Farah Days Tagebuch, 7

Mittwoch, 21. November 2012

Jetzt soll ich also einen Text über LICHT schreiben.
Pressemitteilung ist raus, ich hatte bereitwillig zugesagt, klar schreib’ ich einen Text über LICHT. (Pah, ein Klacks)
Obwohl, außer nachts bei Kadim auf dem Futon, wenn der Ölofen seine flackernden Ringe an die Decke wirft, denke ich selten über LICHT nach, und das wär’ ja was, der Futon, den vorzubringen mit Marie im Publikum, bestimmt wieder in der ersten Reihe, die an die gleiche Decke und auf die gleichen Ringe starrt, wenn sie neben ihm liegt.
Fällt also flach. Eh zu privat, wenn die Kollegen was real LICHTiges schreiben. Aus der Pressemitteilung klingt’s, als hätten die seit Jahren nichts anderes gemacht als über LICHT nachzudenken, wow, heißes Eisen. Das ganze Land ist davon ergriffen, anscheinend!
Mein eigener Text jedenfalls, der imaginäre, gleisst mir im Kopf, ich steh’ Qualen aus, weil, mit Transferleistung hab’ ich schon lang’ nichts mehr verfasst. Privates geht mir locker von der Hand, aber LICHT?
Da kommt der alte Trotz hoch, wenn’s einen Sinnzwang gibt denk’ ich mir immer schnell was aus, natürlich originell und möglichst kühn, aber trotzdem, umgehend.
(Kadim erinnerte mich gestern vergnügt an die einzige Hausarbeit, die ich ihm mal abgeliefert hab’: wie mutwillig lüstern die am Thema vorbei war.)
Also, LICHT. Ich schreib’ so schnell ich kann um dem Kalkül voraus zu sein, denn, fast sicher, weiß ich wirklich was Grundlegendes über LICHT. Komm raus, komm’ ohne Üben raus, beLICHTe mich.
(Frag’ mich ja schon, wie Kadim da drauf gekommen ist. Hat einfach genommen, was ihn selbst am meisten interessiert und es zum allgemein relevanten Thema hochgejubelt. Wie komm’ ich eigentlich dazu, mich darauf einzulassen, schön blöd.)

Schon witzig, wie sehr ich das Schreiben hasse. Ich richte mich ein, die richtigen LICHTverhältnisse, Kissen, Musik, alles in Reichweite, beginne und das einzig tröstliche ist die Zukunft, in der das alles schon geschehen sein wird, als würd’ ich mir von weiter vorne in der Zeit dabei zusehen, wie ich schreibe.
Mein Lieblingstrick. Die Vorstellung, daß ich später LICHT sein werde. In der Gegenwart auf Grund laufen, später ein LICHTfisch mit Laternchen am Kopfe. (Denke ja immer noch, ich muß strahlen, aber lieber später als früher. Modifikationen jedenfalls.)
Jedes externe LICHT ist gelogen. Worte sind einfacher, weil flexibler zu handhaben, aber schwieriger, weil flexibler zu handhaben.
Immerhin bieten sie ein Aufgrundgefühl.

Farah Days Tagebuch, 6

Freitag, 16. November 2012

Verfluchter Herbst. Brauche mehr Abenteuer. Kaum aber hab’ ich eins, versuch’ ich schon, ihm Zügel anzulegen. Deutsch halt. Immer abwiegeln. Und der Kleinmut. Die eigenen Schwächen beschnüffeln. Kenn‘ ich, den Geruch, bissi süßlich, bißchen verdorben, wie Entzündungen eben so riechen.
Klaub’ auch immerzu in meinem Wortschatz.
Warum hat das Scheißprogramm…? Seit ich weiß, mein neues Manuskript enthält nur zehntausendachthundertzweiunddreißig verschiedene Worte, ist mir permanent schlecht.
Wenn ich gewußt
[“Hätte, hätte…”]
[“Ja, äff’ nur. Hast ja Recht.”]
Ein Gewälz ist das die ganze Nacht. G e w ä l z. Ich lieb’ sie, die Wörter, nachts hilft das aber nicht, die kommen und rächen sich, wenn ich sie tagsüber nicht benutzt hab’.

