Die Flicht… Montag, 28. Februar 2011.

… rufd. Grrr. Und nix, was ich schnell ma apschreiben könnte.
Bis später, geschätzte Leser:innen.

19:37
Nu endlich im Atelier. Der kleine Heizofen fönt vor sich hin. Der Inder um die Ecke hat plötzlich die Salzgürkchen, die ich seit Jahren nirgendwo mehr bekommen habe, gleich mal fünf Gläser gekauft, also Bauch voller Gurken jetzt und sonst eher wenig Essen hier vorrätig. Alle Stifte gespitzt. Tullamore Dew fast leer. Kette ausgezogen, stört. Von der Wand blinken mich Zeichnungen an, vor allem Entwürfe, ich sitz’ ein wenig bekloppt, so ist das immer, wenn man anfängt. Musik oder keine Musik? Feldman oder Barock? Oder was vom Fass? Mal Fenster öffnen, oh, der schreiende Obstverkäufer hat Feierabend; der flüstert abends nur noch. Ich sollte wohl bald mal irgendwie beginnen. Ach was, ich muss gar nichts. Doch ich habe zwei Titel für neue Zeichnungen (Sie wissen ja, bei mir kommen immer die Titel zuerst) und genug Papier, um ungefähr achzigmal von vorne anfangen zu können.
Ratatataz. Ach, was solls, ich hau’ mich mal zur Seite weg…

Zeruya Shalev / Liebesleben

“Er war nicht mein Vater und nicht meine Mutter, weshalb öffnete er mir dann ihre Haustür, erfüllte mit seinem Körper den schmalen Eingang, die Hand auf der Türklinke, ich begann zurückzuweichen, schaute nach, ob ich mich vielleicht im Stockwerk geirrt hatte, aber das Namensschild beharrte hartnäckig darauf, dass dies ihre Wohnung war, wenigstens war es ihre Wohnung gewesen, und mit leiser Stimme fragte ich, was ist mit meinen Eltern passiert, und er öffnete weit seinen großen Mund, nichts ist ihnen passiert, Ja’are, mein Name rutschte aus seinem Mund wie ein Fisch aus dem Netz, und ich stürzte in die Wohnung, mein Arm streifte seinen kühlen glatten Arm, ich ging an dem leeren Wohnzimmer vorbei, öffnete die verschlossene Tür ihres Schlafzimmers.”

“Liebesleben”, Berliner Taschenbuch Verlags GmbH, 2000
(Original bei Keter Verlag, Jerusalem 1997)

Julio Cortazár / Rayuela

„Auf eine Weise ist dieses Buch viele Bücher, aber es ist vor allem zwei Bücher.“

“Rayuela. Himmel und Hölle”, Suhrkamp, 2010

(Zugetragen von E. A. Richter: “So beginnt ‘Rayuela’ von Julio Cortazár. Dem folgt die Einladung, den Roman auf die ‘übliche Weise’ zu lesen; oder so, wie es in einem Kapitelverzeichnis vorgeschlagen wird. Ich bin dem nur kurz gefolgt und habe mich dann zur linearen Lektüre entschlossen und damit alle Unwägbarkeiten in Kauf genommen, die sich aus dem ersten Satz des ersten Kapitels ergeben: ‘Ob ich die Maga finden würde?’
Rayuela beginnt eigentlich mit einer kreideartigen Skizze von ‘Himmel und Erde’ (im Original: ‘cielo’ und ‘tierra’). Nach dem ‘Wegweiser’ ein Zitat aus ‘Geist der Bibel und Universelle Moral…’ Und viertens: Zitat aus Cesár Brutos ‘Was ich gern sein möchte, wenn ich nicht das wäre, was ich bin’. So weiß man schon nach kurzem, was einem blüht.
Üblicherweise lese ich bei einem Buch, das mich interessiert, den ersten und den letzten Satz. Der letzte steht bei ‘Rayuela’ auf S. 636: ‘Warte, bis ich die Zigarette zuende geraucht habe.’ Hier habe ich es nicht getan, weil ich durch einen Eintrag von Aléa Torik dazu gebracht wurde, es bei Amazon zu bestellen. Ausschlaggebend war dabei dieser Satz: ‘Ohrenbetäubendes Schweigen entstand blitzartig um jede Frau, die dir ähnlich sah, eine geäderte und kristallinische Pause, die schließlich traurig zusammenfiel wie ein nasser Regenschirm, der geschlossen wird.'”)

Gewebeprobe : Freundschaft.

