TTag, 18. September 2010. Drei Gespräche.

Welch schöne Woche. Man darf ja eigentlich nicht: unter den eigenen Ansprüchen bleiben. Nur im Grippewahn ist alles erlaubt, auch das neben sich stehen. Das Brett vorm Kopf. Eine Auszeit.
Gestern eine Vertraute: kann ich demnächst mal ins Atelier kommen? Ich möchte eine der neuen Zeichnungen haben. Ich: nein, Dir verkauf’ ich keine. Sie: ich hatte mir das so gedacht: im Austausch für die Zeichnung bekommst Du eine Woche an einem Strand Deiner Wahl.
„Urlaub?“ (Ich.)
Sie: nein. Menschen wie Du machen keinen Urlaub, sie nehmen eine Auszeit.

Ein anderes Gespräch.
Man liest Ihre Texte lieber als meine, schreibt er. Das einfache an ihnen. Das private.
Stimmt nicht, schreibe ich zurück, Sie haben mehr Leser als ich, sie kommentieren bei Ihnen nur nicht unbefangen, die Hemmschwelle ist höher. Man will sich nicht angreifbar machen. Bei mir auf TT stellt sich die Frage erst gar nicht.
Er: … ?
Je virtuoser der Text, desto größer die Hemmung, affektiv zu reagieren, schreibe ich. Ich repräsentiere nicht. Meine Aussagen zielen nicht auf Allgemeingültigkeit ab; das macht die Aneignung leichter. Mit dem, was ich zeige, können sich viele identifizieren. An Ihnen arbeitet man sich eher ab.
Er: Stimmt.

Eine dritte Stimme:
„In meinem Alter zieht man sich nicht mehr aus. Man legt ab.“
Das ist die mit dem meisten Humor.

15:29
rring:
“Soll ich ihn ausschneiden und rahmen?”
“Was denn??”
“Den Artikel, der heute über Dich in der FAZ steht. Frankfurter Gesichter.”
“Wie ist er denn? Lies vor, lies vor!!”

TTag, 16. September 2010. Sehr geehrter Paulus Böhmer.

Guten Morgen. Paulus Böhmer steigt eben in den Zug nach Hannover, um am Nachmittag den Hölty Preis entgegenzunehmen: die höchstdotierte Auszeichnung, die hierzulande für Lyrik vergeben wird. Ich. bewundere. sein. Werk. Vor einigen Jahren raffte ich mal meinen ganzen Mut, schrieb eine lange Geschichte über ihn. Eine Art Anverwandlung. Doch dann passierte etwas, das mir, seitdem ich am Computer arbeite, vielleicht zwei-, höchstens dreimal passiert ist: aus Versehen löschte ich den ganzen Text. Vielleicht besser so. Ein Engerling schreibt über einen Schmetterling: kann man vielleicht drauf verzichten.
Er malt auch, übrigens. Kollagen. Die sind mindestens ebenso irre wie seine Langgedichte. Der Ausschnitt unten ist Teil eines solchen, das sich locker über vierzig Seiten hinzieht. Die sprachliche Schwungmasse ist so gewaltig, dass man sich tief ins Schelf drücken müsste, um nicht weggespült zu werden, da lässt man sich lieber freiwillig mit fortschwemmen.
Wäre gern mitgefahren nach Hannover. Nur, Feierlichkeiten, während derer ständig jemand niest und schnaubt, sind inakzeptabel, nässende Menschen sollten zuhause bleiben.
Schön auch für den Verlag übrigens, der nicht groß ist: die druckfrische Publikation kriegt jetzt bestimmt eine Banderole oder sowas in Sachen Hölty.

Liebe Leser:innen, bin nicht besonders sprachmächtig heute, verzeihen Sie meine mageren Wortketten. Nebenan in Die Dschungel erfahren Sie mehr über den Dichter und seine Geschichte. Und falls Sie im nahenden Herbst mal Lust auf eine fuel injection haben – Böhmer. Man kann das kaufen. Wie erstaunlich, immer wieder: eine Innenwelt einfach kaufen zu können.