“Wisper wisper.”
“Wer da?”
“Hallo, ich bin’s die kleine Schreibmaus.”
“Hau ab. Ich hab’ kein Thema. Selbst wenn ich wollte, ich könnt’ keinen neuen beschissenen Roman schreiben. Mir fällt nix ein.”
“Schreib doch was über dich”, zärtelt die Maus.

Ein Tiger muß her! Fetz’ weg den Nager, o Tiger.
Warum ich’s nur immer so mit Tieren hab’, keine Ahnung, schlichte Gemüter brauchen halt Anschauliches. Hä hä. Nee. Frag’ mich auch, wo der kauzige Stil immer herkommt, hoffentlich gewöhn’ ich mir den nicht an. Kann man echt niemandem zumuten.
Aber kürzen tu ich’s nicht.
Nö.
[Hab’ schon alles versucht heute. Arbeiten. Schlafen. Telefonieren. Wichsen. Husch, sag’ sowas nicht, das ist ein seriöses Tagebuch.]

„Gewöhn dir den schludrigen Wortschatz jetzt ma’ ruckizucki wieder ab, Farah, passt nicht zu dir.“
„Na wenn schon. Mir gefällt’s. Am besten, man hackt sowas rhythmisch, dann kocht dann der Saft…“
„Iiieh!“

Und weiter, weiter? Was tummelt sich in diesem Komposthaufen, den du Gehirn nennst, gibt’s da noch was mehr als verrottende Obstschalen?
Dann wär’s jetzt zum Beispiel ein guter Moment, damit rauszurücken.
Aber ich bin grad so schön flüssig, wenn auch schlecht, ich will net ins Literarische hinein! Mer müsse net, wenn mer net wolle! Morgen zerreiß ich den Schund, aber heute darf Dampf aufsteigen vom Misthaufen.
Japjap, da kommen gleich die ganzen Hunde und Katzen und zerfleddern, was übrig ist. Kommt nur. Aber persönlich! Große Nase, immer auf der Suche nach Verworfenem, riech’ mich, schrei’ ich. Aber da ist grad keiner.
Schon wieder ’ne Seite vollgeschlabbert.
Mir egal. Heute piss’ ich, morgen schreib ich ein schönes neues Buch. Pro Tag eins, das wär’ so meine Vorstellung.

Farah Days Tagebuch, 5

Dienstag, 6. November 2012


„Hi“ sagte ich.
Berg drehte sich um, richtete rot unterlaufene Augen auf mich. Seine Lider vibrierten, als versuchten sie seit längerer Zeit ihre Pflicht zu tun, wenigstens mal kurz.
Der schläft nicht, dachte ich. Nichts wie weg.
„Hey“, sagte Berg. Seine Stimme klang, als hätte sie nur ganz wenig Platz.
Jetzt schnell etwas sagen, nach der Zeit fragen und abhauen. Aus seiner rechten Manteltasche sah ein Paar weißer Baumwollhandschuhe hervor. (Wer trägt sowas, ein Antiquar? Oder ein Restaurator.)
Nein, Drogen. Dieses Zeug in Ampullen, die man vor der Nase zerbricht. Zunge schnellt wie ein losgelassenes Gummiband in den Rachenraum, wickelt sich
(hörte sie fast knacken, die Ampulle)
Sachte den Rückzug antreten. (Konnte ich nicht)
Was ist, wenn man das auf die Hände kriegt? Wahrscheinlich ätzend.
Was macht eigentlich die Katze auf dem Beifahrersitz?

~

„Brauchen Sie Handschuhe, wenn Sie mit Ihrer Katze spielen?“ fragte ich.

