Der berüchtigte freie Wille

“Es gibt keinen Masterplan”, sage ich zu einem Freund. “Niemand klopft dir auf die Schulter, wenn du diese Welt verlässt und sagt, bravo, du hast meinen Erwartungen entsprochen, jetzt sollst du dafür belohnt werden.”
Die Kunst ist, herauszufinden, was man von sich erwartet. Mit der Erfindung des Selbst schafft man sich seine eigene Realität. Niemand kann einem das abnehmen. Niemand kann einem sagen, wo man eigentlich hingehört. Wo man eigentlich stehen müsste:
In der Gesellschaft. Auf der Erfolgsleiter. Wo auch immer.
“Du bist deinem Talent etwas schuldig”, insistiert der Freund.
“Stimmt.”
“Du musst danach streben, Spuren in der Welt zu hinterlassen.”
“Tue ich doch.”
“Nicht genug!”
“Nein, nicht genug.”

Es ist so, dass er mir, an einem wichtigen Punkt in meiner Geschichte, noch einmal bewusst gemacht hat, dass es etwas zu wollen gilt. Man muss einen Willen entwickeln. Bei mir ist es, als habe sich dort, wo bei anderen Leuten der Willen sitzt, eine Art Phantom eingerichtet, ein flüchtiges Wesen, das sich gerne unsichtbar macht und im obskuren herumtreibt. Ich weiß nie, wo er sich gerade aufhält, mein Willen, deswegen ist es auch so schwer, mich auf ihn zu verlassen.
Ich glaube, ich muss ihn langsam mal an die Kandare nehmen. Ihn ausmachen, fixieren und mit fluoreszierender Farbe ansprühen, damit er sichtbar bleibt, auch Nachts.
Er wird sich wehren! Er wird sagen, du hast mich doch immer streifen lassen, warum jetzt nicht mehr.
Ich brauch dich, werde ich sagen.
Wofür? wird er fragen.
Du musst mal deinen verdammten Pflichten nachkommen, werde ich erwidern. Du spielst dich auf wie ein Teenager. Du lässt es zu, dass ich Sachen anfange und nicht zu Ende bringe, dass mich der Zufall umeinander wirft, dass ich mich von Leuten beeindrucken lasse, die mir nichts voraus haben als das: Dass sie einen Willen haben, während der meinige herumstreunt wie ein Fohlen.

Fixe Idee

Kommt mir vor, als hätte ich schon immer vor dem Rechner gesessen. Die letzten zehn Jahre ganz bestimmt. Wie eigenartig. Ich sollte mehr raus, einfache Sachen machen. Vor meinem Fenster ist eine enorme Baustelle, da ackern sie von morgens sieben bis abends. Ich könnte über die Straße laufen, mich in den Bagger setzen und ein paar Balkone von den Fassaden kratzen. Oder mit dem Schlauch, der aus der Zementmischmaschine ragt, die hässliche Grillhütte auf dem Hof vom Nachbarhaus ausgießen. Heute, ich geb’s offen zu, ist mir nach etwas ganz und gar unkonstruktivem.
Ob ich den Arbeitern heute Nacht etwas auf ihre Mischmaschine male? Ich sitz’ hier blass und weich in meinem Kubus, mir raucht der Kopf. Draußen scheint hemmungslos die Sonne. Ich glaub’, ich geh’ ins Sportstudio. Schluss mit der Schreiberei. Hat jemand Lust, ein paar Worte zu tippen? Ist ganz leicht. Nur zu. Oder ihr kommt heute Nacht vorbei und helft, die Zementmischmaschine zu bemalen. Einer muss es tun, so quittengelb kann sie nicht bleiben.

