@ molosowski: eigentlich

bin ich immer gerne bereit, Auskunft zu geben. Schon gar hochgeschätzten Netzkollegen wie ihm.
Doch die Frage zu meinen Gewohnheiten, Musik betreffend, die mir molosowski auf seinem eigenen Blog Molosowskis Chronik gestern angetragen hat: Sie zwingt mich, zuzugeben, dass ich keine höre. Musik, meine ich.
Die vergangenen Jahre in Kiehl’s Welt waren nur vom leisen Brummen ihrer eigenen Synapsen begleitet. Musik manipüliert (ich lass das so) meine Verfassungen allzusehr. Irgendwann, wenn ich alt und grau bin, werde ich wahrscheinlich wieder zu der klassischen Musik zurückkehren, mit der ich aufgewachsen bin. Bis dahin…

Manchmal indes lasse ich mir vorlesen: Mein letztes Hörbuch war ROR WOLF, “Zwei oder drei Jahre später. Die neunundvierzigste Ausschweifung.”
Sehr zu empfehlen.

Süchtig:

Je länger ich mich mit den „Dschungeln“ Die Dschungel.Anderswelt des Dichters Alban Nikolai Herbst beschäftige, desto versessener bin ich darauf, bereits morgens zu schauen, was sich auf den verschiedenen Ebenen dieses virtuellen Organismus abgespielt hat, während ich noch schlief. Der Mann beginnt seinen Arbeitstag morgens um fünf.
Ich kenne ihn nicht persönlich. (Entgegen anderen virtuellen Entdeckungen, die in mir den Wunsch wecken, einmal auf den realen Menschen zu treffen, will ich ihn auch nicht kennen lernen. In corpore, sozusagen. Zu spannend finde ich es, ihn nicht zu kennen)

Ich habe bislang keines seiner Bücher gelesen: Später einmal. Mein Einstieg in seine Welt begann mit ein paar Geschichten, die ein befreundeter Schriftsteller über ihn erzählte. Seitdem tauche ich regelmäßig in den Dschungeln ab. Unter. Und durch. Dieser Herbst hat mehrere Alter Egos. Viel wichtiger noch: Seine Dschungel markieren und bespielen ein virtuelles Revier, das vorher unsichtbar war. Un-bezeichnet. Inzwischen wuchert es und gewinnt immer mehr Fläche, Bedeutung; man kann dabei zusehen. Die Dschungel sind ein Gesamtkunstwerk, nein, blödes Wort, eher ein Ort, der ein Buch sein könnte, (endlich!) eines, das nie zu Ende gelesen werden kann, weil es sich der gewohnten Vereinnahmung entzieht, während es eine ganz andere erstmals möglich macht.

Nun hat er eine Rubrik „Werkstatt“ eingerichtet, auf der er Texte von Teilnehmern eines literarischen Seminars in Arbeit nimmt, das er kürzlich in Anschluss an eine Poetik-Vorlesung in Heidelberg begonnen hatte: Dieses Seminar wird inzwischen öffentlich abgehalten. In den Dschungeln. Er zieht alles hinein in die Dschungel!
Seitdem drehe ich völlig durch. Die Texte der (anonym bleibenden) Teilnehmer, deren Kommentare untereinander, doch vor allem Herbsts Korrekturen, Vorschläge und Bemerkungen offenbaren mir, was ernsthafte literarische Kritik bedeuten kann: Aufwand. Professionalität. Hingabe. Genauigkeit. Radikalität. Lust an der Leistung eines anderen. Die Magie, die sich aufbaut, wenn jemand sich wirklich, ich meine wirklich, auf das Werk eines anderen einlässt. Der nicht selten schneidende Ernst im Umgang mit diesen Texten, gefolgt von Empathie. Sich selbst als Instanz wahrzunehmen: Das bedarf ständiger Energiezufuhr, eines ständigen sich selbst weiter treibens. Herbst – das ist Spekulation – scheut sich vor keiner Überforderung. Weder sich selbst, noch anderen gegenüber.
Jede der Dschungel-Zeilen zeigt mir, wie isoliert ich in meinem eigenen Schreiben bin. Mein Hunger danach, selbst in solche Prozesse verwickelt zu werden, überrascht mich: Er ist ziemlich wütend, dieser Hunger.

