Die unsichtbaren Linien

Manchmal zeichnet man mit dem falschen Ende des Stifts und merkt es tagelang nicht.
Vielleicht ist er zu bescheiden, der Stift.

Vielleicht muss ich all mein Haar abschneiden, um einen einzigen Pinsel herzustellen.
Die blonde, feiste Spitze dieses Pinsels tauchte ich in ein Fass schwarzer Tusche und zöge nur eine einzige Linie über das Blatt.

Und den Tisch.
Und die Wände.
Die Treppe hinunter auf die Straße und immer weiter.

Verstetigungstendenzen

Soeben ein Konzept für ein Schreibseminar eines neuen Auftraggebers entwickelt. Obwohl das mit den Konzepten immer so eine Sache ist – ich muss einer Gruppe immer erst einmal eine Weile gegenüber gesessen haben. Diese ersten Stunden, während derer viel gesprochen, vorgestellt, vor allem aber beobachtet wird, können durchaus dazu führen, dass ich abends meinen Ablaufplan für den kommenden Tag handfest modifiziere.

Ich hab’ das Jahr im Kasten. Meine Aufträge haben sich in den vergangenen Jahren zunehmend “verstetigt”, um mal ein beliebtes Wort aus dem Stiftungssprech zu verwenden. Ich muss nicht neu akquirieren, meine Seminar-Termine stehen lang schon im Kalender, bevor sie aktuell werden. Ich könnte sogar Aufträge ablehnen. Yeij! Da wollte ich hin. Nachdem mich kürzlich auch der letzte meiner langjährigen Arbeitgeber offiziell unter Vertrag genommen hat, kann ich mich, jauchz, locker machen. Und mir überlegen, wo ich als nächstes hin will. Neuer Roman? Ausstellung? Kooperationen? Stipendienbewerbungen? Oder einfach endlich mal regelmäßige Atelierzeiten?
Yep! Regelmäßige Atelierzeiten!
Und Yoga. Hanteln stemmen bekommt mir weiterhin bestens, aber ich brauch’ ein neues Ritual, das lange Weile einziehen lässt. Bloß keine Power-Version! Und keine Musik. Um dafür einen guten Anfang zu finden, geh’ ich im August für eine Woche zum Yogakurs in ein Kloster. Mit Schweigepflicht. Wehe, jemand lacht jetzt!

So. Und nu’ ab ins Atelier. Im Zuge der Verstetigung ; )

Ok, also Emanzipation

[…] “My life goal is to become an adjective,” Leonard said. “People would go around saying, “That was so Bankheadian.” Or, “A little too Bankhedian for my taste.”
“Bankheadian has a ring,” Madeleine said.
“It’s better than Bankheadesque.”
“Or Bankheadish.”
Ish is terrible all around. There’s Joycean, Shakespearean, Faulknerian. But ish? Who is there who’s an ish?”
“Thomas Mannish?”
“Kafkaesque,” Leonard said. “Pynchonesque! See, Pynchon’s already an adjective. Gaddis. What would Gaddis be? Gaddisesque? Gaddis?”
“You can’t really do it with Gaddis,” Madeleine said.
“Yeah,”, Leonard said. “Tough luck for Gaddis. Do you like him?”
“I read a little of The Recognitions,” Madeleine said.
They turned up Planet street, climbing the slope.
“Bellovian,” Leonard said. “It’s extra nice when they change the spelling slightly. Nabokovian already has the v. So does Chekovian. The Russians have it made. Tolstoian! That guy was an adjective waiting to happen.” […]

(Aus: Jeffrey Eugenides “The marriage Plot”, first published in the United States by Farrar, Straus and Giroux, 2011)

Geschätzte Leser:innen!
Ich weiß nicht, ob es Ihnen aufgefallen ist: es scheint, als ob das Privileg, ein Adjektiv zu werden, den männlichen Kollegen vorbehalten wäre. Jedenfalls fiel dem Herrn Eugenides beim Schreiben seines Dialogs keine Schriftstellerin ein.
Das, finde ich, ist ein Skandal. Da besteht dringender Handlungsbedarf! Wir können es noch schaffen! Denn sehen Sie: Im Deutschen gibt es außer Kafka niemanden, der als Adjektiv weiterlebt. Und “kafkaesk”, obgleich sehr hübsch, ist von weiblicher Seite durchaus noch einzuholen: wir brauchen nur zwei Schriftstellerinnen zu adjektivieren und – wupps – liegen wir vorn. Wie wär’s zum Beispiel mit Felicitas Hoppe, um einen Anfang zu machen? Aber “hoppe-esk” klingt nach Kaninchen. Mal seh’n, wer mir noch einfällt.

(Moment, ich geh’ mal eben Bücher gucken…)
(…)

Au wei. Ich hab’ kaum deutsche Autorinnen im Regal. Englische, amerikanische, französische – aber keine deutschsprachigen. Terézia Mora hätte ich noch anzubieten: “moraesk” klingt schon mal ganz gut für den Anfang. Vielleicht fällt Ihnen ja noch eine ein, die wir adjektivieren könnten? Und überlegen Sie bloß nicht lang, ob ihr Name und Werk es “verdient”, auf diese Weise verunsterblicht zu werden – solche Skrupel haben die männlichen Kollegen schließlich auch nicht! Die würden sich sofort zum Adjektiv machen lassen, selbst wenn sie erst ein dünnes Bändchen veröffentlicht hätten! Da können Sie echt von ausgehen, meine Damen.

