Achter Brief. L. verliert ihr Zeichen.

K****, 20. Juni 2010

Verehrter Dr. Sago,

es ist getan. Ich muss mich ständig daran hindern, mit den Fingerspitzen die Stelle zu betasten. Wie konnten Sie mich in dieser wilden, fremden Stadt nur solch einem Risiko aussetzen? Warum gerade hier? Ich war glücklich hier, etwa nicht? Ich war übermütig wie lange nicht mehr! (Was, wenn sich die Wunde infiziert?) Jeder Schritt kostet mich Überwindung.
Doch verzeihen Sie, ich weiß es ja besser…
Mir schwirrt der Kopf. Auch heute noch (wie jede Stunde, seit ich sie zum ersten Mal las) steht mir jene letzte Zeile ihrer Weisung vor Augen; ich ertappe mich dabei, dass ich sie murmelnd wiederhole wie ein Kind.
(…)
(…..)
Oh – ich war kurz eingenickt.
Als mir gestern das Billet des hiesigen Instituts zugestellt wurde, ahnte ich erstmals, wie weit Ihr Einfluss reicht… bis direkt auf die östliche Seite der kleinen Insel, direkt, wenn man die Brücke überquert. Wundern Sie sich nicht – nach allem, was dort mit mir geschah, musste ich trotz der Schmerzen einfach noch einmal zurück: ich ließ mich heute gleich nach der Siesta über die Brücke fahren. Da lag das Gebäude, am linken Ufer des N**, wie in Schlummer: niemand ging ein oder aus, die mit Intarsien geschmückten Flügel des Tores waren fest verschlossen. Nur eine kurze Zeile auf dem Messingschild rechts am Eingang wies darauf hin, das Institut sei dem Ihren verbunden.
Ich stieg aus dem Wagen, läutete, vernahm ein leises Surren: aufblickend sah ich eine oben auf der Mauer befestigte Kamera, die sich in meine Richtung drehte. Die Gegensprechanlage knackte.
„Yes?“ fragte eine Stimme.
„I had an appointment with Dr. G…. j yesterday. Is he in?“ fragte ich.
„He’ll be back tonight“ erwiderte die Dame. „Would you like to leave a message?“
„No, I’ll call in later, thank you“, sagte ich und wandte mich zurück zum Wagen.
„Back…?“ fragte der Fahrer nur knapp, als ich wieder zustieg.
„Please“ erwiderte ich. Und schlief ein. Überhaupt schlafe ich seitdem, als hätte mich die Malaria befallen! (Ich weiß schon, die Müdigkeit kommt von diesem Mittel. Stellen Sie sich vor, die Tabletten sehen aus wie die Knallerbsen, mit denen wir als Kinder spielten. In buntes (!) Silberpapier eingewickelt! Trotz meines Zustandes musste ich fast lachen, als ich sie das erste Mal sah. Die nächsten Tage muss ich jeden Morgen zwei davon einnehmen)
Warum eigentlich schreibe ich, man wird Ihnen längst Bericht erstattet haben.
Ach, Doktor! Sind Sie zufrieden?
Ich habe nichts gespürt. Nicht das geringste, erst hinterher, als ich viele Stunden später im Institut erwachte. Man reichte mir Wasser und die erste jener erbsenförmigen Tabletten und hieß mich aufstehen. Am Arm der Krankenschwester gelangen mir ein paar Schritte, dennoch war ich sehr erleichtert, als sie mich zum Bett zurück führte: trotz der dicken Binde spürte ich, wie die Stelle ein wenig blutete. (Viel weniger als damals, als er es mir anbringen ließ)
Die Krankenschwester schenkte mir ein Lächeln.
„Any pain?“ fragte sie.
Ich schüttelte den Kopf.
„You may stay here as long as you want“ sagte sie. „Your body still needs rest.“
„Will I see the surgeon before I leave?“ fragte ich.
„I don’t think so. Just follow the instructions. The wound will close and heal in a couple of days and you’ll be as good as new.“
Sie reichte mir ein Blatt Papier.
So gut wie neu! Diese einfache Person. Als ob ich das jemals gewollt hätte!
(Habe ich?)
Wie bloß sich mein Körper anfühlt ohne das Zeichen. Ich glaube es noch nicht. Dass es fort ist! Jahre trug ich es.
Ich hätte nicht schreiben dürfen, dass ich nicht esse, nicht wahr, das war es doch? Dass ich auch hier nicht esse? Da beschlossen Sie, es sei an der Zeit.
Was wird nun, Doktor? Ich bin viel zu ruhig. Das müssen die Tropfen sein. Seit ich zurück gebracht wurde, steht das kleine Fläschchen immer auf dem Tablett neben meiner Ta
…sse
Ich muss schließen die Müdigkeit…
Sind Sie zufrieden?
Lächeln Sie!
Es ist gean
t

später…

Ihre neue (?)
L.