Berg hat damals nicht geantwortet. (Heute weiß ich, warum)
Nichts hatte sich verändert, alles war verändert. Konnte gut sein, dass gerade die Sonne unterging, dass ich hier schon Stunden vor ihm stand.
War zuvor die Straße hinunter geschlendert, vorne links hatte der Wagen gestanden, ein Mann war ausgestiegen, Pferde, ich hatte an Pferde gedacht. Warum, fiel mir nicht mehr ein.

Scheiß drauf.
Ich setzte mich auf den Asphalt.

Starrte auf zwei Hosenbeine. Sah entlang der Naht nach oben, inspizierte den Schritt, den mit sandfarbenem Strick bedeckten Oberkörper, die Schultern, da war es wieder, dieses unvermittelte Zusammenzucken, ich kannte das jetzt schon. Mein Blick auf seinem Gesicht, das mir zugeneigt war. Schwarzes Haar fiel über die Augen, ich sah nur Nase und Mund, Lippen aufeinander gepresst, vielleicht zweifelnd, nun, bestimmt nicht so verirrt wie ich. (Aber auch, als wäre mir der weitere Verlauf aus der Hand genommen)
Es kam mir in den Sinn, dass es von dort unten aus eventuell leichter wäre zu sprechen, ich
sprach, ich sagte:
„Was würden Sie davon halten, mein Geliebter zu werden?“

Genau, sollte ich mich erheben? Besser nicht. Noch warten. Wie, zum Henker, hatte ich das nur sagen können?
Ich sah unverwandt auf diesen Mund, beobachtete, wie sich die Lippen nach innen zogen jetzt, ein schmaler Strich, darüber geweitete Nasenflügel, als wolle er mich riechen.
So muss es sein, wenn man als letzter in einem Hochhaus sitzt, das gerade gesprengt wird, dachte ich.
(Sag’ was, Mann, die Zeit tickt,
meine)

Berg warf den Kopf in den Nacken. Er sah woanders hin.
“Steh auf”, sagte er.

Farah Days Tagebuch, 4

Samstag, 3. November 2012

Gerade steigt Berg aus dem Wagen. Er zieht den Kamelhaarmantel eng um die breiten Schultern. Es ist Nacht. (Paul ist unterwegs zum Club. Die Information machte schnell die Runde. Die beiden kennen sich nicht.)
Berg kennt nur seinen cremefarbenen Wagen und mich. Wir küssen uns jetzt. Berg küsst erstaunlich gut, es macht ihm Freude. Ich kann auch küssen, aber nicht so gut wie Berg. Ich brauche es nicht so sehr
(dachte ich, bevor ich Berg kennenlernte).
Jetzt habe ich meine Meinung geändert. Bergs Behinderung ist nicht so stark. Er ist langsam mit der Sprache. Sein Haar schimmert im Mondlicht. Unter dem Mantel trägt er schmeichelnde Materialien, dunkel und weich. Irgendwo werden zähe, überlebensfähige Tiere geschoren, damit Berg diese Pullis tragen kann. Ich hab’ ihm erzählt, wo die Tiere herkommen, doch er hat es vergessen. Obwohl es ihm damals gefallen hat, wo die Tiere herkommen.
Berg hat einen untrüglichen Instinkt dafür, sich vorteilhaft zu kleiden; seine Glieder brauchen Halt.
Auf diese Weise wurde ich seiner zum ersten Mal gewahr:
Ich war in der Nähe, als er aus seinem Wagen stieg. Ich sah schwarzes Haar, glänzend wie die Flanken eines erhitzten Pferdes. Ich hielt inne: Blitzartige Assoziationen von galoppierenden Herden, Nüstern, der berauschende Duft nasser Pferdehaut erschienen vor meinem inneren Auge.
Ich blieb stehen.
Ein nichtiger Zufall. Meine Neugier war geweckt. Ich beobachtete, wie sich hinter dem Haarschopf auf merkwürdig ruckende Weise ein (allem Anschein nach) prächtiger Körper aus dem Wagen schob. Die Bewegungen des Fremden waren durch eine hauchdünne Dissonanz gekennzeichnet. Schon in diesem kurzen Augenblick, der unverbindlichen Geste des aus dem Wagen Steigens, bemerkte ich die Störung. Sie erschien mir vertraut und überaus charmant.
Wie Pferde sich durch ständiges Zucken von Mücken zu befreien suchen. (Ich sah sie sofort vor mir.) Mächtige Körper, deren geballte Kraft auch in der Regungslosigkeit offensichtlich ist. Sah vor mir die Ruhe, die nur durch das unvermittelte, heftige Zusammenzucken der unter der Haut liegenden Muskeln unterbrochen wird: so bewegt er sich. Berg. Er vibriert oft kurz, und, wie es scheint, völlig gedankenlos. Der exquisite Mantel schwingt dabei schwer und langsam um den Körper. Es ist immer, als ob ich zwei Wesen beobachte, die zufällig ihren Platz in ein- und demselben Körper gefunden haben: ein schnelles, nervöses, und ein ruhendes, dessen Bewegung durch das erste verursacht wird, um Bruchteile von Sekunden zu spät.
Während Berg an diesem ersten Tag die Autotür schloß, überlegte ich in fieberhafter Eile, unter welchem Vorwand ich mich ihm nähern könnte. Ich war sehr nervös. Die Straße war unbelebt.

