Selbstdarstellungsverweigerungsimpuls, persisch

Die junge Perserin hatte wie alle anderen zunächst einen Umriss ihres Oberkörpers und Gesichts gezeichnet, den sie mit Adjektiven gefüllt hatte,
die ihre Persönlichkeit und Stimmungslage beschreiben sollten.
Wir hängten alle Zeichnungen an die Wand. Irgendwann im Laufe des Tages stellte ich fest, dass sie ihre erste Zeichnung durch die obige ersetzt hatte.
“Wie kam das zustande?”, fragte ich sie.
“Ich war unzufrieden mit meiner Selbstdarstellung”, erwiderte sie. “Also hab’ ich in der Pause meine Freundin angerufen und sie gefragt,
wie sie mich beschreiben würde, und das hat sie gesagt. Dass ich ein Individuum und unbeschreiblich bin.”

Guckst Du hier

Auf dem Bild, das meine aktuelle Gruppe gestern so konzentriert betrachtete, sind Waffen abgebildet: alte Wurfmesser. Es hängt oben im Foyer der Bildungsetage des Weltkulturen Museum. Wenn man nach hinten durchgeht, kommt man zu meinem Freestyle-Schreibzimmer – da verbringen wir den heutigen Tag. Und damit in diesem Zimmer nachher die Lichter an sind, Frühstück auf dem Tisch und die Bleistifte gespitzt (Quatsch, wir schreiben mit Kugelschreibern), muss Madame sich jetzt sputen.

(“Sich sputen” – muss ich mir für meine Wortschatzkiste vormerken. Lustig, wie begeistert fast alle meine Gruppen auf Wortschatztraining reagieren. In der letzten war “grübeln” der Hit, aber sie mögen auch Wörter, die etwas aus der Mode gekommen sind und deshalb größeren Überraschungseffekt versprechen, wenn man sie im Gespräch mit anderen einsetzt)
((… Besonders im Gespräch mit Leuten, die einem vielleicht so ein Wort nicht zugetraut hätten))

Das Päckchen tragen

Gestern kam eines meiner Freundin Liyu aus Paris: Bei ihrem letzten Aufenthalt in China hat sie einen Namensstempel für mich anfertigen lassen, mit dem ich meine Zeichnungen signieren kann. Ich werd’ ihn als Schutzzauber vor grauen Winterfassaden und wunden Herzwänden einsetzen.
Die letzten Monate, mes amis, waren hart. Meine eigene Druckkammer installierte sich mit der unerwarteten Kündigung meines Ateliers, als ich im vergangenen Sommer aus Paris zurückkehrte. Der Druck stieg bei hoher Seminardichte, ohne dass ich’s recht aufhalten konnte, in den Herbst hinein und fand dann üppig Nahrung in einem Herzschmerz. In den ich mich seitdem verbissen habe. (Leider geht es ihm immer noch blendend; vielleicht hab’ ich meine Zähne an der falschen Stelle in ihn geschlagen.)