TTag, 19. Juni 2010. Zeit.

Draußen wird Fussball gespielt, jemand genießt den Besitz seiner Trillerpfeife. Es hat geregnet nachts, die Geräusche klingen noch ganz nass, Feuchtigkeit prickelt ins Zimmer. Ich sitze im langen Kleid am offenen Fenster: noch ist nicht Zeit.
Ein Anflug von Lethargie. Nichts dirigieren, nichts moderieren, der eigenen Bezeichnungen müde. Erst, wenn das erste Lächeln in meinem Kopf landet, werde ich mich umkleiden und hinaus gehen.

TTag, 18. Juni 2010. Isometrie.

Gehen Sie mir weg mit mathematischen Räumen: ich spreche von Übungen. Mixen Sie dabei Yoga und isometrisches. Am besten, Sie legen sich erstmal hin. Sitzen geht auch, oder stehen. Im Prinzip geht es darum, Körperteile gegeneinander zu pressen und so in Spannung zu verharren.
Mittels der Muskeln versucht man, … Kontraktion und Dekon… ach, wie das geht, können Sie überall nachlesen. Wahrscheinlich wissen Sie es längst.
Mich persönlich interessiert bei all dem ja eigentlich nur das ankommen: im Körper. Einen inwendigen Dialog mit ihm zu beginnen. Die Grundempfindungen, die er so nach oben tickert, Hunger, Schmerz, Lust, Müdigkeit und so weiter – das sind keine Gespräche, sondern Impulse. Auf die erfahrungsgemäß so schnell wie irgend möglich reagiert werden muss. Ein richtiges Gespräch geht anders, oder? Wer von Ihnen über mehr als ein Paar Lippen verfügt, weiß, wovon ich spreche. Lieber Hans1962, ich muss Ihnen sagen, bei aller Fachkenntnis, die Ihr Kommentar kürzlich offenbaren wollte: rein anatomisch gibt es da eklatante Unterschiede in den Übungsabläufen.

Kühl heute hier, wer hätte das gedacht. Trotzdem, der diskrete Charme der Isometrie entfaltet sich unbekleidet am besten, das Frösteln vergeht nach zehn Minuten, ach, was sage ich, nach fünf.
Guten Morgen, liebe Leser!
Heute sprechen wir mal nicht übers älter werden, ok? Kein Wort! Ich zumindest habe beschlossen, bis zum Abend hin jünger zu werden. Hab auch schon so eine Ahnung, wie ich das anstellen werde.
Bis später.

20:22
L. ist sehr erschöpft. Nur stockend flüstert sie mir zu, was sich seit vorvorgestern ereignet hat, manchmal verstummt sie mitten im Satz. Ich sitze mit meinem Laptop auf dem Divan, lasse sie reden und schreibe mit. Das wird noch etwas dauern.

TTag, 17. Juni 2010. Trolle und Parlamentarier

Nichts, was ich gestern neben dem kleinen Tagesjournaleintrag schrieb, wurde vom inneren Parlament durchgewunken: ich konnte überarbeiten, wie ich wollte, die Abgeordneten da oben waren schlechter Stimmung. Irgendwann ließ ich’s – es gibt solche Tage, da hilft gar nichts, außer, das Medium zu wechseln.
Da nun L.’s Nachbar ständig betet, dachte ich mir, das könnte ich doch auch mal üben. Tat’s. Und wurde des nächtens (wie L. sagen würde) dafür von Trollen heimgesucht, die offenbar enttäuscht waren: zu wenig Bein, zu wenig Erotik, tönte die Klage, try harder. Sogar Janis Joplin wurde bemüht, die Ärmste! Ich möchte sehr bezweifeln, dass Strapse zu ihrem erotischen Repertoire zählten. Aber egal. Der Troll (denn es ist natürlich nur einer) soll sich abregen, nicht alle meine Fotos sind zum Animieren geeignet. Im übrigen schätze ich seine schnelle Intelligenz in klaren Phasen – er kifft aber zuviel, wie mir scheint, dann wird sie schlierig.