Die Überlegungen der Frauen geben mir Grund. Ich rege mich (den Geist, den Körper) mit Freunden und Gefährten, doch bin ich mit den Frauen. Mit ihnen sein ist unmittelbar; reife Früchte, die schmerzlos im Kopf aufplatzen. Es gibt Erkenntnisse, die drängen sich bis ins Fleisch: so welche sind es, die uns verbinden.
Ah… Zeit. Wir legten uns Seile um, die sind lang schon in die Rinde gewachsen, kein Wunder, dass unsere Taillen nicht mehr wie früher sind. Wenn eine Mutterkatze an mir vorübergeht, werd’ ich weich: Frauen haben Bäuche. (Wir sollten aufhören, sie ständig einzuziehen.) Mit Kindern komme ich nicht zurecht, aber wie sehr ich Mütter mag und ihre Lappen.
Meine Erkenntnisse haben Hand und Fuß, doch über den großen Maßstab verweigere ich weiterhin die Auskunft. Wer da mobil machen will, bittschön, mir fehlt dazu die Gewissheit, und überdies, ich ziehe Leidenschaft dem Ehrgeiz als Antriebsquelle durchaus vor. Bewusst wachsen, beiläufig gewinnen.
Keine Ahnung, wodurch Menschen motiviert sind. Ah… fremd. Wir täuschen uns in Anderen. Ständig. Nur jahrelange Bindung verringert diese Frequenz. Erst, wenn wir aufhören, zueinander passen zu wollen, sind wir troy.
Ruggediguu, Blut ist im Schuh. Sich passend machen. Nichts verpassen wollen. Ich passe. Passt. Pass auf. Passen: heißt auch aussetzen.
Meine Freundinnen spüre ich ständig in der Rinde. (Was war es noch gleich für ein Leben, das wir führen wollten?) Wir haben Verletzungen, auch schwere, doch wir sind zugange, wir vögeln, wir leuchten. Nicht stetig, aber oft. So viel Halt kann’s einzeln gar nicht geben, wie wir brauchen würden, also verknoten wir die Seile und machen ein Kletternetz draus, von Baum zu Baum. Verdammt gut leben. Meistens. Von wegen, alles immer in Bewegung: klar kann man nichts festhalten, doch wer, zum Henker, will sich das schon ständig vergegenwärtigen, durchdrehen würden wir, man will doch wissen, wo jemand ist. Man will doch nicht ständig um neue Landkarten bitten müssen. Freundinnen? Die sind dort, wo ich noch blindlings hinfinden würde, wenn mich jemand zusammengeschlagen hat.

Einige gültige Sachen. Donnerstag, 24. Februar 2011.

Schneeregen. Dann zeichnen wir eben drinnen. Eh besser – mir fiel eben ein, ich besitze gar keines dieser einbeinigen Faltstühlchen mit Lederdreieck mehr, auf denen man so angenehm juckeln kann. Blöd auch, wenn Papier nass wird, Aquarell ist nicht mein Ding.
Bin wintermüde. Einen Finger (linke Hand) würd’ ich hergeben für ein leistungsfähigeres Gehirn, meins fühlt sich an wie ein Kartoffelbowist. Sagen Sie nichts jetzt (!) Noch nicht mal ein Schafgedicht fiel mir ein heute Morgen, es hätte ein politisches werden sollen, wahrscheinlich lag’s daran.
Würde gerne am Samstag zu Schnecks “das letz niest” – Lesungsempfehlung gehen, Tübingen aber zu weit, dafür heute Abend, ja Melusine, zu BenHuRum. Im Netz indes sind wir alle gleich weit entfernt, und kein Parkplatzproblem. Neun Uhr neunundvierzig. Der Tag ruft, doch seine Stimme ist verwässert; ich könnt’ ihn glatt überhören. Tusker schläft den Schlaf des Gerechten, der weiß noch nicht, wie nass wir heute werden.
Ich will hier weg. Kenia? Lamu? „Du kannst da jederzeit wieder hin“ sagt mein englischer Ex am Telefon, „fünfzehn Künstler waren inzwischen dort, die Bibliothek ist eingerichtet, die Computer funktionieren, Internet auch manchmal. Alles blüht gerade.“ Verlockender Gedanke. Meine Geschichte, erzählt er, wird demnächst Teil einer Publikation der Galerie („If you don’t mind?“ „Don’t be silly, I’m so pleased“).
Die Übersetzung meiner Lamu-Erzählung ins Englische war der letzte Auftrag, den mein Vater vor seinem Tod annahm; ich hüte diese handschriftlichen Seiten wie einen Schatz. Eigentlich wollte der alte Mann nur noch Hannes Wader hören. Drei Monate hat er gebraucht; in früheren Zeiten wären es drei Tage gewesen. Ich wünschte ihm so, dass er noch einmal etwas macht, worauf er stolz wäre; dieses Stolzsein war ihm, wie vieles andere, eigentlich längst entglitten. Lebenslang werde ich bedauern, ihn nicht genug gelobt zu haben, als er mir die Seiten in die Hand drückte: dankbar, aber ganz selbstverständlich nahm ich sie entgegen. Als sei er noch der Profi von früher. Ich hab’ ihn wahnsinnig geliebt. Dass er das wusste, macht diesen Patzer erträglich. Fast. Ich habe seine Hände. Männerhände. Kräftig, hoch liegende Adern, Finger und Handrücken gleich lang, nicht elegant. Seinen Siegelring mit dem dunkelgrünen Stein und den roten Punkten trägt sie tagundnacht, den anderen ihre Schwester semioticghosts, drüben in England. Wie heißt dieser Stein noch gleich. Cellini würde das wissen.
Es schneit sich ein.

