Druckkammer

Über die Gruppe, mit der ich diese Woche arbeite, hätte ich gerne etwas geschrieben: Fünfzehn junge Leute unter achtzehn, die vor sechs Monaten ins Land gekommen sind. Flüchtlinge. Unbegleitet. Zum Beispiel darüber, wie ich mich zwischendurch auf den Stuhl stelle und stories erzähle, um sie zum Lachen zu bringen. Oder wie manchmal meine Hand auf einer Schulter liegenbleibt, bis die Körperspannung ein wenig nachlässt. Oder über den Moment, wenn sie aus den Einzelinterviews zurückkehren, die wir parallel mit ihnen führen. Wie blass einige von ihnen dann sind. Ich sprech’ sie eine Weile nicht an, bis der Innendruck wieder nachlässt.

Viele von ihnen sprechen schon so gut Deutsch, dass ich’s kaum fassen kann. Zu schreiben ist natürlich noch heikel. Wir spielen, dass wir schreiben können, wir tun so als ob: Das macht die Hand leichter. Erstaunlich, mit wie wenigen Mitteln Sätze entstehen können, auf die einer und eine stolz sein kann.

Muss los.
Würdigen Sie Ihren Tag, liebe Leser:innen.

Frauen, die auf Stühle starren

… So heißt meine neue Zeichnung. Da sie verkorkst ist, kann ich sie nicht einstellen. Später nochmal neu versuchen.
Zunächst aber eine Gruppe Dreizehnjähriger mit den Freuden des Schreibens konfrontieren: lauter junge Fußballer. Kann mir schon vorstellen, wie viel Lust die haben, den Tag mit Stift und Papier zu verbringen…
Sicherheitshalber hat Madame eine Trillerpfeife eingepackt.

(Sind Sie auch noch so slow in diesem neuen Jahr? Ich fühl’ mich wie in Gelatine gepackt … grrrr…)

16:36 Uhr

(Hat geklappt! *lächelt*)

Von Häusern und Spatzen

Wie ist die Weltlage, hat schon jemand nachgesehen? Ich selbst hab’s ja nicht so mit dem großen Maßstab. Der Prozess der Meinungsbildung, mein eigener wohlgemerkt, wird mir immer unheimlicher, je weiter ich den Rahmen aufzuziehen versuche. Versteh’ ich was von der Welt?
Wahrscheinlich nicht, aber von Menschen versteh’ ich was, das sollte gelegentlich helfen.
Am Wochenende hab’ ich wieder mit den Stipendiatinnen des SABA-Programms der Crespo Foundation gearbeitet, im Weltkulturen Museum. Kreatives Schreiben mit einer Gruppe von zweiundzwanzig ziemlich erwachsenen Frauen mit Kindern und (teilweise verlustig gegangenen) Ehemännern, zwölf unterschiedliche Muttersprachen haben wir gezählt (oder waren es mehr?), jedenfalls viele. Das sind die Situationen, aus denen ich lerne; wenn ich aus solchen Begegnungen abends mit einer Meinung rausgehe, glaub’ ich sie mir.

Hab’ übrigens gefragt, in die Runde, ob sie wüssten, was der Unterschied zwischen „Meinung“ und „Haltung“ sei. Kopfschütteln.
– Aber Meinung, das Wort verwendet ihr, sagte ich. Kopfnicken.
– Erzählt mal, wie ihr euch eine Meinung bildet.
Taten sie, konnten sie. Klar. Anschließend versuchte ich zu beschreiben, was „Haltung“ für mich ist. Sprach ein Weilchen. Sie hörten zu.
– Sag’ doch mal ein Beispiel für eine Haltung, animierte ich dann die Frau zu meiner Rechten.
– Dass ich mehr aus meinem Leben machen will?, schlug sie vor.
– Nicht schlecht, sagte ich, aber vielleicht mehr ein Lebensziel? Hat wer noch eine? Haltung?
Schweigen.
– Okay, sagte ich, eigentlich ist es ganz einfach. Eure Haltung, das ist euer inneres Gedankenhaus. Das, in dem die Werte wohnen, an die ihr glaubt, die Menschen und Prinzipien, für die ihr kämpfen würdet und die Schlüsse, die ihr aus euren Lebenserfahrungen gezogen habt. Und eure Meinungen? Das sind Spatzen, die über das Dach dieses Hauses fliegen.
Da lachten die Frauen.
Danach kamen wir ins Gespräch: erst nach diesem Bild. Spielten auch mit Synonymen; die Frauen sind heiß auf Wortschatz. „Gesinnung“ hat ihnen besonders gefallen.
Diese Begeisterung lässt mich immer an meine wunderbare iranische Freundin denken, der wir in ihren ersten Deutschlandjahren Wörter mitbrachten, besondere, aus dem Gebrauch gefallene, exzentrische, erfundene. Wir schrieben sie an die Wand ihrer Küche, wann immer wir uns dort zum Saufen Diskutieren einfanden.
Ah, sie fehlt mir gerade, diese Zeit. Obwohl es verdammt viele Spatzen gab und noch gar kein Haus.