19:39
Lieber, geht mir in der Fieberdämmerung grad durch den Kopf, würde ich immer sagen wollen: “Ich war das” als: “Ich war das nicht.” Ja. Auch bei jenen Dingen, auf die ich nicht stolz bin. Ich möchte sie getan haben, lieber, als dass ich sie nicht getan haben würde. (Stimmt das jetzt so mit dem Konjunktiv??) Ich will mich auch lieber entschuldigen, vor mir selbst und anderen, für Dinge, die ich getan, als für jene, die ich versäumt habe.
Das ist jetzt ziemlich vage. Komme darauf zurück, wenn der Kopf entwattetvagt ist.

[…]
Auswalzend ergießen sich riesige Flutwellen
in die flachen Gewässer der Schelfe. Die Strömungen
platzen vor Energie. An den Küsten ballen sich die auf =
laufenden Fluten zum Tidenhub von vielen Metern Höhe, Springtiden
und Nipptiden lösen einander ab. Flossengroß jagt Flossenklein.
Wellen, geschmückt mit Ketten aus Götterabraum, Keltenslang,
fallen wie im Spiel übereinander her, verschlingen einander,
speien sich wieder aus, um ihre Taillen windet sich Neptun,
es ist, als schaue sich mein mörderisches Auge
selber an: Ist nur ein Spiel / schon lange her /
weiß keinen Anfang / weiß kein Ende mehr.
Wellen, Wellen trocknen
das unaufhörliche Geplapper Deiner Seele aus, Cherie:
Mein Lippschitz / mein Ohrentroff /
Mein Schlagaderfetzen / mein Blutfuchs
– vielleicht kommt so dereinst das Universum
zum Bewusstsein seiner selbst, Cherie. In Dir. In Dir.
[…]

(aus: “Am Meer”)


Paulus Böhmer
Am Meer. An Land. Bei mir.
Trilogie. ISBN 978-3-941126-06-0 * 148 Seiten
Bestellen bei
Verlag Peter Engstler

TTag, 13. September 2010. Blue box.

Seit drei Tagen steht der blaue Container aus Übersee vor meinem Haus. Ich hab’ nicht mitbekommen, wann er abgestellt wurde, und von wem. Drei Parkplätze hält er belegt, niemand nähert sich ihm. Hm. Was da wohl drin sein mag? Hanjin.com ist ne shipping company aus Übersee, hab’s eben gegoogelt. Aber was ist drin und wird es nicht schlecht werden, wenn nicht bald jemand die Luken öffnet und es rausholt? Ist die Ladung gefährlich? Oder gar … lebendig?
Wär’ glatt ne Schreibübung für meine Seminaristen.

Bin krank. Leg mich wieder ab.

17:39
Eben hat der FAZ Fotograf, der nachher kommen und mich für einen Artikel fotografieren sollte, den Termin verschoben.
“Ich bin krank! Wissen Sie, wie lang’ ich gebraucht habe, mich aus dem Bett zu hiefen und fotografierfähig zu schminken?” grolle ich in den Hörer.
“Tut mir leid, musste eben noch einen Botschafter dazwischen schieben, und nun wird es mir zu spät. Morgen 15 Uhr, passt Ihnen das?”
Jetzt steht bei mir ja nicht jeden Tag ein Fotograf auf der Matte, und auch Artikel über mich in der FAZ sind eher rar. Also. Bleiben Sie professionell, Frau Kiehl. Reißen Sie sich am verdammten Riemen.
“Geht in Ordnung.”
Freundlich. Und klick.
Was tu’ ich jetzt mit dem bemalten Gesicht? Abschminken und wiederunterdieDeckekriechen? Ein Foto machen?
Mal sehen.

19:23
“Ich wirke auf andere immer so, als könne ich Bäume ausreißen, dabei langt’s oft nur für ein Grashälmchen” schreibe ich einer Freundin. Und erzähle das einer anderen vorhin am Telefon.
“Aber Du willst doch g a r nichts ausreißen..” sagt die.
Tja.
Da ist was dran.

TTag, 11. September 2010. Schick.

