Frisch getippt …

… und abends gleich damit auf die Bühne damit, mit Hut und Haaren.

Eben vom Kreativen TSchreiben in Neuss zurück, stolz auf die neun jungen Leute in meinem Seminar, die bis vier Uhr morgens feiern und dann immer noch tolle Texte schreiben können.
Ich nicht! Bin keine sechzehn mehr. Deswegen war’s das auch für heute von mir : )

Schönen Sonntagabend, allerseits!
Miss TT sinkt jetzt voll deep in die Badewanne.

Dreamless Boulevard

Oglum, hicbir zaman haksizliga boynunu eyme…
Mein Sohn, beuge dich niemals der Ungerechtigkeit.

Die feinen Härchen behalten zu können, die sich bei ihnen immerzu aufstellen und knistern! Die Haut der Sechzehnjährigen ist so wunderbar glatt, dass ihre Masken noch nicht darauf halten. Man muss nur immer mal wieder ruhig daran zupfen, dann lassen sie sie fallen. Es schreibt sich einfach leichter ohne.

Ich habe ihnen zu Anfang unseres Kurses ein Foto gezeigt, das ich vor meiner Abreise nach Kiel aus einem Schuhkarton gefischt hatte: Phyllis Kiehl in einem fliederfarbenen, von der Großmutter genähten Kleid aus Rohseide, wie sie ihr Reifezeugnis aus der Hand von Ordensschwester Hedwig entgegennimmt. Ich seh’ sowas von uncool aus auf diesem Bild! Meine Gruppe hat nicht gelacht. Erst, nachdem wir längst den ganzen Raum, ja sogar die Fenster mit den an die zweihundert Bildern aus meiner Sammlung zugehängt hatten, die uns als Schreibanregungen dienen, sagte S.: „Was wäre, wenn sich jemand in einem späteren Seminar Dein Abibild heraussuchen würde, um dazu eine fiktive Geschichte zu schreiben? Fände ich gut…“ Er lächelte. Ich natürlich mit.

Ein Mädchen schrieb sich auf recht rabiate Art die Enttäuschung über eine Herzensfreundin von der Seele, ein anderes verwandelte sich in einen Regenbogenfisch, der aus dem Kopf eines Kindes über die Anpassungsfähigkeiten der Erwachsenen sprach. H., ein junger Mann asiatischen Ursprungs, versetzte sich in den Augenblick, in dem ein Soldat auf Zivilisten schießen muss, ein anderer schrieb, wie ein introvertierter Junge einen muslimischen Klassenkameraden dabei beobachtet, wie der einen Juden verprügelt, dabei hineingezogen und selbst zum Täter wird. Seine Geschichte endet mit dem inneren Monolog seines Protagonisten auf dem Totenbett.
V., der Junge mit der frechsten Frisur, sinnierte darüber, mit welchem Recht man darauf beharren könne, andere zum gemeinnützigen Handeln zu bewegen, während die doch ihre eigenen Probleme hätten. Und Y. schrieb mit „Dreamless Boulevard“ die Story eines Jungen, der nach einer widrigen Kindheit ein großer Rapper wird – mitsamt einem, muss ich sagen, ziemlich coolen Rap am Ende der Geschichte.
Und dann war da noch der S.:

(…)“Während andere Jugendliche in meinem Alter in diesem Moment planen, was sie heute Abend auf einer Party anziehen werden, schreibe ich diese Rede um zu erklären, warum ich diese Welt verändern will. Ich bin 16 Jahre alt und meine Hobbys sind eigentlich Saz spielen und Kraftsport treiben. Aber nicht Politik.
Politik ist kein Hobby, es ist Pflicht.
Mit 14 Jahren begann ich, mich mit Politik auseinanderzusetzen, denn ich habe gemerkt, Einzelschicksalen zu helfen bringt mich nicht weiter. Bis dahin hatte ich versucht zu helfen, indem ich regelmäßig einen Teil meines Taschengeldes dem alten Mann mit dem Bart gab, der immer auf der Bank schlief. Auf dem Weg zu meinem Kindergarten. Manchmal packte ich heimlich etwas Brot in meinen Rucksack, um es ihm zu geben. Aber Probleme haben immer einen Ursprung. Und dieser Ursprung ist, wie ich merkte, der Kapitalismus.“ (…)

Er wollte seinen Text, an dem er konzentriert gearbeitet hatte, mit einem Zitat von Che Guevara beenden. „Einen Satz von Dir selbst fände ich stärker“ merkte ich an. „Du kannst ja ruhig mit einbauen, dass Du zuerst vorhattest, den Commandante zu zitieren…“
Er schrieb dann dies:
(…) „Und eigentlich würde ich jetzt Che Guevara zitieren, aber lieber erzähle ich einen meiner Grundsätze: ‚Der Fluss wird immer gegen dich fließen. Auch wenn es schwer ist, musst du dich immer gegen den Strom stemmen, bis der Strom irgendwann merkt, dass er in die falsche Richtung fließt, sich umdreht und Dich in die richtige Richtung trägt.’“

S., von dessen Vater der Satz gegen die Ungerechtigeit stammt. Der auf allen Gruppenfotos, die wir später machen, so schrecklich beklommen aussieht, geradezu physisch komprimiert, als müsse er als Einziger die Last der gesammelten Ungerechtigkeit dieses Planeten auf seinen hantelgestählten Schultern tragen. Pumping iron gegen den Strom.