Farah Days Tagebuch, 3

Mittwoch, 31. Oktober 2012

Noch sechshundert Seiten ahead. Beim Lesen keine Bilder. (nicht nötig)
Gib mir das! Und dieses auch noch!
Hier entlang. (Wer hätte das gedacht …)
(Na, er, der Saukerl)
Rtsch hat die Struktur Witterung aufgenommen, ihr hohes Gekläff Seiten später noch zu hören, doch jetzt brät ihr jemand eins über, plauz, vorbei, Satz knickt ab.
Und wieder pest sie um die Ecke, als wär’ Schriftsprech zuvor nie gewesen. Zum Schlecken schön.
Hmph hmph dackelt das bißchen Plot seinem Herrn hinterher. Joyce, Sie eingebildeter Kerl! That’s no association but assassination!
“Don’t follow me!” grollt er.
Ich glaub’s einfach nicht. Ich nehm’ die Steigeisen. Dem werd’ ich…!
Kann das eigentlich sonst noch einer?
“Hallo? Laßt mich nicht allein mit ihm da oben! Das Viech reißt alles an sich!”

Da klinkt mir der Kopf.
(Die armen Zeitgenossen, daß sie nicht geblutet haben vor Neid)
(Dublin: Krawall im Caféhaus: “Der Mann hat seine Seele dem Teufel verkauft!”)
“Wait!!!” schrei’ ich ihm nach. Da haut er schon wieder ab und plündert bei den Alten rum. Jedesmal, wenn er mir entkommt, werd’ ich ganz dick vor Stolz: Ich entbiete Ihnen!
Ein Weilchen.
(And a “hooray!” for the syllable as it dives into the scene.)
Also ich seh’ schon, meine Begeisterung, obschon heftig, kann das Ding nicht in Worte fassen. (More than I can chew?) Machen wir einfach weiter, sprechen wir in hundert Seiten drüber.
Mach’ Dir nichts draus, Kleines, sowas dauert.
(“I beg your pardon, but I have to stray in my own brainscape for a while. See you.”)
Was laß’ ich mich auch immer so beeindrucken.
Immer die anderen…
Es perjudicial para la salud

Farah Days Tagebuch, 2

Montag, 29. Oktober 2012

Ich glaub’ ich brauch’ Anschaulichkeit nicht so sehr / folge beim Schreiben dem Gefühl von Geschwindigkeit / Schnelle Sprache langsame / Zu- und Abnahme / Schübe / Es ist gar nicht so daß ich Sprache zugunsten einer bestimmten Idee gebrauche / mißbrauche / sie abstrakter chaotischer härter machen möchte / will nur erkennen was sie für mich ist / Persönlich / W a s sie ist nicht wie sie ist / Bemüh’ mich nicht um Verständlichkeit schließe sie nicht aus / spüre mein Sprachreservoir auf unter dem Denken /

