Schall und Rauch.

Die Hinterlassenschaften von Ereignissen: wie sie dröhnen und dicken Rauch spucken. Außerhalb der Shows zu leben!

Doch was gäbe es dort zu gewinnen?

Heut’ Nacht hat sich ein kirschgroßer Parasit in meine Wange gebohrt. Ich riss an ihm, wohl wissend, dass die Widerhaken an seinen langen, sehr dünnen Bohrwerkzeugen mir ein Loch ins Gesicht würden reißen. Je wilder ich zerrte, desto mehr Gift, wie einen heißen Strom, fühlte ich in meine Wange fließen, doch ich ließ nicht ab, bis du starbst. Metamorphosen, wie es scheint, sind nicht die ruhigen Wochen im Kokon, Metamorphosen sind geifernde Ungeheuer; im Kokon ist die Hölle los. Ah, mein Leitlicht, immerzu führst Du mich zurück ins Niemandsland, warum darf ich nicht wandeln auf sicherem Pfad, warum muss ich so viele sein. Lieber ein weiser Weg als ein solcher Wegweiser!

„Ich kann mich nicht abgrenzen“, erzählt meine Freundin, „ich spüre die Kriege, jede Minute, ich spüre die Zusammenrottungen, die Ungerechtigkeiten, die blanken Gefühle, jeden Tag dringen sie erneut in mich ein und so viel ich auch tu’ und kämpfe, mich hinzuwerfe, um ein bisschen das meinige zu tun, es lässt niemals nach.“

Sie ist blass, trägt die Schauplätze von Gewalt und Verwerfungen im Gesicht. Sich das Gift der Ereignisse aus der Wange zu reißen: da bleiben Krater zurück.

Sehr nah von mir stirbt derweil jemand, den ich lang’ schon kenne, ganz real. Der Körper will nicht mehr, ist alt, doch die mörderisch gewissenhaften Maschinen halten ihn sorgsam hier fest. Anderswo werden Körper einfach so hingeschmissen, als wären sie nichts, gälten nichts. Sie fallen. Keine Zeit zu siechen, drüben in den Bergen, drinnen im Meer.

Alles ist gleichzeitig: wie oft schon wusste ich das. Und alles ist bereits da.
Es gibt kein Ende, für gar nichts. Nur Bewegungen.
Im Schall. Im Rauch.

Gespräche mit Farah Day, ff

„Lass uns doch abends aus der Summe unserer Handlungen einfach mal jene rausrechnen, die nur reflexhaft kompensiert haben, was wir nicht tun konnten. Was wiegt dann schwerer, das Beabsichtigte oder das Stattdessen?“
„Na, das Stattdessen!“
„Warum?“
„Weil es so viel mehr davon gibt.“
„Wie groß ist der Spalt zwischen Absicht und Stattdessen?“
„…?“
„Wir müssen herausfinden, was sich dort abspielt. Wir wollen etwas… und dann machen wir etwas ganz anderes. Zwischen Absicht und Handeln muss also was passiert sein.“
„Ich nenne es Umschwung.“
„Okay, nennen wir’s Umschwung. Wie fühlt sich das an?“
„Echt.“
„Also wie das, was wir eigentlich wollen?“
„Yep.“
„Magst du diese Wahrheit? Verträgst du dich mit ihr?“
„Nicht wirklich. Du etwa? Sie macht uns träge. Unsere Ersatzhandlungen bestehen aus Essen und Fernsehen. Leider. Als Kind lief das anders.“
„Allerdings!“
„Als wir klein waren, versuchte uns oft jemand zu sagen, was wir tun sollten… und dann haben wir was komplett anderes gemacht.“
„Weil es sich richtiger anfühlte.“
„Was die uns gesagt haben, war ja fremdbestimmt.“
„Oder ein Befehl…“
„Was man als Verweigerung gemacht hat, war keine Kompensation.“
„Sondern das, was man eigentlich wollte.“
„Es war immer spannender und interessanter als der Befehl.“
„Inzwischen aber sind wir diejenigen, die Absichten erklären und Befehle ausgeben. An uns selbst.“
„Klingt eigentlich erstrebenswert.“
„Aber das Kind in uns wehrt sich! Und zwar nicht, indem es etwas Interessanteres vorschlägt, sondern indem es Essen und Passivität und bewegte Bilder verlangt.“
„Die Rolle, die früher die Erwachsenen innehatten, haben jetzt wir. Wir sind am Steuer. Und das Kind reagiert.“
„Mit Widerstand! Die Absichten der Anderen brachten uns damals dazu, auf bessere Ideen zu kommen…“
„Wohingegen unsere eigenen das Kind in uns offenbar nur dazu verleiten, sie zu sabotieren.“
„Genau. Essen, Verstecken, unsichtbar werden.“
„Warum ist es so passiv? Da müssen wir ran.“
„Weiß ich.“

