte ich leider selten regieren. Ein Manko, das ich inzwischen nachgeholt habe ; )

Neues vom Lieblingsmessie

Die alte Dame hatte ursprünglich mal einen Blumenladen, in den aber ob ihrer Sammel-Leidenschaft schon lange keine Blumen mehr hineinpassen; auch sie selbst kann sich nur mit Mühe durch die einzig verbleibende Gasse in ihn hineinzwängen, wenn sie sich für ihr Mittagsschläfchen zurückziehen will. Da der Laden seiner Bestimmung nicht mehr gerecht werden kann, hat Madame zwei Topfpflanzen auf dem Trottoir stehen, die niemand sich zu kaufen traut, und einen Kübel mit Frischblumen – den aber nur, wenn sie gute Laune hat, was nicht oft vorkommt.
Hinzu kommen zwei Klappstühle (die Dame ist zu alt, um schwer zu schleppen) und ein Tischchen für ihre Limonade und die Zigaretten. Auf den zweiten Klappstuhl darf man sich setzen und ihr Gesellschaft leisten, wenn man sehr privilegiert ist. (Ein Vorrecht, das ich noch nicht das Glück hatte, gewährt zu bekommen, aber ich bleib’ dran; ich liebe Herausforderungen ; )

Der Himmel über Paris heute schwer verhangen, selbst die Stimmen der Krähen klingen nässlich.