Das Reservoir der Ort von dem ich immer spreche / der ungeklärten Prioritäten wo nicht klar ist wer wen benutzt / Ich die Sprache oder sie mich /

Wo die Frage Was Geht manchmal das intuitive Wissen und manchmal die Logik aktiviert und manchmal beide / Wie denke ich / Was hab’ ich für Mittel das rauszukriegen / An der Hand / Begebe mich in eine neutrale Zone [versuch’s] in der Über-Ich nicht automatisch die Vorherrschaft hat / um die Ratio zu reduzieren / sie mit Vorgaben von denen ich bewußt nichts weiß zu kreuzen /
Weswegen ich kluges Denken übelnehme / so wenige neue Variable / Oder wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit aus der Kreuzung zweier vernünftiger Gedankenstränge etwas Ungeahntes entstehen zu lassen / Neues / Grenzgängerisches / Andersartiges /
Wenn ich mich aber viel mehr daFÜR interessiere als für Inhalt muß ich ihm doch keine Zugeständnisse machen / mich seinetwillen funktionalisieren / kann doch mischen / Kann ich sagen Mein Denken besteht aus vielen übereinandergelagerten Schichten die oberen folgen den Regeln der Logik / sind eigentlich gar nicht Ausdruck meiner Person sondern fast Allgemeingut da diese Ebene von allen geteilt werden kann / da für jeden nachvollziehbar / Das sind die die ich normalerweise in Benutzung hab’ /

Kein Wunder daß es mir oft so schwerfällt damit zu arbeiten
[scheint mir einfach nicht von Belang eine Idee zu verfolgen auf die doch jeder andere auch hätte kommen können]

Die mittleren Schichten sind die auf denen sich die Kunst abspielt / Fast-Individualität / die Impulse zieht man sich von unten die Vermittlung von oben und schafft daraus ein Halbwerk / Eine Mischung die aber immer noch den Kriterien der Vermittelbarkeit verpflichtet ist / was nicht immer gelingt wenn der Anteil der unteren Schichten zu stark war / was dann enttäuschend ist weil man doch zumindest anteilig auch mit vermeintlich allgemeingültigen Regeln gearbeitet hat / vielleicht feststellen muß daß man trotzdem nicht dazugehört /
Die untersten Schichten sind die auf denen Bewusstgelerntes nichts gilt / Das Reservoir / Wo man sich kaum mehr auskennt weil man selbst das Vergessen vergessen hat / Alles was oben keinen Platz findet weil die Gelegenheiten es zu benutzen sich nicht ergeben sinkt auf die / Da wohnt der Text / würde er wohnen bleiben wenn er wirklich gut wäre / Natürlich ist er jetzt da er aufgetaucht ist [aufgebraucht] / sich im Kontext des öffentlich Rezipierbaren befindet schon nicht mehr richtig gut / die Maßstäbe passen halt nicht mehr [haben nie gepasst] / aber das muß ich für mich behalten /

