Ich lasse mir immer viel Zeit, seine Angebote zu durchstreifen, hinter jedem steht eine Person, jede hat nur wenige Zeilen, ihr Anliegen zu beschreiben, ich lese die Zeilen, es sind Settings, es gibt Dinge, die benannt werden, die innerhalb dieser Settings passieren könnten. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass sie auch tatsächlich passieren, also Vorsicht, Wünsche werden wahr. Man sollte sich einigermaßen gewiss sein, dass man das auch will, bevor man anreist. Ich wusste bis in die Fingerspitzen, was ich wollte.
(Es gibt hervorragende Gründe, an Prognosen zum Ausgang von Situationen zu zweifeln, doch sie sind nicht interessant. Zweifel, manchmal, sind schlichtweg nicht interessant.)
In meinem Inneren sind es immer zuerst Namen, die auftauchen, wie Ausrufezeichen. So erschien Farah Day, damals, und so, seit viel längerer Zeit, auch Sanssourir. Ich spürte, dass sie da war, sie sprach aber nicht. Eine lange Weile genügte mir ihr Schweigen. Es war ziemlich beredt.
„In meinem Bereich nennt man das eine dissoziative Persönlichkeitsstörung“ sagte eine Vertraute am Telefon. „Gefällt mir, wie liebevoll du mit etwas umgehst, was sich als ausgewachsene Störung übel auswirken kann.“
Ich konnte es an ihrer Stimme hören, dass sie lächelte.
„Alter Egos zu haben ist keine Störung“, erwiderte ich.
„Bei dir nicht, nein.“
Der Ort, jedenfalls, um Sanssourir eine Stimme zu geben, ist gut gewählt. Er „weiß“ mehr als seine Bewohner, alt, wie er ist, benutzt, wie er ist. Ausgetreten. Eine Zauberschule, wenn eine es will.
Im Laufe der Tage geschehen Dinge mit mir, mit uns. Wie soll ich die beschreiben? Außerhalb des Raumes, in dem wir uns tagsüber aufhalten, wird nicht gesprochen. Was die Neuen wissen müssen, steht auf kleinen Schildern. Auch, auf einem Klappschildchen am Futterplatz der Kätzin, dass man ihr keine zusätzlichen Speisen verabreichen soll. Ich bin nicht neu, kenne alle Schildchen auswendig. Besonders das am Hoftor, auf dem steht:
Haus der Stille. Zutritt nur mit Anmeldung
Da muss ich immer an die Fastenklinik meines Romans denken, deren Pforten sich auch nur für Befugte öffnen.
Anderswelten.
Es gibt so viele von ihnen. Wir kommen dorthin zusammen, um sie, eine zeitlang, zu vermischen. Dann gehen wir wieder fort.
Am ersten Abend, zuverlässig, überkommt mich ein Gefühl, abreisen zu wollen, es ist so stark, dass ich fast kotze. Irre. Ist jedes Mal so. Niemand kann etwas dafür, ich nicht, der Ort nicht, die Menschen nicht, die mir gegenüber sitzen, ihre Gedanken, Motive. Ich nehme die Körper wahr, Gesichter, Münder, beobachte, was ihre Hände tun, während sie sprechen, die Füße, ob sie zuckeln, ob der Hals mitschwingt beim Artikulieren, ob sie sitzen, als ob sie ein Gelege unter sich hätten.
Vorstellungsrunden, wenn’s nach mir ginge, würden abgeschafft. Ich komme an diesen Ort im Zustand des Niemandseins, da ist jedes Fetzchen Selbstdarstellung kontraproduktiv.
(Auf der Arbeitsliste hab’ ich mich für Kapokzupfen eingetragen.
Besser als Küchendienst. Nähen kann ich eh nicht. Letztes Mal hab’ ich Toiletten geputzt, Übung in Demut, wie mein damaliger Kursleiter es nannte, der Hypnosegeek.)
Die Frauen, im Laufe der Tage lerne ich einige von ihnen zu lieben, so unwahrscheinlich das klingt. Wir haben Wesentliches miteinander geteilt, das Strömen. (Strömen. Klingt richtig.)
„Methodisches will ich die nächsten Jahre eigentlich nur noch von Frauen lernen“ sage ich. (Jemand wollte wissen, warum ich den asketischen Meister, das Oberhaupt des Ortes, nicht wirklich kennen lernen möchte, keine Kurse bei ihm wahrnehme.)
„Warum?“
„Ich will eruptiv lernen, nicht methodisch.“
„… und das können dir Frauen besser vermitteln?“
„Nein, aber sie halten mich dabei weniger auf Linie.“
Auf Linie.
Sanssourir kümmert sich nicht um Linie. Sie schert sich um gar nichts, das Sicherheit suggeriert. Ich werde ihr eine Rubrik geben. Vielleicht macht sie ja weiter, jetzt, nachdem sie ihre Stimme gefunden hat.