Ich unterrichte dieses Wochenende in einer Wasserburg, mit Schwänen und allem. Im Ernst. Und die Jeans zwickt, weil ich im Seminarmodus immer so viel Futter brauche.
Grr.
Ansonsten alles paletti.
Muss wieder los : )

20:56
Oje, ich schaff’s nicht, heute auch nur noch eine einzige Zei

02:32
Das Schöne, wenn man um zehn wegen totaler Erschöpfung ins Bett gesunken war: um zwei wacht man wieder auf. Dreht sich ein Weilchen. Klemmt sich die Decke hierhin und dahin. Schlaf wieder ein, Gehirn, Du Dussel. Meine Güte, wird doch nicht schon Morgen sein, mal Licht an machen: zwei Uhr fünfzehn. Fatale Zeit.
Ok, jetz ruhig bleiben. Mach mal Fenster auf, schnief dir die Nase, trink was. Hm, nix zu trinken da. Doch, Wasserhahn. Fremdes Zimmer.
Hm , was machen. Ist noch wer wach? Nebenan dreht sich ein Kollege im Bett, die Wände hier müssen aus Pappe sein. Mords Burg, aber ein Gästehaus mit Wänden aus Pappe. Na gut.
Stille über Borken.
Ja, bin in Borken. Das ist in Westphalen. Es gibt Schwäne im Burgsee, aber auch schwarze Hühnchen en masse. Wer ist noch wach: ah, der lobster. Und Oleg “May” Popov.
Hi.
Draußen, ich hörs grad, singen die Stipendiaten.
Die werden morgen was müde sein..
Ich mag die Nacht hier; nix mit Außenbeleuchtung, das ganze Burggelände rabenfinsterschwarz, leichter organischer Geruch vom Graben. Kühle. Das Federvieh dümpelt schlafend auf dem Wasser, gell.

TTag, 10. September 2010. Ze strategy.

Guten Morgen! Die Seminarsaison geht wieder los. Und mir fiel vor ein paar Tagen in einem Gespräch mit einem Freund auf (nicht zum ersten Mal, geb’ ich zu), dass sich dieser Teil meiner Arbeit nirgendwo im Netz abbildet.
“ich hätte gerne eine site, die neue aufträge im seminarbereich ermöglicht, aber auch meine qualifikation als texterin und redakteurin darstellt. die auf den ersten blick kreativität aus allen rohren feuert, aber gleichzeitig ein professionelles angebot macht” schrieb ich dem Freund,
“ich bin eben beides: künstlerin/autorin und texterin/trainerin. das habe ich selbstdarstellungstechnisch noch nie unter einen hut gebracht und auch nicht bringen wollen.”
“es ist also vorrangig keine handwerkliche oder künstlerische frage, wie Ihre website aussehen könnte…” schrieb er zurück, “es geht dabei um die frage der persönlichen identifikation mit dem werbeauftritt?”
Ja.
Also beginnt es jetzt. Bis Dezember hab’ ich eh’ keine freie Zeit, werd’ aber alles merk-würdige dazu in das große schwarze Schreibtischbuch notieren.
Huch.
Muss los!

TTag, 8. September 2010. Das Manifest reloaded.