Farah Days Tagebuch, 1

Samstag, 27. Oktober 2012

Ich bin ein Rezeptionsmonster: Ich habe kein eigenes Haus. Ich höre immer den anderen zu.
Ich weiß nicht, was „Gespräch“ ist, was „Gespräch“ für andere bedeutet. Warum scheint es ihnen keine Mühe zu machen? Wie schaffen sie es, nicht auseinanderzufallen, wie können sie mit mehreren Leuten gleichzeitig kommunizieren? Wie können sie in Anwesenheit anderer bei sich bleiben? Ich kann das nicht. Der Andrang von Daten ist viel zu groß, und das bißchen Selbst, das ich für mich beanspruche, hält keinem Gespräch stand. Ich sitze dabei und verrechne mich mit der Summe dessen, was gesagt, gezeigt, gestikuliert wird. Ich habe nie das Gefühl, etwas beeinflussen zu können, denn ich wiege nichts, ich bin durchlässig, ich bin viele. Ein lebendes Meßinstrument. Ich kann nie einem Inhalt folgen, weil ich ständig damit beschäftigt bin, mich in das Gesagte hinein zu multiplizieren, kleine, verläßliche Knötchen in diesem Fluß zu erzeugen, aus denen ich etwas Haftung ableiten könnte. Wenn, wenn. Es gelingt mir nicht, weil sich die anderen auf einer verschobenen Ebene befinden. Ich suche meinen Weg innerhalb einer Welt mikroskopisch kleiner Differenzen, während sie sich über S a c h e n unterhalten!
Natürlich kann ich kaum jemals etwas sagen. Ich kann einfach die Idee von Miteinandersprechens nicht richtig begreifen. Ich bin immer völlig nervös. Wer sprechen will, braucht einen einigermaßen stabilen Status, vor sich selbst. Ich verändere meinen Status mit jedem neuen Wort, das gesprochen wird, mit jeder Geste, jedem Blickaustausch, der mich involviert und auch mit jedem, an dem ich nicht beteiligt bin. Das Gespräch machte mit mir, was es will. Das ist mein Beitrag. Ich weiß nicht, wie Austausch funktioniert.
Ich habe nichts zum Tauschen, weil ich von der Anstrengung, alle meine Wahrnehmungen miteinander ins Verhältnis bringen zu wollen, völlig absorbiert bin. Ich muß mich um all die unterschwelligen Psychokreise kümmern, Unstimmigkeiten und Signale deuten, meinen Status ständig aktualisieren, meine Körperhaltung auf die Gesamtsumme der anderen Körperhaltungen einstellen, überall Löcher flicken, wo ein gesprochener Satz meines Erachtens mit dem darauffolgenden nicht richtig zusammenpasst, ich tu’ das mit mir selbst und innerhalb meiner eigenen Skalen, ohne daß dieses von Außen ersichtlich würde, doch ich übernehme Verantwortung für alles. Ich bin der Transmitter für das Gruppenbewußtsein, nein, mehr als das, ich korrigiere die Daten, die durch mich hindurchfliessen, bis sie meinem Empfinden für Symmetrie, Realität, Gerechtigkeit entsprechen.

Jen

Als der Parasit begann, mit mir zu sprechen, merkte ich es nicht. Kein Wunder – ich stemme mich gegen die morgendlichen Achtsamkeitsübungen; sie langweilen mich. Weil Jen bei aller Geduld nicht zum Lehrer taugt. Doch es gibt keinen anderen.

Jede Woche lässt er sich von Nita die Fingernägel frisch mit kupferfarbenem Lack bemalen. Mir scheint immer, als wollte er mit dieser Geste seine Vorgängerinnen verhöhnen, denn die lackierten Nägel streichen nur noch mehr heraus, dass er der erste männliche Getaufte ist. Das war vor meiner Zeit. Ich meine, als Jen getauft wurde und sich zusammen mit Kaan an die Spitze setzte. Himmel, warum muss er nur immer so auftrumpfen?
Mit seinen handgenähten Wildlederjacketts und dem Zopf (nicht geflochten, niemals geflochten) wirkt er wie er eine Mischung aus Trapper und Dandy: das muss man erstmal hinkriegen, ohne lächerlich zu erscheinen. Aber Jen ist alles andere als das. Wenn es nach uns ginge, könnte er auch im Schaffell herumlaufen. Jen kommt mit allem durch.
Vorerst. Denn er hat mich angelogen. Bei der wichtigsten Sache überhaupt.