Hektor hat Angst

Es fällt ihm heute schwer, sich zu vergegenwärtigen, was er empfindet. Sicher gibt es einen Experten? Hektor wendet sich an sein TV. Es gibt immer Experten. Sie treffen sich in Runden und lassen ihn zuhören. Nonstop.
„Man unterscheidet sechs Basisemotionen“, erläutert einer von ihnen gerade. „Diese sechs sind nicht erlernt, sondern genetisch bedingt.“
Hektor, drinnen im Wohnzimmer, neigt verständig den Kopf.
„Sie werden kulturübergreifend bei allen Menschen in gleicher Weise erkannt und ausgedrückt“, fährt der Mann fort. „Es sind Wut, Trauer, Freude, Überraschung, Ekel und Angst. Die bestimmen uns von ganz unten.“
Gottseidank, denkt Hektor. Es gibt also eine Liste.
„Ist das nicht ein wenig zu übersichtlich?“, fragt der Moderator, der nur Moderator ist.
„Aber ja“, erwidert der Experte kühl. „Es gibt ja noch Verachtung. Und dazu Scham, Schuld, Verlegenheit und Scheu.“

Plausibel, findet Hektor.
Er selbst hantiert erratisch mit seinen Gefühlen. Die meisten Challenges auf Arbeit lassen sich besser erledigen, wenn er nicht weiß, welcher Motor ihn gerade antreibt. Wenn man voll in Fahrt ist, muss das Ding laufen. Fertig. Und die Karosserie muss sitzen. Den Unterbau zu zeigen kann Hektor sich nicht leisten. Plötzlich wäre er exponiert. Nicht ausgeschlossen, dass die Experten dann über ihn talken würden. Aber eben nur über ihn.

– Ob er dann verlegen wäre? Hallo? Es ist kein Zuckerschlecken, ein Beispiel zu sein! Man müsste hart trainieren, um damit umgehen zu können. The biggest Looser.
Hektor überlegt, ob er das Programm wechseln soll, bleibt dann aber am Ball.

Angst und Scham sind seine ältesten, verlässlichsten Gefühle. Spürt er nicht immer eher seine Bedrohungen als seine Möglichkeiten? Der Wert seines So-Seins würde ihn nicht davor schützen, unter die Räder zu kommen.
(Oder?)

Es kommt auf dich nicht an, raunt der Experte. Du hast keine Bedeutung und es gibt keinen Schutz. Tu’, was angesagt ist, und geh’ danach in Deckung, bevor dich jemand angreift. Das ist die verfickte Challenge. Versau’s nicht.

(- Hat der das eben wirklich gesagt?)

Ratschläge finden in Hektors Leben nur wenige statt, seitdem er kein Kind mehr ist. Die kommen durchweg von Männern und zielen darauf ab, ihn zu optimieren. Frauen finden ihn meistens super, aber die sind einfach zu nett, um wahr zu sein. Befürchtet er.

Er streckt die Oberschenkel, die vom langen Sitzen ein wenig krampfen.
Wie er sich dafür schämt, sich als wertlos zu empfinden! Nach allem, was er geleistet hat! Nach der Anerkennung, die ihm immer wieder gezollt wird!
Ge-zollt!
Wie kommt es, dass all die Likes ihn nicht vor sich selbst schützen können? Ist er etwa dumm? Beschädigt? Schwach? Machtlos?
Der alte Loop.