Wie baut man sich ein Alter Ego?

Ein Alter Ego (v. lat. alter für „der andere“, Ego für „ich“) ist ein zweites Ich oder anderes Ich. Der Ausdruck stammt vermutlich aus einem Text Ciceros, in dem er, einer griechischen Redewendung folgend, das Wesen eines Freundes definiert. (Wikipedia)

Schön eigentlich. Doch für mich und in der Psychologie konstituiert sich ein Alter Ego aus einem Dialog, aus einer Stimme im Kopf, die unausgelebte Aspekte meiner Persönlichkeit verkörpert, andere Wertevorstellungen vertritt, zu anderen Schlussfolgerungen kommt als mein Alltags-Selbst. Ein Alter Ego wäre idealerweise alles, was ich nicht bin oder aus irgendwelchen Gründen glaube, nicht sein zu können.

Max Frisch hatte Gantenbein, Eminem hat Slim Shady, Marcel Marceau hatte den Clown Monsieur Bip, um nur einige zu nennen.
Wundert ihr euch, warum ich nur Männer aufliste? Die Alter Egos berühmter Frauen sind definitiv schwerer zu finden. Ich weiß, dass Gertrude Stein eines hatte. Oder war es ihre Lebensgefährtin Alice B. Toklas? Sollte einer von euch Kenntnis von Frauen haben, die ein Alter Ego entwickelt haben, lasst es mich bitte wissen.

Natürlich ist der Umgang mit Pseudonymen heutzutage nichts ungewöhnliches mehr: Viele treiben sich im Netz unter irgendwelchen Namen herum. Doch das sind eben nur Pseudonyme. Einen Kunst-Namen hat man sich doch im Handumdrehen gegeben, dazu gehört nicht viel.
Was mich viel mehr interessiert, sind tatsächlich vom eigenen Selbst abgespaltene, eigenständige Zweit-Persönlichkeiten. Wer dieses Blog mitverfolgt, wird wissen, dass mich diese Vorstellung schon länger umtreibt. Es geht darum, einen unablässigen inneren Dialog, der oft in Ambivalenz und Unschlüssigkeit mündet, in eine spielerische Form zu überführen. Die vielleicht größere Beweglichkeit des Handelns mit sich bringt.
Höre ich jemanden sagen, dass ein Pseudonym doch genau das auch leistet?
Klar.

Für mich hat das aber immer was von verstecken an sich: Ich nenne mich Kiraya, Frau Holle oder Bigmouth und kann im Netz so viel pöbeln, flirten und provozieren, wie ich will. Beliebig oft, unter beliebig vielen Namen.
Und genau diese Beliebigkeit ist es natürlich, die mich langweilt.
Wohingegen ein ausgewachsenes Alter Ego zwar auch einen Namen hat, doch damit erschöpfen sich die Ähnlichkeiten. Es hat – für mich – weit mehr mit einem Prozess zu tun: Man versteckt sich nicht hinter einem Alter Ego, im Gegenteil, man ist stolz darauf, es hervorgebracht zu haben und nun, da es endlich in der Welt ist, gebührt ihm Respekt.

Wie würde meines aussehen?
Ich hab’ so den Verdacht, es wäre männlich. Oder zumindest androgyn. Da fällt mir ein: Früher, als ich noch diese narrativen Outline-Zeichnungen machte, hatte ich, neben anderen, eine Figur namens Leroy Craemer entwickelt, die der Idee eines Alter Ego ziemlich nahe kam. Leroy war ein schmaler nackter Mann, bekleidet nur mit hochhackigen Boots und einer Hasenohrenmütze. Er geriet in unterschiedlichste Situationen, hatte seinen Spaß, sann vor sich hin, die Hasenohren manchmal schlaff und nachdenklich, manchmal aufmerksam aufgerichtet. Was ihn charakterisierte? Ich zeichnete Leroy immer allein, immer nackt (bis auf Stiefel und Mütze) und immer als Voyeur. „Leroy Craemer has nothing to do with it“ hieß eines der Blätter aus der Leroy-Serie, und genau das stellte er dar: Einen freiwillig unbeteiligten Beobachter.
(Komisch, wenn ich so darüber nachdenke, fallen mir mehrere Künstlerkollegen ein, die damals auch ein Faible für Hasenohren hatten. Allen voran Claus. Hi Claus!)

