Elfenbeinturm, Tunnel, Basislager

Madame TT begibt sich heute zu einem Rundgang an ihre alte Kunstakademie; mal sehen, was der Nachwuchs so draufhat. Lang’ war ich nicht mehr dort: mein Interesse gilt mehr jenen, die schon ein-, zwei Jahrzehnte in der freien Wildbahn unterwegs sind. Die längst keine freie Bahn mehr ist, falls sie das je war, sondern… ja, was? Heute Nacht träumte ich von gefluteten Tunneln. Und Berggipfeln.

Lese gerade Jaques Rancière: “Der unwissende Lehrmeister, Fünf Lektionen über die intellektuelle Emanzipation”. Vielleicht ist es Linkskitsch, zu propagieren, Intelligenzen könnten sich auf Augenhöhe begegnen, wenn man nur früh genug die Bedingungen dafür schaffe. Ich weiß es nicht. Werden Künstler noch für Kunst gebraucht? In allen Büchern, ob nun Sachbuch oder Belletristik, die mir in letzter Zeit Impulse gegeben haben, spielt Kunst im besten Fall als Randerscheinung eine Rolle.

Ah, Madame ist ernst zumute. Zuviel von Fremden vorgefilterte Information tut ihr nicht gut. Zeit für die Nachwuchskünstler:innen.
Doch erst einmal raus in den Park. Laufen. Den Kopf wieder frei bekommen.

Ich wünsche Ihnen einen Sonntag ohne vorgegarte Gedanken!

Herzlich:
TT

Farah Days Tagebuch, 22

Freitag, 18. Juli 2014

Er ist Slawe, spricht ein fließendes, hohes Deutsch mit diesem gurrenden Akzent, dessen Klang immer schon ausreichte, mir alle Härchen aufzustellen. Älter als ich. Dunkler.
Wir sind auf einer Art Konferenz, die mehrere Tage andauern wird. Meine persische Freundin ist ebenfalls da; wir werden einen Vortrag über ein gemeinsames künstlerisches Vorhaben halten. Die Tagung findet hier auf dem Schloss statt, das hoch am Berg gelegen ist, umringt von alten Steinhäusern, in denen offenbar niemand mehr wohnt.
Wir, die Teilnehmer der Konferenz, bevölkern das gesamte Gelände. Manchmal drängen wir durch einen schmalen Gang, über eine kleine Brücke, für solch einen Ansturm sind die Durchgänge manchmal nicht geeignet. Wenn das passiert und ich mich inmitten anderer vor einem Nadelöhr befinde, kehre ich um, suche nach einer besseren Öffnung. Klettere Mauern hoch. Ich bin stark. Physisch unversehrt.
Das Schloss ist grandios. Nicht edel. Ein Künstlerparadies: riesige Säle, kaum Mobiliar, Licht dringt durch Spalten und unverglaste Fensteröffnungen. Plattformen, Podeste, Treppenfluchten. Enorm viel Platz. Keine Wärter. Keine Bücher – und keine Kunst. Kein einziges Kunstwerk, weder Bilder noch Statuen. Dafür steinerne Arbeitstische von enormen Ausmaßen. Wir finden hier reines Material vor: niemand vor uns hat diesen Räumen seine Handschrift aufgeprägt.

Später stehen wir oben am Eingang. Eben trifft eine neue Delegation ein; die Frauen und Männer sehen jüdisch aus. Wir beobachten ihre Ankunft, der Vorplatz quillt aus allen Nähten. Einer der Neuankömmlinge, ein junger Mann Mitte zwanzig, weigert sich, sein Gepäck den steinernen Aufgang nach oben zu schleppen. Auf halbem Wege bleibt er stehen und hebt erzürnt die Stimme: keinen Schritt werde er weitergehen. Ich rutsche auf dem Bauch die Treppeneinfassung zu ihm hinunter, greife mir seine Koffer, hieve sie rückwärts steigend nach oben.

Ich stehe schon eine ganze Weile alleine draußen, als gegen Abend der Slawe an meine Seite tritt. Auf welche Weise wir später in diesen Raum gelangt sind, weiß ich heute Morgen nicht mehr, doch als sich die Tür hinter uns schließt, wird mir klar, dass wir bleiben werden.
Er untersucht mich mit großer Expertise, jeden Quadratzentimeter Haut, jede Öffnung, spricht mit mir, findet heraus, wie ich beschaffen bin. Nach und nach, Geste für Geste, Blick für Blick nimmt er mich in seine Verantwortung. Bis zum Morgen bleibt er angekleidet. Wir haben Zeit, bedeutet er mir, du bekommst schon noch Sex.
Endlich, als das erste Licht durch die Fenster dringt, tritt er ein paar Schritte vom Lager weg.
Als wolle er, dass ich ihn beobachte. Er legt sein dunkles Hemd über die Lehne eines schweren Holzstuhls ab, der am Schreibtisch steht, auch die Hose, dreht sich zu mir. Seine Haut ist hell im Morgenlicht, an vielen Stellen versehrt, ich kann aus der Entfernung nicht sehen, was ihn verletzt hat. Seine Brust ist mit Pusteln übersät.
Ich bin etwas angeekelt. Und traurig. Unmittelbar danach denke ich, ja, aber dann wird er mich doch umso besser verstehen. Ich werde ihm nie etwas erklären müssen, was meine eigene Haut betrifft.
Er wendet sich zurück zum Schreibtisch, nimmt ein Blatt und zeichnet mit schnellen Linien etwas aufs Papier. Hält es hoch. Ich sehe, er kann ausnehmend gut zeichnen.
Du wirst dich nie wieder alleine fühlen.
Er sagt es, als ob es nach ihm niemanden mehr für mich geben würde.

Wortschatz

Von allen Worten, die Madame aus den Kommentaren zu diesem Finale gelernt hat, nimmt sie eines mit:

Jubelberg.

Wie sich die Spieler aufeinandertürmen. In dieser Vokabel steckt kein Sieg, kein Meister, kein Blut und auch sonst nichts unheimlichdeutsches drin, sondern einfach nur Freude.

(Und was machen wir als nächstes?)