Über Nacht

hat das ewige Licht vor dem Foto meines Vaters weiter gebrannt. Ich hatte vergessen, es auszupusten – normalerweise tue ich das, bevor ich schlafen gehe. Ich träume wildes Zeug in diesen Wochen, seitdem er tot ist, die Erfahrung, ihn zu verlieren, hat mein Inneres aufschäumen lassen. Tagsüber regiert die Vernunft, doch mein Unterbewusstsein geht eigene Wege; es wirft mir die Brocken hin, nachts.
Manchmal habe ich das Gefühl, wenn ich mich nur weit genug strecke, die Vorstellung dessen, was ist, bis in seine feinsten Verästelungen in Besitz nehme, spüre ich ihn an den Rändern des Wahrnehmbaren. Sein Tod. Mein Leben. Nur ein paar Atemzüge voneinander entfernt.
Er hat mich immer angezogen, mein Vater. Warum nicht auch jetzt, durch alle Dimensionen hindurch? Existenz endet nicht. Es ist ja nicht er, der verschwunden ist, nur sein Körper hat sich verbraucht. Nichts und niemand geht mit dem Verlust der körperlichen Substanz verloren: Er ist nun wieder dort, wo alles ineinander fließt.
Wir schlüpfen in Fleisch und verlassen es wieder.
Das, was unsere körperliche Erscheinungsform, unsere Gestalt, an Möglichkeiten bietet, ist limitiert: Wie oft glaube ich zu spüren, wie groß der Raum des Wahrnehmbaren sein könnte, wenn der Geist nicht an die Begrenzungen des Körpers, des Gehirns, der neuronalen Pfade gebunden wäre, die sich in seiner Substanz ausprägen. In den Zeiten vor der Geburt und nach dem Tod, in denen wir keinen Körper innehaben, gibt es diese Beschränkungen nicht.
Im Verhältnis dazu sind die achzig oder hundert Jahre Leben in Gestalt ziemlich kurz. Aber das wunderbare, originäre, manifestierende kann man nur als Mensch erledigen. Eben, weil wir uns dann innerhalb der spezifischen Grenzen bewegen, die diese Form mit sich bringt. Wo keine Grenzen mehr sind, kann kein Widerstand entstehen, wo nicht gerungen wird, gibt es keine Entwicklung, kein Wachsen: Als körperlose Energie kann man noch nicht einmal eine Tür aufmachen. Geschweige denn Bücher schreiben, Raumschiffe bauen, Sex haben oder einen Witz erzählen. Das Fleisch limitiert uns; eben darin liegt seine Stärke.

Drittens: Originales Handeln

Wir machen Pläne. Und setzen automatisch voraus, dass es eine Struktur gibt, eine Gegenwart, die unsere Schritte trägt. Dass wir nicht einkrachen. Dass die Karte überschaubar ist. Horizontal.
Unser Bewusstsein ist nämlich faul.
Es arbeitet sehr ökonomisch; es spart Energie. Wer weiß denn, wofür man plötzlich einen Haufen Energie brauchen wird? Da ist es besser, möglichst viel davon in Reserve zu haben, denkt sich das Gehirn. Die Entscheidungen, die keine große Denkleistung erfordern, werden daher täglich und sekündlich automatisch getroffen. Das Bewusstsein hat dafür irgendwann einmal Handlungsmuster, so genannte “Mind Frames” angelegt, auf die wir jederzeit zugreifen können, ohne dass aktives Denken stattfindet. Neunzig Prozent unseres Handelns gehen so vonstatten. Automatisch.
Manche dieser Automatismen sind einfach: Eine Treppe hinuntersteigen. Ein Brot essen. Wir stolpern nicht, wir beißen uns nicht in die Finger. Das ist einfach. Kaum eine Handlung zu nennen, mehr reflexhaft. (Schönes Wort, “reflexhaft”: Man wird von den Reflexen in Haft genommen..) Durchaus nachvollziehbar, dass sich für solche Vorgänge nicht der ganze, mächtige Bewusstseinsapparat einschalten muss.
Komplexere Handlungen sind in bestimmten Regionen unseres Bewusstseins als etwas größere Päckchen abgespeichert, auf die wir ebenfalls jederzeit zugreifen können: Auto fahren. Uns in einer Menschenmenge bewegen. Mit Leuten auskommen. Prioritätenlisten erstellen. Diese Dinge sind schon schwieriger, aber immer noch reichlich automatisiert.
Wir denken nicht, während wir diese Handlungen vollziehen: Wir denken nach. Nicht ohne Grund gibt es diese beiden Bezeichnungen. Nach-denken bedeutet zurück-denken, zeitlich betrachtet. Wir beziehen uns dabei auf etwas, das schon angelegt und markiert ist in uns. Nachdenken bedeutet, gedanklich an einem bestimmten, festgelegten Punkt unserer Landkarte anzusetzen, ihn als gegeben zu akzeptieren, und von diesem Punkt aus Schlussfolgerungen zu ziehen, die zu einem bestimmten Ergebnis führen. Das Ergebnis ist zwar nicht vorherseh-, der Ausgangsspunkt scheint aber lokalisierbar. Wir verorten ihn auf unserer inneren Landkarte, dann marschieren wir los.
Was gibt es noch?
Jene Handlungen – seien sie praktisch oder rein theoretische Gedankengebilde – für die man immer wieder die Wahl hat, ob man automatisiertes Nach-Denken oder bewusstes Denken einsetzt: Kinder verstehen. Eine Vision entwickeln. Einen künstlerischen Akt vollziehen. An einem intensiven geistigen Austausch teilnehmen.
Wer hier innehält und sich weigert, auf automatisierte Denkmuster zuzugreifen, erhebt den Anspruch auf Originalität, aus welchem Grund auch immer. Und damit ent-ortet er sich. Er kann die Landkarte nicht wie gewohnt horizontal benutzen.
Oft ist das ein panikartiger Zustand. Von wegen Inspiration: Man fühlt sich schrecklich verloren, so ohne Markierung. Ohne Markierung kein Anfangspunkt, ohne Anfangspunkt kein Wissen, ohne Wissen kein Impuls, ohne Impuls keine Handlung. So fühlt es sich an. Man kommt nicht mehr von der Stelle.