Die Crux ist, ich erlaube mir in meiner Seminararbeit keinen schwachen Einsatz. Käme mir mies vor. Was zur Folge hat, dass ich für meine Leute reiche, leckere Situationen schaffe, so räudig mein Gemüt sich auch anfühlen mag. Anders geht es nicht, finde ich. Nur, danach falle ich durch die Wohnungstür und innerhalb weniger Stunden fällt mir alles Leuchten aus dem Gesicht. Manchmal sind’s nur Minuten. (Einige von Ihnen kennen das sicher aus eigener Erfahrung.)
Verdammt unheimlich jedenfalls. Mein Körper wendet sich gegen mich, ebenso die Klamotten, ich reiß’ sie mir vom Leibe, die Haut dreht durch und die Augenlider puffen sich so auf, dass ich abends nur noch durch Schlitze gucke. Tja. Madame hat Neurodermitis, die ist erfinderisch und hat einen langen Atem.
Aber meiner ist länger. Keine Angst, ich lebe schon eine Weile so und weiß, wie ich sie besänftigen kann. Ich schreibe Ihnen das auch nur, damit Sie verstehen, warum hier so wenig Text entstanden ist in letzter Zeit. Mir fehlt einfach Kraft. Unter glücklicheren Umständen erzeugt mein Gehirn Überschüsse, die zu Sätzen und Texten werden, momentan aber nicht: Ich hab’ genau so viel Energie, wie meine Seminararbeit braucht. Dann laufe ich noch meine zehn Kilometer täglich und das wars.
Wie weiter?
Keine Ahnung. Im Februar beginnt ein Langzeitprojekt mit einer neuen Kulturstiftung mit vier Terminen pro Monat. Das ist wunderbar und wird mir erlauben, einige der sporadisch übers Jahr hereinflatternden Seminaranfragen abzulehnen. Mehr Planungssicherheit also. Inzwischen arbeite ich stetig für vier Stiftungen, drei Museen und eine städtische Einrichtung. Neu hinzugekommen sind die Schreibworkshops, die ich in eigener Regie anbiete. Der nächste ist übrigens am 21./22. Februar – ich werd’ das rechtzeitig hier annoncieren. Vielleicht sind Sie ja diesmal dabei?
Diese Seite meines Lebens läuft rund. Nun will ich auch die andere Phyllis wieder auf die Beine bringen. Muss dringend ein neues Atelier hier in Frankfurt finden, das nicht viel kosten darf. (Sie ahnen, wie schwer das ist, sonst wär’s längst geschehen)

– Und das wunde Herz? Wird mit jeder Zeichnung einen Tick leichter. Gut, dass Liyu mir den Stempel hat machen lassen… ich glaub’ ja an Talismane.
Eine andere Freundin im Geiste, die ich noch gar nicht vis-à-vis kennen gelernt habe, der ich mich aber aus ganz eigenen Gründen verbunden fühle, schickte mir kürzlich ein Überraschungspäckchen. (Danke noch einmal, liebe E.!)
Unter anderem fand ich einen Film darin, den ich mir gestern Nacht zu Gemüte führte: “Synecdoche New York”. Charlie Kaufman, der Regisseur, hat auch “Being John Malcovich” gedreht – den Film mochte ich sofort. Den neuen auch. Wer’s schräg und komplex mag, unbedingt beide ansehen!

Ah, eben bricht die Sonne durch. Also laufen.

Ach, was ich noch erzählen wollte: Gestern im Seminar stand ich während der Vorleserunden auf und verteilte kleine Eulen, selbstklebende Sticker, wenn mir ein Text besonders gelungen schien. Die Gruppe, zweiundzwanzig Stipendiatinnen mit Migrationsgeschichte, ist eigentlich längst zu erwachsen für solche Kinkerlitzchen, doch die Frauen waren versessen auf die Eulen: Jene, die keine bekommen hatten, versuchten zu argumentieren, warum ihr Text doch eine verdient hätte. Das gab neben Begründungen von meiner Seite nicht wenige Lacher von den anderen. Irgendwann fing die Marokkanerin, die neben mir saß, ein Geschöpf von geradezu unbändigem Temperament (vier Kinder, wohlgemerkt, also keineswegs selbst ein Küken) an, meinem Feedback vorzugreifen. “EULE KOMMT!!!” rief sie übermütig in den Applaus der anderen hinein, nachdem die Lesende geendet hatte. Das gab dann noch mehr Gelächter.
Im Laufe des Tages wurde EULE KOMMT zum Synonym für einen überzeugenden Text.
Ist es nicht großartig, wenn aus einer Gruppendynamik heraus neue Code-Wörter entstehen? Vielleicht nehmen wir dieses als Titel für die öffentliche Lesung, die wir zum Abschluss des Projekts im Weltkulturen Museum machen werden.

Aber jetzt, bevor die Sonne sich wieder verzischt: raus!

Ich grüße Sie herzlich. Und wünsche Ihnen einen unbeschwerten Sonntag.

Phyllis

Druckkammer

Über die Gruppe, mit der ich diese Woche arbeite, hätte ich gerne etwas geschrieben: Fünfzehn junge Leute unter achtzehn, die vor sechs Monaten ins Land gekommen sind. Flüchtlinge. Unbegleitet. Zum Beispiel darüber, wie ich mich zwischendurch auf den Stuhl stelle und stories erzähle, um sie zum Lachen zu bringen. Oder wie manchmal meine Hand auf einer Schulter liegenbleibt, bis die Körperspannung ein wenig nachlässt. Oder über den Moment, wenn sie aus den Einzelinterviews zurückkehren, die wir parallel mit ihnen führen. Wie blass einige von ihnen dann sind. Ich sprech’ sie eine Weile nicht an, bis der Innendruck wieder nachlässt.

