Wie baut man sich ein Alter Ego?

Ein Alter Ego (v. lat. alter für „der andere“, Ego für „ich“) ist ein zweites Ich oder anderes Ich. Der Ausdruck stammt vermutlich aus einem Text Ciceros, in dem er, einer griechischen Redewendung folgend, das Wesen eines Freundes definiert. (Wikipedia)

Schön eigentlich. Doch für mich und in der Psychologie konstituiert sich ein Alter Ego aus einem Dialog, aus einer Stimme im Kopf, die unausgelebte Aspekte meiner Persönlichkeit verkörpert, andere Wertevorstellungen vertritt, zu anderen Schlussfolgerungen kommt als mein Alltags-Selbst. Ein Alter Ego wäre idealerweise alles, was ich nicht bin oder aus irgendwelchen Gründen glaube, nicht sein zu können.

Max Frisch hatte Gantenbein, Eminem hat Slim Shady, Marcel Marceau hatte den Clown Monsieur Bip, um nur einige zu nennen.
Wundert ihr euch, warum ich nur Männer aufliste? Die Alter Egos berühmter Frauen sind definitiv schwerer zu finden. Ich weiß, dass Gertrude Stein eines hatte. Oder war es ihre Lebensgefährtin Alice B. Toklas? Sollte einer von euch Kenntnis von Frauen haben, die ein Alter Ego entwickelt haben, lasst es mich bitte wissen.

Natürlich ist der Umgang mit Pseudonymen heutzutage nichts ungewöhnliches mehr: Viele treiben sich im Netz unter irgendwelchen Namen herum. Doch das sind eben nur Pseudonyme. Einen Kunst-Namen hat man sich doch im Handumdrehen gegeben, dazu gehört nicht viel.
Was mich viel mehr interessiert, sind tatsächlich vom eigenen Selbst abgespaltene, eigenständige Zweit-Persönlichkeiten. Wer dieses Blog mitverfolgt, wird wissen, dass mich diese Vorstellung schon länger umtreibt. Es geht darum, einen unablässigen inneren Dialog, der oft in Ambivalenz und Unschlüssigkeit mündet, in eine spielerische Form zu überführen. Die vielleicht größere Beweglichkeit des Handelns mit sich bringt.
Höre ich jemanden sagen, dass ein Pseudonym doch genau das auch leistet?
Klar.

Für mich hat das aber immer was von verstecken an sich: Ich nenne mich Kiraya, Frau Holle oder Bigmouth und kann im Netz so viel pöbeln, flirten und provozieren, wie ich will. Beliebig oft, unter beliebig vielen Namen.
Und genau diese Beliebigkeit ist es natürlich, die mich langweilt.
Wohingegen ein ausgewachsenes Alter Ego zwar auch einen Namen hat, doch damit erschöpfen sich die Ähnlichkeiten. Es hat – für mich – weit mehr mit einem Prozess zu tun: Man versteckt sich nicht hinter einem Alter Ego, im Gegenteil, man ist stolz darauf, es hervorgebracht zu haben und nun, da es endlich in der Welt ist, gebührt ihm Respekt.

Wie würde meines aussehen?
Ich hab’ so den Verdacht, es wäre männlich. Oder zumindest androgyn. Da fällt mir ein: Früher, als ich noch diese narrativen Outline-Zeichnungen machte, hatte ich, neben anderen, eine Figur namens Leroy Craemer entwickelt, die der Idee eines Alter Ego ziemlich nahe kam. Leroy war ein schmaler nackter Mann, bekleidet nur mit hochhackigen Boots und einer Hasenohrenmütze. Er geriet in unterschiedlichste Situationen, hatte seinen Spaß, sann vor sich hin, die Hasenohren manchmal schlaff und nachdenklich, manchmal aufmerksam aufgerichtet. Was ihn charakterisierte? Ich zeichnete Leroy immer allein, immer nackt (bis auf Stiefel und Mütze) und immer als Voyeur. „Leroy Craemer has nothing to do with it“ hieß eines der Blätter aus der Leroy-Serie, und genau das stellte er dar: Einen freiwillig unbeteiligten Beobachter.
(Komisch, wenn ich so darüber nachdenke, fallen mir mehrere Künstlerkollegen ein, die damals auch ein Faible für Hasenohren hatten. Allen voran Claus. Hi Claus!)