Die anderen in der Gruppe lauschen seiner Rede mit einer Mischung aus Zuneigung und Nachsicht. A., ein fast radikal besonnener junger Mann, hat einen Text geschrieben, in dem sein jetziges Ich ein Gespräch mit seinem zwanzig Jahre älteren führt, das inzwischen zum Chefarzt einer Klinik aufgestiegen ist. Nun kann er seine Ungeduld beim Zuhören nur mühsam verbergen.
„Ich muss lachen, wenn ich das höre…“ beginnt er die Feedbackrunde. Die anderen geben sich Zeichen; offensichtlich ist ihnen das Duell gerade dieser beiden bereits vertraut.
„Lasst uns doch erst einmal die Form betrachten“ schlage ich vor. „Wie ist die Rede gebaut, wie hat S. sich als Urheber eingeführt, sind seine Überlegungen nachvollziehbar, hat er ein Bild erzeugt, das stark genug ist, um in Euren Köpfen hängen zu bleiben, reichen die biographischen Angaben am Anfang der Rede, um dem dann folgenden Text Autorität zu geben…“
Ich nenne weitere Kriterien. Oft sprechen wir von Bildern. Wie sich so schreiben ließe, dass etwas auf uns Zuhörende überspringt, und sei es nur ein einziger Satz. Was ist ein Satz mit Klebepotential, einer, den man sich einfach merken m u s s ? Den man womöglich sogar bewahrt und davor schützt, von der Vernunft zunichte gemacht zu werden?
Einer, der ein Bild erzeugt im Anderen, beschließen wir. Deswegen sind Bilder wie gegen den Strom schwimmen auch weiterhin so beliebt bei Heranwachsenden, so abgegriffen sie auch sein mögen. Aber wir werden versuchen, welche zu finden, die mindestens genauso stark sind und noch nicht so viel benutzt. Beschließen wir.
Wer fragt, führt, hat ANH nebenan seinen Leuten auf die Tafel geschrieben – keine Ahnung, in welchem Zusammenhang der Satz bei ihm eine Rolle spielte. Vielleicht wird mein junger Marxist lernen, in seinen künftigen Reden auch Fragen zu stellen.

Runter vom Kitsch

Es ist kein ruhiges Schippern auf’m Fluss, mit jungen Leuten zu arbeiten. Da braucht’s keinen Motor, sondern Segel, möglichst viele verschiedene. Es war speziell, diesmal Melusine >>> an der Seite zu haben: wie ein Tanz auf den Wellen. Schon erstaunlich, sich von Anfang an so zu verstehen bei einer Zusammenarbeit, kein Stress, kein Aufplustern, einfach zwei Frauen, die ins gleiche Nebelhorn blasen.
Grrr, muss wieder runter von diesem Seglerbild ; )
Was ich sagen will: es geht nicht um Kitsch. Oder um Vorturnen. Wir sind doch nicht bescheuert. Bin ich Komplizin des Mädchens, das niemals lächelt? Was habe ich gemein mit einem jungen Mann, der Mechatroniker werden will? Soll ich dem erzählen, dass alles gut wird, wenn er nur eine schöne Kurzgeschichte bei mir schreibt? Quatsch. Ich kann ihm ja noch nicht mal sagen, dass ich da sein werde, um ihm die Hand zu schütteln, wenn er es schafft, einen Ausbildungsplatz zu bekommen.
Was ich allerdings kann: eine Situation erzeugen, die sich möglichst selbstverständlich anfühlt, ohne normal zu sein. Das ist meine Erfahrung. Es gibt talentierte Jugendliche, die sich selbstständig Situationen mit der Aussicht auf Erfolgserlebnisse schaffen können; für die ist so ein Schreibworkshop eine Möglichkeit unter vielen. Doch für Leute wie jene, die wir seit letzter Woche kennen gelernt haben, fühlt sich Jungsein ganz offensichtlich nicht wie ein Fächer von Möglichkeiten an. Nix mit „multi-optionale Persönlichkeit“ – ein Wort, das mir eine Personalberaterin mal zuflüsterte vor langer Zeit.
Was „geht“, ist tatsächlich, diese Normalität anzubieten. Die Leute zusammenzubringen und zu sagen, so machen wir das hier, wir sind Trainer:innen, Ihr könnt Eure Phantasie und Schreibtraining gut gebrauchen, sonst unterschätzt man Euch, also los. Das mit dem Unterschätztwerden muss man übrigens nicht lange erklären, es wird sofort verstanden.

Sie wundern sich vielleicht, warum ich die trunkenen Kommentare von heute Nacht hab’ stehenlassen. Na, als Kontrast. „Multikultifiepsnippel“ ist schon eine ziemlich einmalige Wortschöpfung. Was allerdings dahinter steht – die Unterstellung des Manipulativen, der Vorturnerin – weise ich weit von mir. Ich lehne Zynismus ab.

Beim warm – up

Ich hoffe, ich komme dazu, von dieser ungewöhnlichen Gruppe junger Frauen Anfang zwanzig zu erzählen, die wir zur Zeit im Schreibzimmer des Weltkulturen Museum haben. Selten hab’ ich schon zu Beginn eines Workshops solche Offenheit in Gesten und Gesichtern vorgefunden. Wow. Wenn solche Frauen trotzdem noch ohne Ausbildungsplatz sind, wird man verdammt nachdenklich.

Muss los, Frühstück für alle besorgen. Schönen Tag allerseits! : )

Testlauf

Die zehn >>> Joblinge, die nachher zu meiner Kollegin und mir ins Weltkulturen Museum gebracht werden, haben noch keine Ahnung, was ihnen blüht. Mir geht’s da fast ähnlich. Es ist das erste Mal, dass ich nicht alleine vor einer Gruppe stehe, um einen Schreibworkshop zu halten – nach all den Jahren one-woman-show. Bin gespannt.
Muss los. Bis später.