Chimamanda Ngozi Adichie / Purple Hibiscus

“Things started to fall apart at home when my brother, Jaja, did not go to communion and Papa flung his heavy missal across the room and broke the figurines in the étagère.”

“Purple Hibiscus”, Algonquin Books, First edition, 2003

Diese junge nigerianische Autorin (*1977) entdeckte ich, als ich mich some time ago auf meine erste Reise auf den afrikanischen Kontinent vorbereitete. Ich verschlang ihren Debütroman ebenso wie alle folgenden. Die Frau ist eine erzählerische Naturgewalt; sie zieht einen so in ihr Land, dass man morgens mit rotem Sand zwischen den Zähnen aufwacht.

Kampfschrei ohne Kampf. Mittwoch, 23. Februar 2011

Acryl auf Leinwand, 1,40 x 2,00 m, P. Kiehl 1994

Sie sehen, ich war auch als Studentin schon sehr de-eskalierend unterwegs ; )
Die Arbeit ist Teil einer ganzen Serie von Bildern, die um den Begriff ‘Transformation’ kreisen. (Seit dieses Themenfeld von Perfektionismus/Selbstoptimierung mit “Black Swan” wieder neues Futter bekam, interessierte mich, wann es sich zum ersten Mal in meiner eigenen künstlerischen Arbeit gezeigt hat.)

18:07
Tiere zeichnen. Ich meine, echte. Bewegliche. Ich zeichne eh ständig Tiere. Nähme man die Tiere raus, mein zeichnerisches Werk würde um die Hälfte schrumpfen. Tiere animieren mich; besetzen meine Themen, Tiere zeichne ich, seitdem ich zeichne. Also schon ewig.
Mannomann, hab’ ich Kopfschmerzen.
Morgen gehe ich mit Tusker in den Zoo, zwecks faunischer Zeichenstudien. Ein Wettbewerb. Adlerauge, sei wachsam, der Mann hat einen magischen Strich. Bloß nicht hinsehen. Konzentrier’ Dich auf’s eigene Papier, Phyllis. Nimm’ den Edding mit. Frische Eddings gekauft. Und Fineliner. Bleistifte, klar, sind aber reichlich vorhanden. Kein Radiergummi, Radieren gilt nicht. Die Regeln: eins, es wird nicht radiert, zwei, nicht länger als fünfzehn Minuten pro Tier. Ah. Zoo. Ein zwiespältiger Ort.
Ewig nicht mehr gemacht: Studien. Bin gespannt, rasend sogar, mir kribbelt’s jetzt schon in den Fingerspitzen.
Heute doppelte Lohnarbeit, damit ich morgen freie Bahn habe. Sitze und brüte über projektbezogenen Fragen, mehrere schriftliche Interviews für die Stiftung sind zu führen. Halbe Strecke – wird ein langer Abend. Aber morgen, morgen…
“Weitermachen”, faucht die Schnippschnappstimme in meinem Kopf, “sonst kannst Du das knicken.”
Aye, aye.

Salam. Dienstag, 22. Februar 2011

Wir sehen uns viel zu selten, obwohl uns nur ein paar Kilometer Luftlinie trennen; sie, die sich seit Jahren in ihr Schreiben vergräbt, wenn sie nicht gerade Vorträge hält oder ausstellt (sie ist zudem auch bildende Künstlerin, keineswegs eine unbekannte), ich, die ich zunehmend eigenbrötlerischer werde im Privaten. Mag ein Ausgleich sein zu den Seminarbühnen bei mir.
Doch während wir nebeneinander an meinem Schreibtisch an ihrem Manuskript arbeiten wird mir klar, wie sehr sie mir gefehlt hat, meine orientalische Freundin. In den Jahren, da wir zusammen Kunst studierten, mit Freunden zusammen ein Ausstellungshaus führten und über ihren politischen Texten brüteten, waren unsere Begegnungen so selbstverständlich, nie wären wir darauf gekommen, dass sich das ändern könnte. Wir waren ein Doppelpack. Ich möchte über Freundschaft schreiben.
Muss aber erst einmal meine Unterlagen zusammensuchen und dann raus; eine Gruppe junger Männer und Frauen wartet auf mich, erst seit zwei Jahren in Deutschland, größtenteils aus Afghanistan und Sri Lanka stammend. Biographisches Schreiben. Kein leichtfüßiges Unterfangen, die haben Dinge erlebt, für die eine frisch gelernte Sprache ein höchst unzulängliches Gefäß ist. Und trotzdem: sie wollen es.
Bis später, geschätzte Leser:innen.

18:40
Gesetzt den Fall, ich würde bis zum Frühlingsanfang in Hibernation gehen wollen, an wen müsste ich mich da wenden?

20:39
zzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzz………..

22:26
Ach, übrigens, die Kommentarfunktion ist wieder flott für alle.