Jetzt, da ich über Leroy schreibe, vermisse ich ihn. Warum eigentlich? Ich mochte ihn mehr als meine anderen Figuren. Trotz seiner Nacktheit war er äußerst diskret. Er schämte sich schnell, doch nur, wenn er innerhalb der Zeichnung zu sehr in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit geriet: Manchmal quälte ich ihn, indem ich ihn exponierte, dann wehrte er sich mit Sätzen, die in einer kindlichen Schrift über seinem Kopf in der Zeichnung auftauchten. Er war sehr genügsam, Leroy. Sehr schmal. Sehr reserviert. Drei Attribute, die man mir beim besten Willen nicht zuschreiben könnte.
Vor ein paar Jahren tauchte Leroy noch einmal als realer Charakter beim Schreiben meines Romans „Fettberg“ auf, doch in den Überarbeitungen des Manuskripts löste er sich langsam aus dem Plot, tupfte nur hier und da noch einmal eine Szene, bis er schließlich ganz aus der Handlung verschwand und wieder zum unsichtbaren Beobachter wurde. Er hat eben seinen eigenen Willen.

4 Gedanken zu „Wie baut man sich ein Alter Ego?

  1. Hase Liebste Phy,
    ja das Alter-Ego, eigentlich hat man ja toller Weise mehrere Alter Egos parat, verschwommen in einem nebligen Gehirnteil herangewachsen, und manche kommen auch durch den Blick der anderen zum Vorschein, seit 2 Jahren bin ich im Internet z.B. “Sherlock”, wegen meines Sherlock-Homes-Fantums und die Hasenohren kommen aber auch parallel immer wieder zum Einsatz und auch Claude gibt es immer wieder gerne. Ein tolles Beispiel finde ich momentan den großen “Pee Wee Herman”, der sein überkindliches Alter Ego hervorragend mit seiner erwachsenen Umgebung konfrontiert und der daraus resultierende Kontrast ist sehr befreiend.
    love
    Claude

    • @Claude: Hab ihn mir auf Deinem Blog angeschaut, den Pee Wee. Meine Reaktion ist da etwas zwiespältig – um diesen, wie du ihn nennst “überkindlichen” Ego-Entwurf einschätzen zu können, müsste ich mehr über Pee Wee wissen: Wie ist die Spannung entstanden?
      Das Einkrachen im Eis der gesellschaftlichen Konvention wird für mich erst durch eine Fallhöhe interessant: Wenn der Weg des Narren bis hin zu der dünnen Stelle nachvollziehbar ist…
      Wenn, wie bei Dir, das burleske immer wieder vom ‘seriösen’ aufgerichtet wird – um dann doch wieder zu kippen…

  2. Leroy Hallo Phyllis,
    finde ich sehr spannend, was Du da gerade über Leroy erzählst. Seit einiger Zeit habe ich eine zeichnung von dir an meiner Atelierwand, die ein von uns beiden sehr geschätzter und sehr netter, manchmal aber auch etwas schluffiger Künstlerkollege beim Atelierauszug im “Sperrmüll” vergessen hat. Es handelt sich um eine Art Nachtclubszene mit bärtiger Tänzerin auf einem Holzpodest (Sehr schön ausgearbeitete Holzstruktur, peace!). Im Hintergrund eine Gruppe seltsamer Wesen und am rechten Rand eine Figur die wohl Leroy sein muß. Obwohl die Szenerie sehr fremd aussieht, sieht Leroy noch fremder darin aus, da er im Vergleich zu den anderen Figuren fast noch normal ist.
    Ich hab mich immer gefragt, was macht dieser nackte Mann dort und warum fällt er so seltsam aus dem Zusammenhang? Jetzt hab ichs begriffen. Danke!

    • @eadvine: Oh… diese Zeichnung, danke, dass Du sie mir in Erinnerung rufst. Ich hab im Moment fast die Vermutung, dass der Zeichenstift bald wieder einmal zum Einsatz kommen wird.
      Merkwürdig, dass ich nicht beides kann: Schreiben und Zeichnen. Als ob jede Geschichte, die ich erzähle, das Thema fürs zeichnen löscht und jede Zeichnung es unmöglich macht, die Idee noch einmal parallel dazu sprachlich zu verwerten. Sehr unpraktisch. Wohlmeinend könnte man sagen, ich bin fokussiert. Ich selbst sehe es eher als eine Art freiwilliger Gebremstheit, die mich vor etwas schützen soll, das ich kaum benennen kann. Vielleicht einfach davor, sagen zu müssen: “Ich bin Künstlerin”.
      Eine Trotzreaktion.

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