Ein Bild wandert

Erstaunlich, wie viele Leser heute von andererorts heranschlendern eines einzigen Links wegen.
So fühlt sich das also an, wenn man plötzlich Hunderte Gäste hat, anstatt der täglichen fünfzig.
Hm.
Interessant auch, wie mein »Frau im Schrank«-Foto in dem Blog, dessen Autor mich heute früh per Email bat, es verwenden zu dürfen, heftigere Reaktionen hervorruft als hier: allein, weil es dort in völlig anderem Kontext steht. Ich hatte des Experiments willen eingewilligt, ich kenne den betreffenden Blog seit langem, mir war auch klar, dass mein Bild für eine der dort üblichen Provokationen verwendet werden würde. Schien mir eine Gelegenheit mal – am eigenen Leibe sozusagen – den Effekt zu untersuchen, der eintritt, wenn man ein gleiches Bild unter gegensätzlichen Vorzeichen und mit unterschiedlichen Titeln präsentiert.
Die Versuchsanordnung ist gelungen; etwas mau ist mir trotzdem. Es gibt da einen Grat, auf dem man sich halten muss bei solchen Dingen. Auf dem ich sehr ungeübt bin, weil ich meistens alleine arbeite. Doch was rede ich … einmal geübt, schon gekonnt…

Aber vergleichen Sie einfach selbst:

Anschlussfehler

heißt es beim Film, wenn aneinandergeschnittene Szenen Unstimmigkeiten aufweisen. Ich schein’ hier auch ständig welche zu machen – zum Beispiel hab ich meinen Bericht von der Lesung nicht beendet. Bin schon wieder ganz woanders: Neue Zeichnung in Arbeit. Die Tonaufnahme von Lesung und Gespräch zumindest wollte ich aber hier einstellen. Doch 1,5 Stunden sind viel zu lang, also brauch ich erstmal ein Programm, um die Aufnahme bearbeiten und kürzen zu können. Das erledigt, müsste ich sie eigentlich von youtube aus hochladen, damit sie mir hier nicht den ganzen Speicherplatz belegt. Sie sehen, Leser, da lagen einige Hindernisse im Weg, über die ich jetzt zügig ignorierend hinweg steige, neue Ereignisse im Visier.

George Steiner revisited

»Der bedeutende Denker (…) wäre jener, der eine entscheidende Einsicht oder Idee hat und sie ausschöpft, der eine maßgebliche Entdeckung macht, einen zentralen Zusammenhang sieht; der fast ‘habsüchtig’ in einen Denkakt, eine Beobachtung und den darin enthalteten Keim investiert, das volle Potential nutzt. (…)

Wohingegen die große Mehrheit der Menschen, selbst wenn sie, sozusagen im Vorübergehen, von erlesenen Gedanken oder grundlegenden Beobachtungen gestreift sind, diesen keine Beachtung schenkt, weder zugreift noch übergeht zu ihrer Umsetzung. Wie viele Erkenntnisse gehen verloren in der gleichgültigen Flut unbeachteten Denkens, im ungehörten oder überhörten Selbstgespräch der täglichen und nächtlichen Hirnemissionen?

Warum sind wir nicht in der Lage, die möglicherweise fruchtbare Spannung, die von den immer wachen Bögen und Synapsen unserer geistigen Natur erzeugt wird, zu fassen und sie – wie bei einer elektrischen Batterie – in konzentrierter Form, als Potential, zu speichern? Es ist genau diese unendlich verschwenderische Erzeugung, für die wir bisher keine Erklärung haben. Der Verlust ist maßlos.«

George Steiner »Warum Denken traurig macht«, Suhrkamp 2006

Marktwert

Eigentlich zur Lesung. Doch schwirrt mir anderes im Kopf nach der Sauna. Leute beim Schwitzen kennen lernen ist ja heikel; nackt und rot steht nicht jedem. Bin eine Stunde geschwommen, nun erstmals nach Wochen wieder mal öffentlich unbekleidet. Der lange Weg von der Dusche zum Bademantel: Fast nur Männerblicke kreuzen den Raum; die wenigen Frauen schauen alle in sich hinein, besonders die schönen. Nacktsein und Exponiertsein ist nicht das Gleiche, sage ich mir dringlich, Du, Phyllis, bist ersteres. Kopf hoch. Haltung. Jetzt schreiten. Sò.
Minuten später bette ich den Körper auf Holz. Viel zu heiß zum sprechen. Er ignoriert das. Die Dänen üben das Saunieren schon mit fünf, vielleicht deswegen.
»Äußerst zweischneidig« sage ich später beim Eiweißshake an der Bar. »Es gibt wohl keinen Ort, an dem man so scheiße aussieht wie in der Sauna.«
Er, lächelnd: »Oh, da möchte ich entschieden widersprechen.«
»Andererseits, ist das überstanden, hat man das schlimmstmögliche Aussehen schon hinter sich. Das spricht in gewisser Weise dafür, neue Begegnungen mit einer Saunasession einzuleiten« sage ich.
Er: »Man lernt sich ohne Panzer kennen. Gut.«
Er sieht zu jung aus für einen Professor. Und als ich ihn angezogen sehe, auch zu smart. Gefährlich smart.