Guten Morgen, liebe Leser. rinnen!
Bin sehr neugierig, was der Tag bringt. Werde versuchen, die Abgeordneten allesamt zu knebeln heute! Durchregieren!

21:10
L. ist mir entwischt. Sie hat mir nur eine kurze, auf das Papierchen eines Zuckerstücks notierte Nachricht hinterlassen, dass sie in Kürze Bericht erstatten wird.
Grrr.

TTag, 16. Juni 2010.

Guten Morgen! Erstmal die Yogastunde.

14:16
So. Stiftungsarbeit erledigt. Ich muss ins Freie! Es ist so verflixt schön hier. Erinnern Sie mich daran, dass ich heute Abend über den diskreten Charme der Isometrie schreiben will. Und – natürlich – ist nachzusehen, was L. wieder angestellt hat.

TTag, 15. Juni 2010. Anmaßungen.

Guten Morgen, werte Leser. Bei mir ist’s gerade fast zwei Nachts – kann also sein, ich schlafe noch, während Sie jetzt hier vorbei schauen.
Ich muss sagen, L. hat mich ziemlich in Atem gehalten. Diese Frau! Ich weiß nicht, was ich von ihr halten soll. Doch sie braucht mein Wohlwollen nicht, das wird mir immer klarer.
Gut, dass mein Nachbar offenbar ebenfalls eine Nachteule ist: er hat mir die letzten Stunden freundlicherweise arabischen HipHop durch die geöffneten Fenster serviert. (Ich muss allerdings zugeben, dass ich erst jetzt, nachdem ich L.’s letzten Brief eingestellt habe, wirklich darauf aufmerksam werde)

Sie ahnen nicht, wie verlockend mein Bett aussieht gerade.
Unfug. Natürlich ahnen Sie es.
Bis später.

09:41 Uhr
eben überlege ich kurz, wie ich auf ‘Anmaßungen’ im Titel kam. Weil jedes Schreiben eine ist. Schreiben kennt viele An….’s: Aneignung, Anverwandlung, Anreicherung. (‘Augmented reality’ las ich kürzlich, sei der schicke Ausdruck dafür)
Heute werde ich zeichnen. L. braucht einen Ebenenwechsel, um sich neu zu sammeln.

Siebter Brief. Nicht jeder Schemel ist ein Königreich.

K****, 15. Juni 2010, des nächtens

Sie belieben zu scherzen, verehrter Dr. Sago,

– nicht wahr? Ich schwöre, von diesem Rabauken, der sich Regisseur schimpfte, hab’ ich nach meiner ersten Begegnung nie wieder gehört. Wie auch? Das Mensch weiß doch gar nicht, wo ich abgestiegen bin. Überhaupt, Ihr Zweifel an mir!

Sie fragen nach meinen blauen Flecken.
Ich will Ihnen nicht verhehlen, dass ich ein wenig selbst Schuld daran trage. (Nicht genug, dass meine Kniescheiben noch von vorgestern mit Schorf bedeckt sind wie bei einer Sechsjährigen. Peinlich bei den kurzen Röcken, die ich trage)
Nun denn! Ich pflege auf meinen Streifzügen durch die Stadt wenig darauf zu achten, welche Stadtviertel für Personen meiner Herkunft und Abstammung geeignet sind – und welche nicht. Hatten Sie mir nicht selbst geraten, ich solle mich ins Getümmel werfen? Was haben Sie sich nur dabei gedacht? Und, weit wichtiger noch, worauf wollten Sie hinaus? Ihr Vorschlag, der sich, je länger ich ihm nachsinne, wie eine Anordnung liest, der weitere folgen könnten – ich ahne! Schon will mir die Vorstellungskraft davon galoppieren…

Doch zurück: ich war nächtens unterwegs (Sie kennen mich, ich ruhe gerne über Tage und das hiesige Kima begünstigt diese Vorliebe), ausgestattet mit meiner Perücke No 2., der schwarzlockigen, von der Sie immer missbilligend behaupten, sie mache ein Zigeunerweib aus mir. Darüber ein Schleier gleicher Farbe.
Oh doch, Sie lesen richtig! Ein wenig Rücksicht auf Sitten und Gebräuche muss sein – bei allem Freigeist, dem zu frönen ich mir gelegentlich erlaube. Auch der Rock: ab achzehn Uhr bodenlang.
Jetzt lächeln Sie wieder, ich weiß es genau!
Nun? Denken Sie sich schon, was geschah in dieser Nacht? Noch nicht?