Jetzt, da ich über Leroy schreibe, vermisse ich ihn. Warum eigentlich? Ich mochte ihn mehr als meine anderen Figuren. Trotz seiner Nacktheit war er äußerst diskret. Er schämte sich schnell, doch nur, wenn er innerhalb der Zeichnung zu sehr in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit geriet: Manchmal quälte ich ihn, indem ich ihn exponierte, dann wehrte er sich mit Sätzen, die in einer kindlichen Schrift über seinem Kopf in der Zeichnung auftauchten. Er war sehr genügsam, Leroy. Sehr schmal. Sehr reserviert. Drei Attribute, die man mir beim besten Willen nicht zuschreiben könnte.
Vor ein paar Jahren tauchte Leroy noch einmal als realer Charakter beim Schreiben meines Romans „Fettberg“ auf, doch in den Überarbeitungen des Manuskripts löste er sich langsam aus dem Plot, tupfte nur hier und da noch einmal eine Szene, bis er schließlich ganz aus der Handlung verschwand und wieder zum unsichtbaren Beobachter wurde. Er hat eben seinen eigenen Willen.

Aufsitzen?!

Um mich herum diverse Telefone, Fernbedienungen, der Spiegel, der neue Gibson. Kaffee. Noch kein Kunstlicht – ich will den Tiefnebel, der durchs Fenster dringt, noch ein Weilchen auf mich wirken lassen. Die Birke winkt mit ihren paar übrig gebliebenen Blättchen. Haaalo! Ich winke zurück.
Was für ein Luxus: Selbst bestimmte Zeit an einem schlichten Mittwoch, elf Uhr Vormittags in Deutschland. Die Heizung läuft auf Hochtouren; in der Küche gibt es Hafer, Joghurt und Obst. Ich werd’ mich heute so gut ernähren, dass die Energie nur so losprasselt! Phyllis hat frei! Heute ist ein Milchschnitte-Tag, so einer zum widerstandslosen durchbeißen und mit der Zunge zerdrücken, so schwebend über jeglicher Routine, ich kann alles tun heute, alles! Die Welt mit einer neuen Idee erobern! Eine Sekte gründen! Ein unglaublich waghalsiges neues Kapitel meines Romans schreiben! Verwegen auf einem Drachen meiner Wahl in unbekannte Territorien galoppieren! Ohne Sattel! Mit verbundenen Augen!
Leider liegen meine Finger schlaff auf der Tastatur, kein Geistesblitz, kein Thema gewittert durch die Ganglien.
Das einzige, was mir in den Sinn kommt, ist eine Liste der Dinge, die in den letzten beiden Wochen liegen geblieben sind. Mein inneres Cockpit blinkt wie ein Weihnachtsbaum, rote und gelbe Warnlämpchen, eine Reihe grüner Standbys. Staubmäuse wegsaugen, sagt ein kleines Licht am Rand. Wäsche waschen. Rechnungen schreiben, Korrespondenz, Projektstatus aktualisieren. Später Sport. Den ipod von der Reparatur. Das Bett muss frisch. Blink, blink. Wie pragmatisch kann man eigentlich werden? Arrgh.

ich weiss,

dass ich TT im Moment vernachlässige… ein wenig.
Viel Arbeit. Vor allem Seminare. November ist immer so ein Monat, wo noch einmal alles schneller rollt, bis dann im Dezember die Plätzchenphase beginnt.

Hab’ auch einen Text in Arbeit: “Wie baue ich mir ein Alter Ego” – den werde ich demnächst hier einstellen.
Hat einer von Euch ein Alter Ego??