Dass er die Lücke entdeckte, spielt inzwischen sowieso keine Rolle mehr: über kurz oder lang wäre sie von jemandem gefunden worden, oder? Wir könnten auch woandershin gehen, obwohl die meisten von uns davon nichts wissen wollen. Allen voran natürlich Jen: Er behauptet, dass wir weiter draußen keine Überlebenschance haben. Cinz sagt, das sei Unfug.
Jedenfalls bindet uns Jen an die Lücke. Wir sitzen im Kreis und starren auf seine glänzenden Fingerspitzen, wenn er arbeitet.

(Er nennt es tatsächlich “Arbeit”… ! Der Sauhund.)

Im Gegensatz zu der langen Reihe von Frauen, die vor ihm Lehrer waren, wusste bei Jen damals niemand, ob sein Immunsystem Kaan nicht töten würde. So heißt sein Parasit.
Cinz sagt gerade, ich solle dieses Wort nie wieder schreiben.

Farah Days Tagebuch, Vorspann

Der Parasit schlängelte sich in einem mit Wasser gefüllten Glas. Er war gelb, leicht ins Grünliche changierend, und man sagte, er phosphoresziere im Dunkeln. Jetzt, bei Tag, war das natürlich nur zu erahnen. Ich konnte den Blick nicht von ihm wenden: Wie elegant er war. Wie fein. Ich hatte ihn erkannt – er war mein. Da schon.

Wie ein Streifen gelber Seide sah er im Wasser aus. Ausgefranst an den Rändern, wie etwas aus zartem Gewebe Gerissenes. Winzigste Fasern, mit einer Verdickung an der Seite, an der sein Kopf ist. Wir konnten erkennen, dass er gefressen hatte: Da war eine leichte Verfärbung, ungefähr auf der Mitte seines Körpers. Jen füttert alle Würmer vorher, sonst würden sie gleich anfangen zu fressen. Das ist nicht erwünscht, wegen der Eingewöhnungsphase.


Die anderen hatten sofort mit den Vorbereitungen begonnen. Ich bot meine Hilfe an, doch Jen zog die rechte Braue hoch und machte dieses kleine Geräusch mit der Zunge, das er immer macht, wenn jemand etwas Unangemessenes sagt. Er kommt ganze Tage ohne Worte aus, nur mit diesem Schnalzen.

Also saß ich am Tisch und starrte auf den Parasiten. Sein Name war Cinz. Das war der Grund, weshalb ich ihn bekam: dass ich als Einzige seinen Namen wusste. Nachdem ich ihn ausgesprochen hatte, hatten die Anderen sich entspannt. Nur Franny hatte mir einen Blick zugeworfen, als ob sie mir etwas neiden … aber vielleicht auch nicht. Sie gehört zu den ältesten und ist schon vor Jahren getauft worden. Allerdings auf die alte Art: die, die noch schmerzhaft war.
Cinz hat mir nicht weh getan, als ich ihn hinunterschluckte. Und auch danach nicht.

Er lebt jetzt mit mir. Von außen sieht man nichts, ich meine, er nutzt meine Körperöffnungen nicht, um sich mal blicken zu lassen, oder schwimmt hinter die Augen, wie der andere Parasit es tut, der Schafe befällt. Der frisst auch die Hörner hohl, das muss man sich mal vorstellen. Das Horn wird dann irgendwann so dünn und durchsichtig, dass man erkennen kann, wie er sich innendrin bewegt. Und wächst.

Vermutlich könnte Cinz auf einer Ultraschall-Aufnahme entdeckt werden, doch da uns beiden nichts daran liegt, nehme ich an, er würde sich hinter einem Organ verstecken, solange die Untersuchung dauert. Man wird uns jetzt sowieso nicht mehr oft untersuchen. Die Zeiten sind vorbei.
Cinz und ich … für mich ist das ja alles neu. Die anderen winken nur ab, wenn ich auf ihn zu sprechen komme. Aber ich bin so erfüllt von ihm; es kommt mir fast wie ein Frevel vor, seine Existenz geheim zu halten.

Oh, Moment…


Ich muss Schluss machen.