Viele von ihnen sprechen schon so gut Deutsch, dass ich’s kaum fassen kann. Zu schreiben ist natürlich noch heikel. Wir spielen, dass wir schreiben können, wir tun so als ob: Das macht die Hand leichter. Erstaunlich, mit wie wenigen Mitteln Sätze entstehen können, auf die einer und eine stolz sein kann.

Muss los.
Würdigen Sie Ihren Tag, liebe Leser:innen.

Langer Atem

Nur Nachrichten gesehen die vergangenen Tage, gelesen, mit Vertrauten gesprochen. Einige Paris-Bilder heruntergeladen, die ich in späteren Schreibseminaren verwenden möchte: dieser Anschlag wird die Jugendlichen, mit denen ich arbeite, in den kommenden Zeiten sicher ebenso beschäftigen wie mich. Was mir immer wieder durch den Kopf geht dieser Tage, sind Ehre und Respekt. Wie viele meiner Kursteilnehmer:innen ihr Selbstbild und ihr Verhältnis zum Außen über diese Begriffe definieren.
Wie bekomme ich als junger Mensch Respekt von anderen, von der Gesellschaft, in der ich lebe, aus welcher Quelle entwicket sich mein Ehrgefühl? Ist die Gestalt der Demokratie eine vertraute für mich, gibt sie mir Kontur, macht es mich stolz, ihr anzugehören?
Ich halte mir die Gesichter der jungen Leute vor Augen, mit denen ich seit Jahren arbeite, ihre immer wiederkehrenden Themen und Fragen. Viele kommen aus Familien, in denen Religiosität selbstverständlich ist. Sie beziehen eine Grundkonstante an Stolz aus ihrer Religion.
Manche relativieren diese Prägung, wenn sie die Erfahrung machen, dass individuelle Leistungen und Einsichten die Lebensperspektive und den Blick der Anderen beeinflussen, andere verlassen sich lieber auf den Schutzmantel, die Werte ihrer Religion, viele versuchen, beides irgendwie unter einen Hut zu bringen. Was die komplizierteste Variante ist. Für die man Verbündete braucht, die nicht alle das Gleiche sagen, damit sich der eigene Meinungsbildungsprozess nicht immer aus den gleichen Wertetöpfen nährt. Es ist nicht selbstverständlich, ein individueller Geist sein zu wollen und für freies Denken einzustehen, man muss den Sog darin spüren. Die Angst annehmen, die immer mitschwingt. An was halte ich fest, was lasse ich los, was will ich neu schaffen?

Guten Morgen.

Frauen, die auf Stühle starren

… So heißt meine neue Zeichnung. Da sie verkorkst ist, kann ich sie nicht einstellen. Später nochmal neu versuchen.
Zunächst aber eine Gruppe Dreizehnjähriger mit den Freuden des Schreibens konfrontieren: lauter junge Fußballer. Kann mir schon vorstellen, wie viel Lust die haben, den Tag mit Stift und Papier zu verbringen…
Sicherheitshalber hat Madame eine Trillerpfeife eingepackt.

(Sind Sie auch noch so slow in diesem neuen Jahr? Ich fühl’ mich wie in Gelatine gepackt … grrrr…)

16:36 Uhr

(Hat geklappt! *lächelt*)

Blick zurück nach vorn

Musste heute Morgen an John Osborne denken, mit seinem >>> Blick zurück im Zorn. Angry young man.
Wäre auch gern häufiger angry. Guter Arbeitsmotor.
Mal sehen. In der Sylvesternacht haben wir alle geschrien. Interessant, der Effekt.
Ich hab’, geschätzte Leser:innen, wirklich schwierige Zeiten durchlebt die letzten Monate.
Die Gestalttherapeuten haben eine Übung, sie heißt “Der leere Stuhl”. Vielleicht probiere ich die mal aus in den nächsten Wochen…