Mehr als zehn neue Erlaubnisse, numéro 2

Was ich heute auch tun werde.
Bin mit einem Schmerz aufgewacht an genau der Stelle unten im Rückgrad, an die bereits zweimal von Chirurgen Hand angelegt wurde. Wissen Sie, was mein erster Gedanke war? Ob es da irgendwo draußen (oder in mir selbst, was wahrscheinlicher ist) eine geheimnisvolle Instanz gibt, die sich einschaltet, wenn es mir zu gut geht, wenn ich zu freischwebend bin, zu übermütig, zu unbefangen, und mich auf den Teppich zurück holt. Es gibt kaum etwas wirksameres als Schmerz, um das zu gewährleisten, Angst zu machen. Die Idee einer Schwachstelle ins Gehirn zu bohren. Ah, das Körpergedächtnis.

Atmen, Phyllis.

Ich hab’ kurz überlegt, ob ich überhaupt davon sprechen soll, doch auslassen will ich’s auch nicht. Als könnten Sie, Leser:innen, keine Einbrüche aushalten! Unfug. Dies ist ein Tagebuch. Wir kämpfen gehen alle mit Beschädigungen um; sie wirken sich aus, beschleunigen oder behindern unsere Prozesse, alle Prozesse. Diese Stelle in meinem Rückgrad: Seitdem es sie gibt, hat mein Krafttraining nichts mehr mit Eitelkeit zu tun.
Manchmal konzentriere ich mich auf sie. Die Stelle. Sage ihr, schau, ich bau’ dir von vorne und von hinten schöne Muskeln als Wächter, damit du nicht alles alleine tragen musst. Das Unheimliche ist, der Schmerz kommt nie, wenn ich mich anstrenge, sondern in Phasen, wenn der Körper locker lässt: nachts, wenn die Wächter schlafen.

So. Ich gehe eine Stunde Laufen. Nicht rennen, nur einfach Laufen und Atmen. Es ist so warm draußen, so dicht, die Luft ist wie Eingeweide.

Haben Sie einen schönen Tag.

Phyllis

23 Gedanken zu „Mehr als zehn neue Erlaubnisse, numéro 2

  1. “sondern in Phasen, wenn der Körper locker lässt”. Das halte ich für eine wichtige Beobachtung. Aber es sind nicht Wächter, sondern eine einzige Wächterin paßt auf. Die Dämonen wissen das und nutzen es aus. Deshalb wär’s gut, wenn Sie einen Botschafter oder eine Boschafterin hinuntersendeten, die im Unbewußten Nachtwache halten.

    Und wieder so eine gelungene Formulierung, die Sie aber, geben Sie’s zu, von >>>> Farah Day stiebitzt haben: “die Luft ist wie Eingeweide” – das zum Beispiel w ä r e solch ein Botschafter, könnte einer werden.

    • Erstaunlich, was Sie da imaginieren: eben, beim Laufen, kam mir ebenfalls die Idee des Nachtwächters – das war ja geradezu synchron! Und ich dachte, es müsste aber eine Wächterin sein, dachte weiter, ob sie ein Wort wäre oder ein Bild, ob sie einen Namen hätte, welche Gestalt ich ihr würde geben wollen vor meinem inneren Auge. Und fand sie. Kein Wort, kein Bild, keine Zeichnung: Ein Objekt. Ich werde endlich mal wieder dreidimensional arbeiten.

      Stimmt übrigens, das mit Farah.

  2. Ach, liebe Phyllis, gerade in der vergangenen Nacht habe ich einen kleinen Text über einen heftigen Rückenschmerz geschrieben, ganz anders in Bezug und Schlussfolgerung als der Ihre, aber eben auch über das Sprechen des Körpers, und ich überlege, ob ich mir erlauben kann, ihn zu veröffentlichen, aus verschiedenen Gründen, von denen der lapidarste der ist, dass ich mich nur auf einem Zwischenstopp nach meinem Elsassurlaub und vor ein paar Tagen Schweizurlaub befinde, und also eigentlich gar nicht da bin.
    Ihr Text schubst mich nun an und sagt “Erlaube es Dir.”
    Wie klug unsere Körper sind.
    Alles Gute in Ihrem Versteck! Ich wünsche Ihnen, dass der Schmerz schnell wieder Platz macht für freies Schweben und Übermut.

    Herzliche Grüße,
    Iris

    • Liebe Iris, das freut mich sehr, dass mein Text jetzt dem Ihren die Tür nach draußen aufschließt –
      “Erlaube es Dir. Lass es zu.”