Das Einzige, was jetzt helfen kann, ist die Vertikale: Das Oben und das Unten. Das Oben, um den Maßstab zu wechseln, um das, was scheinbar ist, außerhalb der gewohnten Perspektive zu betrachten. Das Unten, um jene Prozesse anzusteuern, die zwar unterbewusst, jedoch keineswegs automatisch ablaufen, um aus ihnen Überraschungsmomente zu extrahieren. Beide Richtungen haben keine Endpunkte.

Wie gelangt man in die Vertikale?
Eine Möglichkeit besteht darin, die Existenz von parallelen Wirklichkeiten anzuerkennen: Schicht um Schicht um Schicht, obenwärts und untenwärts, die sich ins Unendliche fortsetzen. In die Breite können sie sich nicht ausdehnen, die parallelen Wirklichkeiten, da laufen schon diese ganzen automatischen Prozesse ab, die Landkarte, die Markierungen.
Wer also in die Vertikale will, muss sich erheben, oder versenken. Und in jenem plötzlich dreidimensionalen Raum die Realitäten durchstreifen, all diejenigen, die, abgelegt aus alten oder zukünftigen Handlungssträngen, aus der Horizontale in die Vertikale übergegangen sind.
Und siehe da: Das ist die Gegenwart.

Zweitens: Die Furcht

Stattdessen stellen wir uns Handlungen eher als Weichenstellungen auf einer inneren Landkarte vor. Falls wir uns überhaupt etwas vorstellen: Massive Selbstreflexion behindert Handeln. Wenn man Pech hat, fabriziert man sich einen Stau auf einer bislang völlig leeren Bewusstseinsautobahn. Was sich da von einer Sekunde auf die andere alles auftürmt! Furcht erregend kann das werden. Manche tendieren deshalb dazu, fast völlig auf Verbildlichung ihrer Denkprozesse zu verzichten. Für die anderen gilt – die Landkarte, die Landschaft, was auch immer, entsteht aus unserer Wahrnehmungsleistung. Man kann links, rechts, geradeaus oder zurück gehen und glauben, es sei immer die gleiche. Wir markieren die Punkte auf der Karte, an denen wir Richtungs-Entscheidungen getroffen haben (oder welche für uns getroffen wurden), mit besonders intensiven Erinnerungen und Bildern. Manchmal gehen wir dorthin zurück, vergegenwärtigen uns, wie es zu einer bestimmten Entscheidung kam. Wir finden den Weg zurück, weil wir ihn markiert haben. Ein Bild. Ein Objekt. Ein Datum.
Auch nach vorne, in die Zukunft projiziert, gilt oft: Ein Bild, ein Objekt, ein Datum. Wir markieren unsere Handlungsstränge nach vorne und nach hinten. So orientieren wir uns. Die Gegenwart? Nehmen wir kaum wahr. Verharren, da doch das Herz ständig weiter schlägt, der Atem eingesogen wird und wieder entweicht, die Lider regelmäßig auf- und nieder klappen? Wie soll das gehen? Wäre das nicht Stasis?
Nur die Toten wissen, was Gegenwart ist. Alle anderen fürchten sie, weil es zu viel schöpferische Energie erfordern würde, sie herzustellen. Und weil sie in ihrer Natur diffus ist: Wir haben keine Möglichkeit, sie zu markieren. Wir können nur nach vorne und nach hinten markieren, Vergangenheit und Zukunft. Also lassen wir sie lieber ganz weg, die Gegenwart. Sie bringt weder Orientierung noch Gewinn. Oder?