Doch was rede ich. Den Moment, in dem jemand sagt: »Wir brauchen mehr Stühle« verstehen nur Leute, die wissen, wie schlecht besucht Lesungen sein können. Man hat auch gelegentlich schon vor sieben Leuten oder so gesessen mit seinem Buch. Gestern aber: alles paletti. Die Freunde zahlreich erschienen, dazu ein paar interessante Fremde. Ich sitze neben von Wolzogen, wie immer perfekt gekleidet der Mann, und hadere mit meiner Lieblingsbluse. Grasgrün, seit Jahren passte sie nicht mehr, nun wieder, aber knapp. Sehr knapp. Kann sein, die beiden Knöpfe, um die es mir geht, halten keine zwei Stunden mehr durch. Hm. Was denken andere Autorinnen kurz bevor’s losgeht?
Wolzogen macht den Einstieg, ein paar Sätze zum Bibliotheksprojekt, paar Eckdaten zu mir, schulische Laufbahn, Studien. Meinerseits Begrüßung. Dann nehme ich den druckfrischen Horen-Band, beginne zu lesen. Gleich ein Versprecher im zweiten Satz. Konzentrier Dich, Phyllis. Sitz gerade, hör’ auf, an Knöpfe zu denken. Früher las ich, dass sich die Balken bogen! Ah… Ihr Freunde wart damals schon dabei. Da seid Ihr ja alle wieder. Wie schön, zusammen Lebensgeschichten zu schreiben.
Nach und nach werde ich sicherer.

Oh je, wie bleiern die Müdigkeit mich grad umfängt. Fortsetzung morgen. Gute Nacht, Leserzzzzzzzzzzzzzz.

Der frühe Vogel fängt den Wurm
Der frühe Vogel fängt den WUURM
Der frühe Vogel fängt den WUUUUURRRRRMMMM

mmmh.

(((((jetzt dreht sie durch.)))))

Gulliver

[…] Ich bin verletzt. W a r verletzt, sagen die Winzlinge, sei nun geheilt: Der Chirurg, daumengroß, stieg über Wade und Oberschenkel meine linke Hüfte empor, trieb die Bohrstange mit der Seilwinde in mein Fleisch, über der Taille durch Fett und Muskeln bis an die Quelle des Schmerzes. Schnitt mit seinem fast unsichtbar kleinen Messer dort. Ich schlief. Während ich schlief geschah das alles. Sehen Sie, der gewölbte Deckel über meiner Wunde, ich kann ihn aus dem Augenwinkel sehen; der Winzling hat das Loch nicht vernäht. Ich glaub’, für den Deckel nahm er das, was sie hier für Silikon halten. Könnt’ ich doch kurz, nur ganz kurz einmal dorthin fassen! Meine Glieder gehorchen mir nicht.
Vielleicht müsse er noch mal hinein, erklärte der Däumling. Selbst wenn er mit dem Trichter direkt in mein Ohr brüllt, klingt seine Stimme wie das Zirpen der leisesten Grille.
Noch mal hinein… Wann wird die Empfindung in meinen Leib zurückkehren? Werden sie mich ziehen lassen, die Kleinen? Mit welcher Wonne sie auf mir herumspazieren!
Sie lieben meine Hüfte; sie lagern dort. Zwei Dutzend von ihnen sind gerade jetzt dort versammelt, mindestens, ich spüre sie. Nur jene, die Absätze tragen, die barfüßigen nicht. Eben rollt etwas an meinem Bauchnabel vorbei. Vielleicht jemand hat ein Schuhchen verloren.
Sie haben Gerüste aufgestellt, mich zu ersteigen: gegen Haken und Seile wehrte ich mich, ich bin nicht Shai Hulud. Doch wenn ich die Stimme erhebe, beben ihre Häuser und Brücken in den Grundfesten. Immerhin.
Ich liege auf der Seite, wegen der Wunde. Sehe aufs Meer. Es war mein Wunsch, sie möchten mich umlegen während ich schlief; die Lähmung hat inzwischen alle Gliedmaßen erreicht.
[…]