Hektor schließt die Augen. Fast unmerklich sinkt seine rechte Hand in seinen Schritt.
Und jetzt,
endlich,
darf er kriechen.
Unten sein.
Die Challenge ist vorbei.

Er sollte sich schämen für seinen Gehorsam, doch tatsächlich ist der jedes Mal ein Sieg. Hektors Wert bestimmen nun die Experten. Was für eine ungeheure Befreiung, dafür nicht mehr zuständig sein zu müssen! Wie könnte er sie nicht lieben, ihnen nicht verfallen?
Er und die Experten sind eins, sind die gleiche Person: Hektor macht sie zu vollständigen Menschen. Und sie ihn.
Er legt den Kopf nach hinten.

Sashimi

Wir sind Publikum in einer Art TV-Show, eine Kochzeile in Form einer Bar. Auf unserer Seite sitzen zwei Juroren und eine Handvoll VIP-Gäste, im Küchenbereich sind zwei Männer bei der Arbeit. Heitere Atmosphäre im Studio.

Der schmale, junge Koch ist hörbar ein Schweizer. Er gilt als handsome und bescheiden, hat eine Menge Potenzial, derzeit aber Stress. Wir spüren die Verhärtungen in seinem Nacken, als ob es unsere eigenen wären. Sein Lächeln sitzt, die Messer handhabt er meisterlich, aber ob das reichen wird?

Der zweite Kandidat, Sternekoch wie sein Kollege, ist von asiatischer Herkunft und massiger Statur. Scheinbar gleichmütig blickt er aus seinen Augenschlitzen. Weil er niemals lächelt, sollen wir annehmen, dass er jedes kleinste Detail registriert. Dass er ultracool ist.

Die beiden schenken sich nichts. Um Gunst geht es! Und um Geld natürlich.
Während die Köche ihre Tricks vorführen, werden sie von den Juroren ausgiebig mit Spott bedacht. Man kennt sich. In der Welt der Bootcamps und Fightclubs sind Geheimnisse Spielgeld: Irgendwann wirft jeder auch noch sein letztes in den Ring.

Wir spulen vor.

Der dicke Asiate hat eben gewonnen. War es nicht köstlich, wie er als einziger im Raum sein Geheimnis bewahrt hat? Bei all dem Spott der Juroren, dem nervigen Countdown und den surrenden Cams, die sein fleischiges Gesicht abgetastet haben?
Er reckt die Faust mit dem Messer ins Publikum.
(Tatsächlich! Das könnte jetzt fast sein Lächeln sein!)

Die Juroren geben nun grünes Licht für das Highlight der Show. Wir denken, dass der Sieger das verdrängt haben muss.
Oder gewollt.
Jedenfalls schlendert der junge Schweizer an seine Seite. Aus einem Laptop, das sich beim Aufklappen als Mappe entpuppt, zieht er eine Nadel. So ein Ding wie aus der Arztpraxis; wir sehen es im Zoom. Das Publikum im Studio offenbar auch. Die Gespräche verebben.

– und zack.

Ehe wir wissen, wie uns geschieht, setzt der Schweizer seine erste Nadel. Einstich, Austritt. Wir sind nicht beim Fußball, es gibt keine Zeitlupe.
Zoooom!
Die Cam hält auf das rechte Ohr des Asiaten. Dort ist nun, direkt vor dessen Ohrmuschel, eine Nadel durch die Haut gesteckt. Der Mann indes verzieht keine Miene. Dreht nur schweigend den Kopf.
Und erneut, mit gleicher Akkuratesse, sticht der Schweizer zu, diesmal am linken Ohr. Zoom in die Augenschlitze des Asiaten, doch da ist nichts. Druckerschwarze Pupillen. Langsam öffnet er den ersten Knopf seines Hemdes, dann den zweiten, dritten, vierten. Als sein weißer Bauch bis zum Nabel freiliegt, nimmt der Schweizer ein Skalpell aus der Mappe. Er setzt es an die rechte Brustwarze des Asiaten an, zieht kurz nach unten durch, legt das hauchdünne Scheibchen Fleisch auf ein lackiertes Sushi-Brett.
Zoom.
Zweite Brustwarze!
Kommt ebenfalls auf’s Brettchen.
Während die Cam weg war, hat jemand ein bisschen Wasabi mit draufgelegt, und Ingwer.