      Ich wünsche Ihnen Fragmente und Zwischenräume.
      Viele Grüße an Ihren klugen Körper!
      Phyllis

    • Sie sind zumindest notwendig, weil wir oft so über unseren Körpern schweben, dass wir die zarteren Signale gar nicht mitbekommen. Dass sie gut wären, kann ich nicht sehen – weil ich mir gerade vorstelle, wie viele Leute mit chronischen Schmerzen umgehen müssen.

    • Heute sagte jemand, wir litten doch alle am gleichen Defekt, alles erklären und miteinander in Zusammenhang bringen zu müssen; es gäbe aber längst nicht so viele Zusammenhänge, wie wir uns einbildeten.
      Tja, Kausalketten sind schwer abzuwerfen. Besonders die aus Moral geschmiedeten.

    • Dazu muss ich Ihnen und allen anderen unbedingt eine Passage aus “Don’t push the river” zitieren, die passt wie die Faust auf’s Auge:

      “‘Weil’ ist in der Gestalttherapie ein Schimpfwort. Als ich damit experimentierte, bemerkte ich, wie das ‘Weil’ mich mehr und mehr von mir selbst und meinem Tun (egal wie gut oder schlecht) entfernt, während ich ohne dieses ‘Weil’ schlicht und einfach sage, dass ich etwas getan habe. Und dann kehrt meine Kraft zu mir zurück.
      (In unserer Gesellschaft hören wir den Satz:’Warum hast du das getan?’ schon sehr früh, und meistens handelt es sich dabei nicht um eine Bitte um Information, sondern um einen Vorwurf.)
      Ohne ‘Weil’ werde ich mehr zur Indianerin, ich lebe mit Tatsachen – ohne Lob oder Tadel, jenem Auf- und Ab unseres Lebens, das dazu führt, das wir unseren MIttelpunkt und damit unser Gleichgewicht verlieren.”

      (Barry Stevens, 1969)

    • O Wandelgang der Schöpfung! Labyrinth,
      Das, dunkel uns, sich ganz von Lichte webt
      Und, nur zu- göttlich hell, uns dunkel wird.
      So scheint, was sich am Schnellesten bewegt,
      Für uns zu ruhn; so schweiget unserm Ohr
      Der lautste Sternenklang; was sich gebiert
      Und rastlos fort gebiert, das schlummert uns;
      Und aller Wesen Abgrund wird uns Nichts.

  3. Es ist die alltägliche Sitzerei, für die der Mensch nicht gebaut ist, weswegen ich zwei Steharbeits- und Leseplätze in der Wohnung habe – die entlasten allein durch ihr Vorhandensein den Kopf und geben dem Körpergedächtnis anderen Stoff. Am besten wäre natürlich ein Wandelgang für’s Lesen.

  4. Der Schmerz ist höflich und kommt, wenn die Arbeit getan ist. Da ist es, glaube ich, angezeigt, ihm gleichermaßen respekt- und achtungsvoll zu begegnen. Ich kenne übrigens diesen Impuls, es dürfe einem nicht zu gut gehen, man werde “übermütig” etc. Das habe ich immer meiner katholischen Erziehung zugeschrieben. Keine Ahnung ob da was dran ist…

    • Hatten wir ja, die Sache mit dem Denken. Irgendwo las ich mal, der Verstand ist wie eine unablässig rotierende Kreissäge. Schaltet man ihn ab, tritt plötzlich beglückende Stille ein, und man sieht die Dinge wie sie sind. Die Kausalketten dienen wahrscheinlich der Hervorbringung von Verantwortlichkeiten. Es muss immer jemand/etwas schuld sein. Das in sich ruhende Aushalten eines Zustandes steht nicht mehr hoch im Kurs heutzutage.

    • Wolan, mein Herz! – Auch in der Fehler, in
      Der Missethat Vergeltung fandest Du
      Niemals den neidischen, rachgierigen,
      Du fandest stets den linden, milden Gott,
      Der sanft verzeihend straft, nur Ahndung winkt
      Und tödtend schafft und hart verbindend heilt,
      Der Flecken abwäscht mit der Liebe Hand,
      Und wenn er Dir den Fehl nur hat gezeigt,
      Ihn Andern decket zu. Auf! faß ein Herz,
      Mein Herz, und siehe scharf den Spiegel an,
      Der, was nicht Bild des Ew’gen ist, Dir zeigt,
      Der, was Dich brennen wird, Dir nie verhehlt!
      Erfaß den Guten, der in Dir die Kraft
      Zu wachsen, der Dir Läutrungsfeuer ist,
      Dich auszubrennen, Dir zu leuchten, Licht,
      Dich zu erquicken, Trost, zu hoffen, Muth
      Und Deinem Herzen wachsend süße Ruh.
      Eins ist der Ewige! im Einen wohnt
      Wahrheit und Leben, Göttlichkeit und Ruh.
      Getheilt ist unvollkommen; Er ist’s ganz.

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