Schreiben

Am Wochenende hab ich etwas gemacht, wozu ich sonst selten Gelegenheit finde: Nachdem ich meinen Seminarteilnehmern die Übung ausgeteilt hatte und alle Köpfe über die Tastaturen geneigt waren, setzte ich mich dazu und machte die Übung selbst. Es ging darum, eine Zeitungsnotiz in eine von mehreren stilistischen Formen zu überführen, die wir zuvor besprochen hatten. Seltsam, dass mir zu der kargen Meldung ein Gedicht einfiel – ich schreibe sonst nie welche.
Muss am Herbst liegen : )

Der Alte

Der Alte
schweigt seitdem.
Asche
hängt in
weichen, brüchigen Fetzen
von seinen Lippen.

Längst fort, schmeckt er sie noch,
brennende Luft.
Wie sein Heim niederging
im Flammenmeer
im Funkenregen
In der zärtlichen Berührung warmer Asche
auf alter Haut.

Wie sie floh,
die Kleine
wie hell ihr Körper
als die Flammen ihn fraßen.
Den Tod empfing sie
aus seiner Hand.

Wusste es nicht.
Sprang in weiten Sätzen
sprang um ihr Leben
riss seines im Sterben mit sich fort.

Der Alte
schweigt seitdem.
Asche
hängt Asche
hängt

Zu wenig

„Ich will mich nicht verbiegen“ sagen welche.
Kurt Beck hat es gesagt. Oliver Kahn sagt es. Viele Politiker sagen es und hoffen, dass unverbogen gleichzusetzen sei mit aufrecht und dass sie von uns, dem Volk, als ‚gerade’ Persönlichkeiten wahrgenommen werden.
Die anderen, ihre Wettbewerber, manchmal auch Gegner, schauen sich das eine Weile an und rufen dann: „Verbiegen? Pah. Der will nichts dazulernen, kann sich nicht einstellen auf neue Situationen.“

„Ich will mich nicht verbiegen“ soll heißen: „Ich bin nicht korrumpierbar wie Ihr Anderen, ich mach das verlogene Spielchen nicht mit, handle nach meinem eigenen Kodex.“
In der Hauptstadt gilt das als provinziell.
Bestimmte Selbsteinschätzungen sollten nicht ausgesprochen werden. Man sollte sie in einem Identitäts-Schatzkästchen aufbewahren, das man in diskreten Momenten vielleicht mal einer Vertrauensperson in die Hand gibt, aber sonst niemandem.
Die Verbiegen-Behauptung ist leider lächerlich und hilflos. Indem man sich freiwillig in solcher Weise selbst definiert, outet man sich als Bedürftiger. Betritt den gleichen Club wie die Prinzipientreuen und diejenigen, die meinen, man mache sich sympathisch, wenn man immer schön die Wahrheit sagt.
Beide Seiten – die Harten wie die Elastischen – wollen doch das gleiche. Ihre eigenen Interessen durchsetzen. Mehr steckt nicht dahinter: Es geht immer um irgendwelche völlig banalen Begehrlichkeiten. Nicht um Ideen. Nicht um Persönlichkeitsbildung.
Nicht um eine bestimmte Haltung als solche, sondern darum, ob sie für die Durchsetzung der eigenen Interessen funktionalisierbar, als Waffe verwendbar ist. Es geht um die Praxis. Man will doch etwas erreichen.
Doch das reicht nun mal nicht.

Paulus Böhmer

wird am Dienstag, den 16. September um 20:30 in der Romanfabrik aus seinem Langgedicht “Am Meer” vortragen.

Kommt, wenn Ihr könnt.
Böhmer schreibt ganz wunderbar. Ihm zuhören ist schwimmen; seine Sprache eine dichte Salzkonzentration, die zulässt, sich in dem auszubreiten, was eigentlich flüssig ist und einen untergehen ließe.

Die Texte zu lesen ist kräftezehrender, als ihnen zu lauschen, besonders, wenn Böhmer im Wechsel mit dem Schauspieler Peter Heusch liest, wie er es auch dieses Mal tun wird. Für mein Empfinden ist Paulus Böhmer absolut einzigartig in seiner Sprache, vergleichbares hatte ich vorher nie gelesen. Schwer, zugegeben, die Konzentration zu halten, schwer, auf dem Sitz zu bleiben, wenn die Gedankenketten ein-, zwei Stunden immer weiter führen, ohne Inseln, ohne den Zucker des Trivialen. Er liest immer ein wenig zu lang, Paulus Böhmer.

Wer durchhält (ich hab mal einen Marathon mit ihm durchgehalten, vier Stunden am Stück, das war hart), wer durchhält also, taumelt verzaubert und beeindruckt ins Freie.

Romanfabrik
Hanauer Landstraße 186
60314 Frankfurt a.M.
Lesung (diesmal kein Marathon, sondern ne ganz “normale” ; )
am
16: September 20:30 Uhr

http://blogs.taz.de/schroederkalender/2008/08/31/paulus_boehmer_am_meer_32

Für einen Vorgeschmack.