(Sie sehen, was passiert, nach einem Tag im Bett…?)
(*grinst*)

Bin wohlauf. “The Marriage Plot” ist übrigens ziemlich smart, ohne eitel zu sein. An Ihrer Stelle würd’ ich’s im Original lesen – es ist voller Dialoge und ich weiß nicht, ob die in der Übersetzung ihre Leichtigkeit behalten. Marriage Plot ist ein Entwicklungsroman, der drei Anfang Zwanzigjährige begleitet, die ihren Weg noch nicht gefunden haben – eine Frau und zwei Männer. Dreiecksgeschichte, klar. Ich finde die Charaktere sehr gut gezeichnet – vor allem die Dialoge. Die Handlung ist mir fast wurst.
Ich hab’ den Roman, trotz des gestrigen Lesetags, noch nicht durch – vielleicht schreib’ ich ja später etwas dazu. Obwohl ich vor Buchkritiken zurückscheu’ – doch seitdem mein eigenes auf dem Markt ist und verschiedene Leute >>> darüber geschrieben haben, kann ich mir komischerweise besser vorstellen, das auch gelegentlich selbst zu tun.

Der Tag ist strahlendschön, obwohl Unwetter vorhergesagt waren. Ich soll mich noch schonen, meinte der Doc, der mich operiert hat – und der gestern Abend tatsächlich anrief, um sich nach meinem Befinden zu erkundigen. Ungewöhnlich, oder? Ich kannte den bis gestern gar nicht. Es gibt gewissenhafte, engagierte Leute da draußen. Sollte man nicht vergessen, so als Die-Welt-ist-im-Absturz-begriffen-Nachrichten-Gucker.
Well, well! Plauderei beendet! Ich wünsch’ Ihnen gute Nachrichten! Und falls Ihnen eine Schriftstellerin einfällt, die unbedingt adjektiviert werden sollte … Sie wissen schon. Her damit.

Herzlich, Ihre
Miss TT

Am Rande

Werte Gäste, heute Vormittag musste sich Mme TT einem kleinen Eingriff nebst Vollnarkose unterziehen. Es geht ihr gut, doch nun muss sie ruhen. Das Atelier bleibt geöffnet. Es wäre allerdings, lässt sie ausrichten, sehr schön, wenn sich in ihrer Abwesenheit keine unerquicklichen Dinge zutrügen.
Ich werde ihr jetzt erstmal Tee kochen.

i.A.
Die Concierge

17:58 Uhr
Madame ist eben erwacht. Ich hatte mir die Freiheit genommen, Ihre guten Wünsche einzeln auf Kärtchen zu notieren. Kaum, dass ich Madame der Bequemlichkeit halber ein Kissen in den Rücken gestopft hatte, nahm sie diese vom Tablett und juchzte. Ich selbst hätte ja keine Zeit, einen halben Tag im Bett zu verplempern, muss aber doch feststellen, dass die Schlafkur erfolgreich war: Madame sieht wieder ganz rosig aus.
Sie lässt ihren herzlichen Dank ausrichten. Das sagte sie mit Nachdruck. Und, dass sie morgen wieder selbst schreiben könne.

Ich bot ihr an, sie noch einen weiteren Tag als Gastgeberin zu vertreten, doch sie schüttelte nur den Kopf – Madame ist ja bekanntermaßen eigensinnig. Ich bedaure das – bekam ich doch heute zum ersten Mal selbst öffentlich Post im Netz, was mir sehr gefiel.
Vielleicht tu’ ich ihr morgen etwas Laudanum in den Tee.

i.A.
Die Concierge

Einander verstehen

Für >>> Iris.
>>> Deswegen.
(With special thanks to kittenwishes – Sie weiß schon, warum ; )

21:06
Und weil mich >>> Teresa HZW vor ein paar Tagen in ihrer >>> Geburtstagshommage an einen meiner, ach was, d e n Lieblingssänger meiner jüngeren Jahre erinnerte, >>> hier zum Abend der wunderbare bayerische (Auf)Wecker am Klavier.
Von wegen “einander verstehen”.
Heute schrieb mir jemand andernorts, man müsse sich, wenn möglich, von Ironie lossagen – solch ein Selbstschutz verhindere wirklich “große” Kunst. Ich weiß nicht, ob daran etwas ist. Der Wecker, so viel weiß ich, hat sich nie geschützt. Und obwohl ich nicht mehr so fassungslos bin wie früher, wenn ich mir eines seiner Lieder anhöre: auf seinen Flügel würde ich mich immer noch legen und nach umherfliegenden Schweißtropfen schnappen.

Cees Nooteboom / Mokusei!

“Der Fotograf, ein noch junger Mann Anfang Dreißig von sehr holländischem Aussehen, ging durch eine der belebten Geschäftsstraßen der Ginza.”

(c) 1982 Cees Nooteboom
Titel der Originalausgabe: “Mokusei! een liefdesverhaal”
B.V. Uitgeverij De Arbeiderpers, Amsterdam 1982

(c) der deutschsprachigen Ausgabe Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1990

Zugetragen von >>> Libellenauge