Aus: “Pattern Recognition” William Gibson 2003

»Natürlich«, sagte er, »haben wir keine Ahnung, wer oder was die Zukunft bevölkern wird. So gesehen haben wir keine Zukunft. Nicht in dem Sinn, wie unsere Großeltern eine hatten oder jedenfalls zu haben glaubten. Eine vorstellbare Zukunft der eigenen Kultur war ein Luxus vergangener Zeiten, als das ›Jetzt‹ noch stabiler und dauerhafter war. Für uns hingegen kann sich alles so jäh und grundsätzlich ändern, daß eine Zukunft wie die unserer Großeltern nicht mehr möglich ist, weil sie nicht genügend ›Jetzt‹ als Grundlage hat. Wir haben keine Zukunft, weil unsere Gegenwart so flüchtig ist … Wir haben nur das Risikomanagement. Den Spin des momentanen Szenarios. Mustererkennung.«

Ist das so?
Nun, zumindest ist es ein großartiges Buch. Wenn ich heute nicht so faul wäre, würde ich sogar schreiben, warum..

Handwarme Schlüssel

In meinem Hinterhof steht eine Birke, ein Gedicht von einem Baum, wenn auch ziemlich schepp. („Schief“ für meine Leser aus dem Norden, tschuldigung, aber sie ist eine durch und durch hessische Birke)
Ihr Stamm wird gestützt von einem in der Mauer verankerten Seil, sonst würde sie mir glatt mit ausgebreiteten Armen ins Zimmer wachsen.
Madames Laub ist, wie sich’s gehört, inzwischen gelb geworden. Sie wirft es in Schüben ab, ich seh’ nie eines direkt fallen, doch nachts füllt sie den feinmaschigen Korb meines Fahrrades, das unter ihr angepflockt ist, mit Blättern und kleinen Zweigen. Nett.

Kann sein, ich hab’ einen religiösen Zug: Ich will immer Absicht erkennen, selbst dort, wo keine ist, schnell bereit zu glauben, dass Dingen und Vorgängen ein eigener Wille… aber was rede ich. Es ist schlichtweg Magie, nach der ich Ausschau halte, besonders im Herbst, wo sich Vegetation und Tiere in die Passivität zurückziehen. Träumen sie? erkundigt sich das Kind. Unsereins fragt das nicht mehr, wir packen die muffig riechende Winterkleidung aus, stellen Wasser auf die Heizung und benutzen mehr Weichspüler.

Ich suche nach Zeichen. Zauberformeln (oh Gott, jetzt hab ich’s gesagt), die Türen in Zusammenhängen sichtbar machen, biegsame, handwarme Schlüssel, mittels derer man sie aufschließen kann. Wie oft schon habe ich auf die Dominanz so genannter „harter“ Tatsachen geschimpft und dafür plädiert, fiktiver Energie mehr Ansehen zu verleihen: Nicht nur abends im Sessel, wenn man sich in die Phantasiewelt eines Autors begibt, sondern im täglichen Leben.

Erfindungen, Rituale, Aufladungen: Sie finden ja durchaus statt, aber auf durchweg niedrigem fiktiven Niveau, so wie das Belegen von Gegenständen mit magischer Bedeutung: Ein Kaffeebecher, der in einer Zeit der Höhenflüge benutzt wurde und somit das Potenzial weiterer Erfolge in sich trägt, ein geheimnisvolles Seitensprung-Kleid, das erwischt werden verhindert, ein Schreibheft von der Sorte, in die damals auch schon Hemingway hineinschrieb. Oft erkennt man seine Rituale noch nicht einmal als solche. Und wenn, geniert man sich ein wenig ob ihrer Banalität.

Wir haben die Produkte der Phantasie im Alltag schon lange entmachtet und zu Konsumkonfetti geschreddert. Jeder kleine Windstoß aus der Welt vermeintlicher Tatsachen treibt sie auseinander. (Was ist nur aus der guten alten Einbildung geworden? Sie führt ein jämmerliches, geschmähtes Dasein als Attribut derer, die mit dem Leben nicht zurechtkommen. Vielleicht müsste man sie neu erfinden)

In meine Seminare hab’ ich eine Aufgabe eingebaut, in der die Teilnehmer sich eine vertrackte Situation aus ihrem gegenwärtigen Leben vor Augen halten sollen. Dann, ohne Logik, Konvention oder Rücksichtnahme auf andere, fordere ich sie auf, sich den ihnen genehmen Ausgang dieser Situation vorzustellen. Im dritten Schritt erfinden und formulieren sie das Ritual, mittels dessen sie die Situation zu ihren eigenen Gunsten wenden. Die Leute lieben diese Aufgabe. Solange sie schön an ihrem Platz bleibt 😉