Erstens: Die so genannte Wirklichkeit

Als ob es nicht unzählige davon gäbe: Andere Wirklichkeiten. In jeder Sekunde treffen Sie Entscheidungen, wählen eine Art des Handelns und verwerfen eine andere. Doch was geschieht dann mit der Wirklichkeit, in der Sie die andere Entscheidung getroffen hätte? Sie war doch bis eben, kurz vor der Entscheidung, noch ganz präsent. Genauso real. Es gibt subjektiv immer genau so viele Versionen von Wirklichkeit, wie Sie in der Lage sind, sich vorzustellen. Manche unterscheiden sich nur durch Nuancen von Handlung. Andere sind besser differenzierbar: Diejenigen, die durch radikale Entscheidung für oder gegen etwas entstehen. Solche Ja/Nein-Welten werden durch Imagination initiiert, ja und nein stehen sich in diesen Momenten symmetrisch gegenüber. Entscheiden Sie sich für ein Nein, bleibt die Welt, in der Sie Ja gesagt hätten, trotzdem existent, sie tritt nur in den Hintergrund des Bewusstseins.
Gleichberechtigt? Das nicht. Gäbe es keine Hierarchie der Wirklichkeiten, würden sich die abgelehnten nicht fein säuberlich hinter (hinter?) die angenommenen zurückziehen, sondern selbst bewusst daneben weiter existieren, wären Sie ihrer Handlungsfähigkeit beraubt. Wahrscheinlich auch ihrer geistigen Gesundheit.
Wenn es eines gibt, das wir intuitiv verstehen, sind es diese Hierarchien. Und wenn es eines gibt, das wir ständig versuchen, zu vermeiden, ist es die Vorstellung von Gleichzeitigkeit.
Sie scheint uns wohl zu riesig.

Ein kleiner Hölderlin für zwischendurch

(…) Nimm mich, wie ich mich gebe, und denke, daß es besser ist zu sterben, weil man lebte, als zu leben, weil man nie gelebt! Neide die Leidensfreien nicht, die Götzen von Holz, denen nichts mangelt, weil ihre Seele so arm ist, die nichts fragen nach Regen und Sonnenschein, weil sie nichts haben, was der Pflege bedürfte.

Ja! ja! Es ist recht sehr leicht, glücklich, ruhig zu sein mit seichtem Herzen und eingeschränktem Geiste. Gönnen kann mans euch; wer ereifert sich denn, daß die bretterne Scheibe nicht wehklagt, wenn der Pfeil sie trifft, und daß der hohle Topf so dumpf klingt, wenn ihn einer an die Wand wirft?

Nur müßt ihr euch bescheiden, lieben Leute, müßt ja in aller Stille euch wundern, wenn ihr nicht begreift, daß andre nicht auch so glücklich, auch so selbstgenügsam sind, müßt ja euch hüten, eure Weisheit zum Gesetz zu machen, denn das wäre der Welt Ende, wenn man euch gehorchte. (…)

(aus: Hölderlin “Hyperion”)

Du musst

dich um Schönheit bemühen, sagt Sophie zu Ebba, so, wie du bist. Das ist alles. Es geht nicht darum, dick oder dünn zu sein. Es geht allein darum, den Kopf hoch zu tragen und das, was du bist, zu feiern. Dich zu schmücken und kostbar zu machen. Niemand wird das für dich tun, es liegt an dir.
Ich hasse mich aber, sagt Ebba.
Das ist es ja gerade, erwidert Sophie. So wird das nichts. Diejenigen, die sich selbst lieben, werden auch von anderen geliebt.
Und die, die sich hassen?
Den meisten ist es zu mühsam, nach einem versteckten Wert in dir zu suchen, sagt Sophie. Richte dich auf. Benenne deine Schätze. Und zeige sie. Jeden Tag.

unvergessen:

– Jean Painlevé, 1902-1989, Surrealist, Enthusiast und Pionier des Unterwasser-Dokumentarfilms, der das Seepferdchen unsterblich machte.
– Dominique Aury, 1907-1998, die unter falschem Namen die skandalöse „Geschichte der O.“ schrieb und erst vierzig Jahre später eingestand, dass sie es gewesen war. (Gefragt, gab die alte Dame überdies zu, dass auch ihr jetziger Name ein Pseudonym sei)
– Marguerite Duras, 1914-1996, eigensinnige Schriftstellerin, deren Lust an der Provokation Zeit ihres Lebens ungebändigt blieb. „Die meisten Laster sind Tugenden, die sich nicht voll entfalten können.”