»We got the magic. Es kommt immer etwas heraus. Heraus muß es! Es muß. Geschlossene Kreisläufe führen zu immer gleichen Ergebnissen, wir suchen das zu vermeiden, wir rüsten auf, füllen die Depots, wir arbeiten mit Ablegern, wir haben sie: Wir haben die Attitüde.
Genauer, wie wir es sagen, kann es nicht gesagt werden, glasklar sagen wir es, das ist der Job, in diesem Job gibt es keinen Ausschuß, alles ist Material, alles ist gleich fertig. Bravo! Wir applaudieren uns mit großzügiger Gebärde. Wir sind einfach gut, wir springen nicht, wir setzen über, wir docken an, Abgründe sind nicht von Belang, wir sind geschmeidig und intuitiv, Zeit spielt keine Rolle, die Müden sind bald wieder wach. Wenn wir verlieren, geht alles zugrunde. Glauben sie an uns! Eine Bande ist immer erfolgreich. So ist das. Die Unglücklichen sind bald wieder glücklich. Es kann gelingen! Es gelingt, ob im guten oder im schlechten. So lassen wir es angehen. Wir sind das leere Blatt. Wir sind auf alles gefasst.
Wir denken nicht nach, wir denken selbst! Wir huldigen jedem Zwischenfall, absorbieren jegliches Mißgeschick, wir sind rund, wir wachsen auf jedem Niveau, keines gehört uns ganz und keines gehört uns gar nicht. Wir wachsen radial und auf jeder Ebene. Hier sind wir!
Wir vertrauen ohne Verluste, so will es die Praxis. Hinter uns schlurft der Zweifel. Vor uns gibt es nichts. Es kommt. Es kommt heraus. Es muss immer heraus. Drücks raus. Drücks raus raus! Es muss! Wir rüsten auf, wir beschleunigen, wir legen das Tempo vor, wir lassen die Wanderer weit hinter uns, wir überwältigen den Anschein, wir kommen.
Wir arbeiten mit Ablegern, wir denken vegetativ, treiben Luftwurzeln, wir sind das Gewächs, wir sind üppig und schnell, die Praxis verlangt nach uns, wir kommen. Wir integrieren fremde Muster sanft und schmerzlos, geschmeidig, intuitiv, pralles Wachstum, schnelle Umarmungen. Genauer, wie wir es tun, kann es nicht getan werden, gleißendes Licht für rasendes Wachstum. Das Gewächs zuckt und ruckt, drückt, drückt, schneller, gieriger, voll elastisch, kraftvoll und gnadenlos elegant.
Wir haben sie.
Wir haben die Attitüde.
Die Müden sind bald wieder wach, die Unglücklichen bald wieder glücklich.
Jedes Wort an der richtigen Stelle, atemlos, wir reißen sie an uns, die zerbrechlichen Dinger, wir dopen sie, dass ihnen das Blut rausspritzt, heraus muß es, glühend heiß muß es sein, jedes Wort ein Brandeisen, wir dienen, wir hofieren, wir nähren uns, wir sind randvoll, jeder Pulsschlag ein Ereignis, jede Wahl richtig, heraus, es muß immer heraus, wir demütigen den Anschein, wir sagen, wie es ist, ist es so?, ja, so ist es, genau, weiter, wir steigen sofort ein, sofort?, ja, ohne Vorbereitung, ohne Ablenkung, ohne Wissen.
Wir setzen nichts voraus, wir sind ganz und gar uninformiert, doch wir haben überhaupt keine Angst, wir denken vegetativ, treiben rasende Ranken, wir sind gedopt bis zum Rand, fehlerlos, glasklar, eigennützig und schlau.
Nichts kann uns aufhalten.«

Guten Morgen, liebe Leser:innen!

Fünfzehn Jahre liegt dieser Text zurück. Und falls Sie denken sollten, er sei ironisch gemeint gewesen – Pustekuchen. Ich schrie das bei Lesungen in die Menge. Und die Bande gab es tatsächlich. Gibt es heute noch, doch sie hat sich verändert … wie auch nicht? Wir wissen jetzt besser, was Z e i t ist. Wir sind alle tief geworden; die Luftwurzeln haben sich festgemacht, die meisten jedenfalls. Manche von uns sind beschädigt, nein alle, und wir stellen verwundert fest, eben ob dieser Beschädigungen noch inniger geliebt zu werden. Wir pflegen auch eine gewisse Ökonomie des Denkens inzwischen: weniger Wirbel, mehr Manifestationen. Ja, ich glaube, das ist es: wir sind vom Manifest zu den Manifestationen gelangt.
Manchmal allerdings fehlt mir dieser grandiose Irrwitz, mit dem wir früher Behauptungen aufstellten, ohne sie einlösen zu wollen.
Ich werde wohl ein neues Manifest schreiben. Ich weiß, die Dinger genießen keinen guten Ruf, egal. Vielleicht werden’s auch die neuen zehn Gebote, wer weiß?
Gegen das, was uns im Herbst an Verzagen bevorsteht, hilft nur Vermessenheit.
Behaupte ich ; )

12:47
Dr. Schein hat übrigens momentan das denkbar kürzeste Manifest im Angebot. Dafür gibt’s den Wichtel des Tages: