Zwischen den Zeilen

Wenn Du mich liest,
liest Du
Wörter, die zwischen uns vorkommen
(fügst aber welche hinzu, die nicht mehr zwischen uns vorkommen oder noch nie zwischen uns vorgekommen sind)
((ergänzt sie mit einigen, die zwischen uns – bedingt oder unbedingt – vorkommen sollten))
(((und solchen, die zwischen uns vorkommen, ihre Bedeutung im Laufe unserer gemeinsamen Geschichte aber modifiziert oder verloren haben)))
((((suchst nach jenen, die nicht mehr zwischen uns vorkommen, die aber unauslöschliche, weiterhin wirksame Abdrücke dort hinterlassen haben, wo sie zuvor standen))))
(((((und versuchst dich von anderen, die aufgetaucht sind, vielleicht durch offene Gedächtnisspeicher, nicht von der Gegenwart ablenken zu lassen)))))

Das Intime steht immer in Klammern.
(Das Vertraute steht immer offen.)

Tictac

Es war richtig, diese Rebellions-Serie begonnen zu haben. Wie ich gestern zu LeBlanc sagte, haben Serien im Vergleich zu Einzelblättern den Vorteil, dass sie einen innerlichen Countdown eröffnen: Man will sie fertig bekommen, sie ticken im Kopf, der Druck wird bleiben, die Arbeit mit meiner geliebten Chinatusche auch en Allemagne weiterzuführen.
Schau’n Sie mal, ist sie nicht eine Schönheit? Ich hab’ sie in “meinem” Kramladen im Marais entdeckt. Und obwohl sie seit ungefähr fünfzig Jahren niemand ordentlich kaltgestellt hat, wie ihr Hersteller es wollte, ist sie so rabenschwarz wie am ersten Tag.
Behaupte ich.
*lächelt*

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“Je fais de la peinture. Si je pouvais, mais je peins, je partirais en vélo sur les petites routes cueillir les fleurs des champs et je les distribuerais au passant.
Je fais de la peinture. Si je pouvais j’irais chanter, j’irais crier ma joie face à ces bâtiments sourds.
Je fais de la peinture, parce que c’est intéressant et que c’est le seul moyen pour moi, en ce moment, d’atteindre quelque chose de dense, d’une densité comment dire avec des mots, d’une densité discrète. C’est difficile.
Peindre où, si l’on veut comme après la pluie, le visage s’ouvre.”

Jacques Aslanian

… in meiner freien Übersetzung:

“Ich male. Wenn ich könnte – doch ich male – führe ich mein Fahrrad über kleine Wege, um Blumen vom Feld zu pflücken und sie an Passanten zu verschenken.
Ich male. Wenn ich könnte, ginge ich singen, ginge ich, den stummen Gebäuden meine Freude entgegenzuschreien.
Ich male, weil es interessant ist; es ist mein einziges Mittel, in diesem Moment eine Dichte zu erlangen, eine, die jene von Wörtern hat, die diskret sind. Es ist schwierig. Malen. Wenn sich das Gesicht öffnet wie nach einem Regen.”

Fremdkörper

Nachdem wir den ganzen Abend über gesprochen hatten, öffnete mein Vater sein Hemd und zeigte mir einen Schnitt, der seinen Rumpf vom Brustkasten bis hinunter zum Schambein geteilt hatte. Die Ränder der klaffenden Öffnung waren verheilt. Ich konnte in seine Bauchhöhle sehen.
Die Organe waren ausgetrocknet, lange schon, vielleicht Jahre; ich weiß, wie luftgetrocknetes Fleisch aussieht. Wie lange stand er schon offen?
Eines der Organe sah aus wie sein Herz. Etwas wuchs aus ihm heraus, ein zwiebelgroßes, trichterförmiges Gebilde aus Fleisch. Auch das Herz war nicht viel größer als eine Kinderfaust.
Mein Vater sah hinaus in den Garten.
„Die Glyzinie …“, sagte er.
„Warum lässt du das nicht behandeln?“ fragte ich.
„Ich kann es selbst abschneiden“ erwiderte er, „niemand weiß davon. Bring mir ein Messer.“
„Und wenn du es nicht überstehst?“
„Das wäre nicht schlimm. Der einzige Grund, weshalb ich noch lebe, ist, weil ich denke, du hältst es ohne mich nicht aus“, sagte er.
Da rief ich einen Orkan.
Ich weiß nicht mehr, warum ich das gemacht habe.
Ich holte meine Schwester.
„Papa stirbt vielleicht“ sagte ich, „wenn er sich selbst operiert.“
„Vielleicht will er das ja“, sagte sie.
Alle mussten sich in einer großen Halle vor dem Orkan in Sicherheit bringen, den ich gerufen hatte. Ich konnte solche Dinge. Ich wusste auch, wie ich meinen Vater retten konnte, doch stattdessen hatte ich unser aller Leben aufs Spiel gesetzt.
Papa stirbt, dachte ich unentwegt.
Ich wollte mich in ihm verkriechen, in seiner Brusthöhle, vor dem Orkan.
Er war schon sehr alt. Er hatte gar keine Kraft mehr und keinen Lebensmut, nur leiden konnte er noch. Heimlich.
Ich war die Einzige für ihn und er war wie mein eigenes Fleisch für mich.
Und dann, wir drei hatten uns auf einer der unteren Ebenen der Halle versteckt, fanden die anderen heraus, dass ich es war, die den Orkan gerufen hatte.
Ich spürte es sofort. Eine Gruppe von Leuten hatte sich an der Fensterfront eines höher gelegenen Raumes versammelt und starrte auf uns herunter.

Die Wohnung

Ich schloss die Tür auf. Drinnen Lärm, drängend, poppig, südamerikanisch. Eine Musik von der Art, wie ich sie auch an guten Tagen kaum drei Minuten lang aushalte.
„Ich habe jemanden bei dir einquartiert“, hatte mein Gönner bei unserem Treffen gesagt, „nur vorübergehend. Mach’ dir keine Gedanken.“
Ich hatte nur genickt. Wollte nicht kleinlich wirken.

Über die Türschwelle die gewohnten Schritte, ich ging links zur Küche durch. Da war jetzt eine Theke aus milchigen Glasbausteinen. Der Rest der Einrichtung war blau, ebenso die Wände. Ultramarin. Wenn es eine Farbe gibt, die ich absolut hasse, dann Ultramarin.
Der Designer stand hinter der Theke und sprach offenbar mit sich selbst. Auf den ersten Blick befanden sich sechs Leute im Raum im Raum, alle Anfang zwanzig, alle in Bewegung außer ihm.
Meine Küche war vom Wohnzimmer nicht mehr abgetrennt und das Wohnzimmer weitete sich bis –
Ganz hinten übte jemand an einer Ballettstange.
Unerträglich, die Musik.
Ich ging zur Theke, legte die Hände mit den Handflächen nach unten auf das Glas und atmete durch. Rechts auf dem Boden neben mir türmte sich ein riesiger Haufen bis fast zur Decke auf. Durchsichtige Plexiglaswürfel umschlossen jeweils ein Objekt, ich sah nur kurz hin. Bestimmt an die zweihundert, die Würfel an Fäden verbunden. (Kunst? Materialproben?)
„Wie lange bleiben Sie?“, fragte ich.
Der Mann blickte zu mir herüber, unterbrach seinen Redefluss aber nicht.
„Ich sehe keine Veranlassung“, hörte ich ihn sagen. Mir wurde klar, dass er telefonierte. Knopf im Ohr.
„Ich will meine Wohnung zurück!“, rief ich.
Er wedelte mit der Hand. Galt wahrscheinlich auch nicht mir.

Mein Appartment war enorm viel größer geworden, es schien kein Ende zu nehmen. Rings um mich geschäftiges Treiben.
Erst langsam verstand ich, dass es hier nichts Vertrautes mehr gab.
„Machen Sie die Musik aus!“
Keine Reaktion.
„Hören Sie, ich kann so nicht leben.“ Ich griff mir den Arm des Designers. „Und ich hasse Blau, besonders dieses. So läuft das nicht.“
Der Mann hielt mit dem Sprechen inne, ein verständnisloser Ausdruck zog über sein Gesicht.
Ich hielt ihn weiter fest: „Aber es ist ja nur temporär. Also. Wann ziehen Sie wieder aus.“
Er sah mich an, als wüsste er nicht, wovon ich spräche.
Einer dieser Wuschelhunde, die man in die Handtasche stecken kann, tobte an mir vorbei.
Wo ist mein Bett, dachte ich.
Wo werde ich schlafen.
Von meinen Sachen war hier nichts. Einem Impuls folgend, trat ich näher an den Plexiglashaufen heran.
Da waren sie.
In jedem Kästchen war etwas eingeschlossen, das mir gehörte. Oder zumindest ein Stück davon. Ich entdeckte einen Holzsplitter von meinem Bett. Eine Feder, die hinter dem Porträt meines Vaters an der Wand gesteckt hatte. Ich wühlte weiter. Mein Ring von Daniello. Ein Stück vom 50er-Jahre-Überzug der Wäschetruhe. Ein Absatz. Mein Lieblingsschuh?
Ja.

Ich konnte hier bleiben, niemand würde mich hindern, man vertreibt schließlich keine Person, die es nicht mehr gibt.
Eine Person, die es nicht mehr gibt, kann auch nicht rebellieren. Außer, wenn