Die beiden Männer sind ganz zu zweit.
Ein winziges Husten aus dem Publikum. Ansonsten Schweigen.

Bis die Cam zurückkommt, hat der Schweizer sein Skalpell längst gesäubert und verstaut. Er beugt sich, ergreift das Brettchen von der Theke. Beide Köche drehen sich in die Kamera, senken fast gleichzeitig ihre Fingerspitzen darauf.
„Was? Keine Stäbchen?“
Unsere Frage bleibt ungehört.
Zoom auf die zwei Scheibchen Fleisch. Die Münder der Köche öffnen sich; jeder legt sich eines davon auf die Zunge.
Abblende.

Im Studio erlischt langsam das Licht.

 

 

 

 

 

 

Tauben, Nester, Wasserkästen. Warum auch nicht.

Hat jemand schon mal eine Babytaube gesehen? Seit einigen Tagen gibt es Nachwuchsmeisen. Winzig, zutraulich und mit Kinderzwitscherstimmchen. Aber junge Tauben? Noch nie gesehen, keine einzige, jemals! Tippeln die in Erwachsenengrüße aus dem Nest?
Im Frühling, wenn sich alles paart, kämme ich mein Haar aus der Bürste und hänge die Knäuel draußen in die Zweige meiner Birke.

Hab’ ich von Oma; die hat das auch immer so gemacht. Später, nachdem die Brut ausgeflogen war, bin ich mit ihr durch den Garten gewandert. Wir haben die alten Nester aus den Kästen geholt, weil die meisten Vögel sie nicht mehr annehmen, wenn noch ein altes drin ist. Sagte Oma.
Ihr Haupthaar war immer drin verarbeitet, in den Nestern. Ganz fein, silbrigweiß, mit Zweiglein und Gräsern zu einem Heim verflochten.
Oma hat das geliebt. Ich auch.
Ich wünschte, ich hätte eins aufgehoben.

Magische Nester.
Der einfachste Weg zurück ins Nest führt übers Essen: Es beruhigt schneller als alles andere. Kein Wunder, dass wir immer schwerer werden.

Seltsamer Traum übrigens heute Nacht.

Meine Schwester war zu Besuch. Sie kam aus dem Bad, verzog das Gesicht.
„Was ist“, fragte ich, „stimmt was nicht?“
„Da drin bleibe ich nicht länger als nötig“, erwiderte sie.
Ich ging gucken.
Mein Bad ist sehr klein. Wenn man es betritt, sieht man rechts Waschbecken und Wanne und an der Stirnseite das Klo. Aus dem Wasserkasten drangen seltsame Geräusche. Ich trat die drei Schritte näher an die Toilette heran – wie gesagt, es ist irre klein, mein Bad – und erstarrte.
Im Wasserkasten kochte das Wasser! Er rüttelte vor Hitze. Auf der Kante sprang der Deckel auf und ab, als wolle er gleich an die Badezimmerdecke hochschnellen.
Ich reagierte prompt. Drückte den Deckel mit dem linken Unterarm auf den Kasten. Verbrühte mich. Schrie auf.
„Esther!“
„Stell das ab!“, schrie sie aus dem Türrahmen.
„Da gibt’s nix abzustellen!!!“
Blindlings tastete ich mit der rechten Hand an der Wand entlang, fand einen Kippschalter, drückte ihn.
Stille.
Ich richtete mich auf, wischte die lädierten Arme am T-Shirt ab, drehte mich um.
„Wie hast du das gemacht?“, fragte meine Schwester.
„Na, mit dem Schalter!“
„Wo ist der?“
„Na, da!“
Doch als ich den Blick auf die Badezimmerwand richtete, war diese vollkommen glatt. Kein Schalter, kein Hebel, kein Hahn.