Sehen Sie mich vor sich: ich sitze, es wird bald Mitternacht sein, erschöpft am Rande eines überdachten Basars, mitten in einem der vielen Stadtteile von K****, fragen Sie nicht, welchem. Eben habe ich beschlossen, mir in Kürze ein Taxi rufen zu lassen. Ein freundlich wirkender Mann, der nahbei einen Stand mit frisch gepresstem Granatapfelsaft betreibt, scheint mir zur Ausführung dieses kleinen Dienstes geeignet – insbesondere, als ich ihm einen großzügigen Obulus überließ. (Ich war zu müde, das Kleingeld wieder einzupacken.)
Ich trinke meinen Saft. Die Nacht scheint mir hold wie eine frisch vermählte Landjungfer, trotz des emsigen Treibens, das um mich herum auch zu dieser späten Stunde seinen Lauf nimmt.
Sehen Sie mich vor sich?
Ich falle nicht weiter auf. Das Haar unter dem Schleier verborgen, das lange Gewand, meine dunklen, kajalumrandeten Augen… ich falle nicht auf. Glaube ich. Insbesondere, als meine Füße auch ein Paar jener schlichten Pantoletten aus Satin zieren, die alle Frauen hier tragen, und zwar – aufgemerkt! eine Nummer kleiner, als der Größe meiner Füße angemessen wäre. Alle einheimischen Frauen dieser Stadt tragen zu kleine Schuhe. Lachen Sie nur! Es ist die Wahrheit.
Ich sitze friedlich und unbehelligt auf meinem Schemel, als eine junge Frau in mein Blickfeld gerät, offensichtlich nicht von hier stammend; ich tippe auf das vereinigte Königreich. (Ihr Teint ist makellos, wenn auch leicht gerötet). Nachdem sie am Rande der Handelszone ein wenig herumgestöbert hat, überkommt sie wohl der Durst, denn sie eilt zielstrebig auf meinen Mann mit dem Pampelmusen Granatapfelsaft zu. Sie fragt. Zahlt. Trinkt. Und tritt (mein Blick ruht auf ihr) plötzlich an mich heran.

Und da reitet mich doch plötzlich der Teufel, Doktor!!
Ich frage sie in vermeintlich gebrochenem Englisch, ob ich ihr aus der Hand lesen solle?
„How much?“ fragt die Dame, ihren Wortschatz meiner geringen Beherrschung ihrer Muttersprache anpassend.
„One hundred *****“ entgegne ich aufs geradewohl, „very cheap!“
(Ich wieherte innerlich vor Lachen, Doktor, Sie werden es sich denken!)
„Oh, please, yes!“ haucht die Engländerin, sinkt schwer neben mir nieder, den Becher beiseite stellend, und streckt mir ihr fleischiges Händchen entgegen. Welches ich ernst in meine linke nehme, während ich mit dem Zeigefinger der rechten ein paar Linien entlang fahre.

Ich kürze ab: Sie wissen aus leidiger Erfahrung, wie gut ich fabulieren kann… am Ende jedenfalls reicht mir die beglückte Dame nicht hundert, sondern zweihundert ***** auf die Hand. Vor aller Augen.
Das nun hatte ich nicht bedacht.
Denn da sind die Weiber gleichen Gewerbes, derer ich erst jetzt gewahr werde, als sie -fast synchron- von ihren verstreuten Arbeitsplätzen aufspringen. Entschlossen drängen sie mir und meiner ersten (einzigen!) Kundin entgegen – ich habe, vor ihren Augen, in ihrem Revier ein Geschäft abgewickelt, das mir nicht zustand.
„Go! Quickly!“ dränge ich die Britin, schiebe sie von mir.
„What’s the matter?“
„Trouble, maybe fight“ raunze ich. „Go away!“
Kopfschüttend entfernt sie sich. Während ich mich innerlich wappne.
Und den heimischen Damen zuwende.

Sie ersparen mir, den Ausgang dieser ungleichen Begegnung zu schildern, nicht wahr?
Ich bin recht müde vom Schreiben, auch habe ich Ihre Aufmerksamkeit heute über Gebühr beansprucht. Doch lassen Sie mich noch anfügen, dass ich alle Blessuren der letzten Tage mit Stolz trage! Sie wären nicht der Mann, für den ich Sie halte, wenn Sie nicht wüssten, warum…

Ah… der Nachbar betet wieder.
Ich gehe zu Bett. Jedoch nicht, ohne zuvor einen innigen Gedanken zu entsenden…
als die Ihnen herzlich verbundene
L.