Ohne ein Wort

Ich beobachte sie. Sie haben ein Außengelände, in dem sie sich einigermaßen sicher bewegen können, mit Wegen und Führungsläufen. Manche stehen oder sitzen einfach herum, greifen mit großen und kleineren Gesten in das, was wir Luft nennen. Sie selbst haben dafür keinen Namen, von dem wir wissen. Sie sind blind geboren, sie hören nichts, sie können auch nicht sprechen. Soviel erfährt die Beobachterin.

Wenn sie sich einander annähern auf den Wegen, spüren sie eine Vibration, sicher gibt es auch etwas zu riechen. Manche biegen sich zur Seite, meist, ohne die Füße zu heben. Sie geraten in eine Bewegung des Ausweichens und es sieht aus, als würde eine Wasserpflanze von einer leichten Strömung erfasst. Die Langsamkeit ist wahnwitzig anzuschauen.

Andere greifen nach dem sich nähernden Körper. Es gibt Impulse, aber
Sie haben kein Wort für Vibration. Oder für Geruch. Nur Körper und Hände und Haut.

Ein Betreuer schreibt Briefe im Namen seines Schutzbefohlenen: jenem, den man nie ohne seine Decke sieht. Der Betreuer schreibt die Briefe für den Film. Man sieht ihm, während eine Offstimme den Brief liest, in die Augen. Die sich wünschen, die Beobachterin möge sich einmal vorstellen, was im Inneren des Mannes unter der Decke vorgeht. Der nicht einmal sagen kann, dass er einer ist: Ein Mann.
Die Decke gibt es in mehreren farbigen Versionen, offenbar. Aber immer groß genug, den ganzen Körper einzuhüllen.

Sie haben keinen Sex, sagt der Betreuer.

Einhundertachtzig Menschen leben im Dorf. Sie kuscheln selten untereinander, heißt es, aber viel mit den Betreuern oder mit sich selbst. So wie der Mann unter der Decke. Er hat sie immer über den Kopf gezogen. Wenn er tagsüber draußen unterwegs ist, schwingt sie ihm bis auf die Knie. Oft ist er auch nachts zugange; er schläft nicht gut. Vielleicht ist es ihm gleich gültig, ob Tag oder Nacht ist.

Jeder dieser Menschen, sagt eine Betreuerin, braucht mindestens einen von uns, der bedingungslos Ja zu ihm sagt.

Ich arbeite seit zweiundzwanzig Jahren hier, sagt ein anderer. Ich weiß oft immer noch nicht, was sie bewegt, ich versuche, aus ihrer Mimik zu lesen. Aus Lauten. Körpersprache. Doch ich kenne ihre frühen Konzepte nicht, ihre Verknüpfungen, Erinnerungen. Nicht, wenn sie von Anfang ihres Lebens an so waren wie jetzt.
Aus einer totalen Isolation der Zeichen kann keine Differenz entstehen. Wenn nicht irgendwann einmal ein Grundriss dafür angelegt wurde, den andere auch kennen.

Anfassen, Schmecken, Riechen. Bezugspersonen achten darauf, immer das gleiche Parfüm zu verwenden, das gleiche Shampoo. Unsere Nasen, sagen sie, sind beliebte Erkennungsmerkmale. Und Ohren. Und natürlich Hände.

Wie lang ist ein Tag?
Manchmal Ausflüge ins Wasser, zu Tieren: dicht ans Fell. Essen. Obwohl einige auch einfach vor ihren Tellern sitzen und mit einem Stubs daran erinnert werden, eine Gabel zu füllen.

Alles, was man über die Stillen sagen könnte, was die Beobachterin über sie sagen könnte, scheint sehr unhöflich. Sie sagt sich, dort kann ich nicht hinein. Und darf doch hinein. Ein Filmerpaar ist in dieses Dorf gegangen und zurückgekommen.

Ich versuche mir vorzustellen.

Immer stehen die Zimmertüren offen. Damit die Nachtschicht weiß, ob jemand unterwegs ist, gibt es eine Leiste mit einem Klangkörper, die aus ihrer Halterung fällt, wenn ein Nachtaktiver sein Zimmer verlässt.
Das ist die letzte Einstellung im >>> Dorf der Stille. Ich beobachte den Mann, dessen Namen der Pfleger uns mitgeteilt hat, wie er aus seinem Zimmer über die Türschwelle tritt. Der Stab mit dem Klangkörper fällt hinunter, der Mann steigt langsam über das im Türrahmen hängende Hindernis und geht in etwas hinaus, das wir Flur nennen.

Spuren hinterlassen, 36

Allein in diesem kleinen Ausschnitt stecken elf Geschichten – und das nur nach der ersten Zählung.
Manche davon schriebe ich als ich selbst, manche als Farah Day. Die melancholischen, sicherlich, kämen von Sanssourir.
Ich möchte mal wieder von und mit meinen Alter Egos schreiben; sie fehlen mir. Besonders jene ungenannte fehlt mir, die nur andernorts schreibt, als gäbe es hier keinen Raum für sie.
Vielleicht sollte ich ihr einen schaffen. Sie beflügeln.

Insbesondere jüngere Schüler

lassen die Keksdose der Trainerin nicht aus den Augen und formulieren ihre Bedürfnisse oft sehr präzise mittels in die Höhe gereckter Zettel:

(((Sie ahnen es, geschätzte Leser:innen: Madame muss langsam mal wieder r a u s.
Aber im Juli und August geht’s ins Refugium. Schneckendasein, Zeichnen, Fabulieren.
Und bis dahin wirft sie sich von einem Workshop in den nächsten. Und genießt es.

Meistens. )))

Schreibübung für Totalverweigerer:innen

EGAL:

Schneide 50 Wörter aus der Zeitung aus, die dir völlig egal sind. Sie müssen nicht zusammenpassen.

Dann nimm dir ein Blatt und ordne die Wörter so auf dem Papier, dass Sätze daraus werden, die auch völlig egal sind. Klebe die Wörter dann fest.

Versuche, den egalsten Text zu schreiben, den du kannst!

Sie sehen, geschätzte Leser:innen, Madame ist heute auf alles gefasst. *Lacht*
Schönen Tag, allerseits, und bis später!

TT

Der Großteil

meines Schreibens findet momentan zwischen den Zeilen statt – und die Zwischenräume brauchen zunehmend so viel Platz, dass kaum noch welcher für Wörter übrigbleibt. Ich bin heilfroh, dass ich diese paar heute Morgen noch reinquetschen konnte.

Anyway! Kurs halten!

Bin auf dem Weg zu meiner nächsten Gruppe.

Auf sie mit Gebrüll!

Herzlich winkend:
Mme TT