Was war, was ist

Ein Geheimnis, das mir innewohnt, ohne dass ich es ergründen könnte: einer Gruppe liebend entgegenzutreten, das Ruder zu übernehmen, ganz unabhängig davon, wie schwer das Herz ist. Ein Hauch Navigation. Leichte Hand. Eine Brise Vertrauen, das sich niemand erst mühsam verdienen muss.
Es gilt, was ist.
Was ist, gilt.

Mehr ist nicht vonnöten.
Sorry. Die Navigatorin ist betrunken. Sie hat getan, was sie liebt, und sie liebt, was sie tut. Also darf sie trinken heute.

Unter den Schwingen

Gestern Abend moderierte ich eine Lesungsveranstaltung im Historischen Museum: Bereits zum zweiten Mal konnten wir die Texte einer Gruppe von Jugendlichen vorstellen, die sie im Rahmen des Projekts “Frankfurt life” des Kindermuseums bei mir geschrieben haben. Es sind junge Leute, wie immer ein Wurf unterschiedlichster Kulturen. Sie sind erst seit zwei Jahren im Land, als unbegleitete Flüchtlinge hier eingetroffen. Gestern Abend traten sie vor großes Publikum. Und mir, vergrippt und auch sonst nicht gerade in Bestform, oblag es, zum Gelingen dieser Mutprobe beizutragen. Was mir natürlich eine Ehre war.
Keine Mutter könnte stolzer sein als Madame, wenn sie neben “ihren” Leuten am Mikrophon steht. Jedenfalls zog mir die Freude durch die Atemröhre bis ganz hinunter in den Bauch.
Was für couragierte Gedichte und Sätze von diesem Pult aus ins Publikum gesandt wurden!

Dieses “Mit dem umgehen, was i s t”. Manchmal hat man nur begrenzte sprachliche Mittel zur Verfügung, manchmal fehlt’s an Mut, oder an Hoffnung. Manchmal ist auch einfach der Atem ganz außer und die Hand kommt nicht aus dem Zittern heraus. Doch das hindert uns nicht daran, etwas zu versuchen. Vergegenwärtigung über das Schreiben, das sich in die Augen sehen, gegenseitiges Erkennen. Humor und Zärtlichkeit. Oder ein mutwilliger Knuff im richtigen Moment. Die Veranstaltung war ein Riesenerfolg; wir standen und tranken noch, bis das Wachpersonal des Museums uns gegen neun per Lautsprecher aus dem Gebäude warf.
Ich könnte noch viel erzählen, von Blicken, Gesten, neuen Begegnungen und potentiellen Bündnissen, auch von Tränen, die geflossen sind, doch ich muss morgen nach Springe zu einer neuen Gruppe und hab’ meine Vorbereitungen noch nicht abgeschlossen.

Hai. Madame ist – aus noch anderen Gründen – sehr aufgewühlt dieser Tage. Doch das, was ich mache, die Begegnungssituationen, die ich schaffe, zu deren Intensität ich beitrage: Dieses Handeln erdet mich. Meine Schwingen, im Moment, sind am Boden ausgebreitet. Wer will, kann darunter aufatmen. Oder arbeiten. Und wer bereit ist, geht seiner Wege.
Raum geben, Raum nehmen: Ich bin mit mir im reinen.

A Propos: Für meinen >>> Workshop am 6. und 7. Dezember sind noch ein paar Plätze frei. Warum fassen Sie sich nicht ein Herz und melden sich an?