Jen

Als der Parasit begann, mit mir zu sprechen, merkte ich es nicht. Kein Wunder – ich stemme mich gegen die morgendlichen Achtsamkeitsübungen; sie langweilen mich. Weil Jen bei aller Geduld nicht zum Lehrer taugt. Doch es gibt keinen anderen.

Jede Woche lässt er sich von Nita die Fingernägel frisch mit kupferfarbenem Lack bemalen. Mir scheint immer, als wollte er mit dieser Geste seine Vorgängerinnen verhöhnen, denn die lackierten Nägel streichen nur noch mehr heraus, dass er der erste männliche Getaufte ist. Das war vor meiner Zeit. Ich meine, als Jen getauft wurde und sich zusammen mit Kaan an die Spitze setzte. Himmel, warum muss er nur immer so auftrumpfen?
Mit seinen handgenähten Wildlederjacketts und dem Zopf (nicht geflochten, niemals geflochten) wirkt er wie er eine Mischung aus Trapper und Dandy: das muss man erstmal hinkriegen, ohne lächerlich zu erscheinen. Aber Jen ist alles andere als das. Wenn es nach uns ginge, könnte er auch im Schaffell herumlaufen. Jen kommt mit allem durch.
Vorerst. Denn er hat mich angelogen. Bei der wichtigsten Sache überhaupt.

Dass er die Lücke entdeckte, spielt inzwischen sowieso keine Rolle mehr: über kurz oder lang wäre sie von jemandem gefunden worden, oder? Wir könnten auch woandershin gehen, obwohl die meisten von uns davon nichts wissen wollen. Allen voran natürlich Jen: Er behauptet, dass wir weiter draußen keine Überlebenschance haben. Cinz sagt, das sei Unfug.
Jedenfalls bindet uns Jen an die Lücke. Wir sitzen im Kreis und starren auf seine glänzenden Fingerspitzen, wenn er arbeitet.

(Er nennt es tatsächlich “Arbeit”… ! Der Sauhund.)

Im Gegensatz zu der langen Reihe von Frauen, die vor ihm Lehrer waren, wusste bei Jen damals niemand, ob sein Immunsystem Kaan nicht töten würde. So heißt sein Parasit.
Cinz sagt gerade, ich solle dieses Wort nie wieder schreiben.

Ein Gedanke zu „Jen

  1. Kaan ist weiblich, hat die Observation überraschend ergeben.
    Merkwürdig auch, dass Cinz sich gegen die Bezeichnung sträubt.
    Da ist was im Busch…

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