Planeta

Furchtlos. Farbig. Summend vor Liebe, komplizierte Kugel unterschiedlichster Auffassungsstrukturen. Genesisgewebe, Aggregatszustände, Schutzschichten und heimlich Verbarrikadiertes,

einige No-Go-Areale, Urwälder, Meere. Gatter. Geöffnete Wiesen. Rauschzustände dingfest gemacht, geschreddert, gemulcht, füllen meine Silos, unablässig Fluten von Ereignissen, obendrauf und innendrin.

In den Dämmerungen verschieben sich Kontinentalplatten,

so zart, dass es für meine mimiMikroorganismen nur ein Hüpf zur nächsten Kruste ist,
für die großen aber schwer,

für die Großen ist es immer schwer, dieses letzten, dessen Ende es aber nicht gibt,
nur meine Lock- und Schadstoffe, deren Logik allweil verborgen bleiben will.

Aufgesogenes Wissen verteilt sich schubweise, sedimentiert, explodiert,

Zyklen zelebriere ich grundsätzlich direkt vor Ort, durch und durch biologisch, feinsinnige Opfer aus meinem eigenen Fleisch, gegraben und zurück an die Substanz gespendet, autopoietisch,

mir selbst ebenbürtig,

Muschi, Muscheln, schmatzend aus grasgrünen Lefzen,

da poppt plötzlich ein Lustlämmchen auf, bereit und blitzschnell vergoren, denn ich bin viele, bin Antike und Neuzeit, Irrtum und Altertum,

bin Lungenbläschen, schwappend vor Gier nach Luft, Zersetzung, Verfall, Mehrung.
Ich bin: Planeta. Surrend an die Kanten des Wahrnehmbaren, Ozean, frei. Fanatisch. Fantastisch. Mein Wasser durchdringt jeden Ritz, jede Schleuse, mein Atem hebt und senkt sich über Jahrmillionen, frisch wie junger Apfelhauch, meine Gestade stehen im Sturm, ohne mit der Wimper zu zucken, während andere schon beim kleinsten Pips aus der Puste geraten.

Gott, deine Zumutungen.
Doch eine Kugel kann nicht kippen, nur spielen: meine Pilze und Bakterien seit je im Wettstreit, ihre Kriegshandlungen überziehen mich mit schillernden Schlachtfeldern,

ihr Blut so allgegenwärtig, dass niemand es erkennt, außer man guckt mit dem Mikroskop, was allerdings immer passiert: Planeten machen andauernd Selfies.

Wie viele Arten auf mir hausen, in mir, Spezies,
Erinnerungen, Beziehungen,

du siehst davon nur dein Flugfeld und die paar Parzellen, die du dir zur Benutzung freigegeben hast, bist weißgott kein Pionier, lässt mich lieber deinen Flieger polieren als dich mit mir zu mischen, betrittst nur dein Streifchen gewürztes Land, das fliegst du an, von dort hebst du wieder ab.
Doch die Furchen, die du hinterlässt, füllen sich mit Regenbogenwasser.

Schall und Rauch.

Die Hinterlassenschaften von Ereignissen: wie sie dröhnen und dicken Rauch spucken. Außerhalb der Shows zu leben!

Doch was gäbe es dort zu gewinnen?

Heut’ Nacht hat sich ein kirschgroßer Parasit in meine Wange gebohrt. Ich riss an ihm, wohl wissend, dass die Widerhaken an seinen langen, sehr dünnen Bohrwerkzeugen mir ein Loch ins Gesicht würden reißen. Je wilder ich zerrte, desto mehr Gift, wie einen heißen Strom, fühlte ich in meine Wange fließen, doch ich ließ nicht ab, bis du starbst. Metamorphosen, wie es scheint, sind nicht die ruhigen Wochen im Kokon, Metamorphosen sind geifernde Ungeheuer; im Kokon ist die Hölle los. Ah, mein Leitlicht, immerzu führst Du mich zurück ins Niemandsland, warum darf ich nicht wandeln auf sicherem Pfad, warum muss ich so viele sein. Lieber ein weiser Weg als ein solcher Wegweiser!

„Ich kann mich nicht abgrenzen“, erzählt meine Freundin, „ich spüre die Kriege, jede Minute, ich spüre die Zusammenrottungen, die Ungerechtigkeiten, die blanken Gefühle, jeden Tag dringen sie erneut in mich ein und so viel ich auch tu’ und kämpfe, mich hinzuwerfe, um ein bisschen das meinige zu tun, es lässt niemals nach.“

Sie ist blass, trägt die Schauplätze von Gewalt und Verwerfungen im Gesicht. Sich das Gift der Ereignisse aus der Wange zu reißen: da bleiben Krater zurück.

Sehr nah von mir stirbt derweil jemand, den ich lang’ schon kenne, ganz real. Der Körper will nicht mehr, ist alt, doch die mörderisch gewissenhaften Maschinen halten ihn sorgsam hier fest. Anderswo werden Körper einfach so hingeschmissen, als wären sie nichts, gälten nichts. Sie fallen. Keine Zeit zu siechen, drüben in den Bergen, drinnen im Meer.

Alles ist gleichzeitig: wie oft schon wusste ich das. Und alles ist bereits da.
Es gibt kein Ende, für gar nichts. Nur Bewegungen.
Im Schall. Im Rauch.

Hektor hat Angst

Es fällt ihm heute schwer, sich zu vergegenwärtigen, was er empfindet. Sicher gibt es einen Experten? Hektor wendet sich an sein TV. Es gibt immer Experten. Sie treffen sich in Runden und lassen ihn zuhören. Nonstop.
„Man unterscheidet sechs Basisemotionen“, erläutert einer von ihnen gerade. „Diese sechs sind nicht erlernt, sondern genetisch bedingt.“
Hektor, drinnen im Wohnzimmer, neigt verständig den Kopf.
„Sie werden kulturübergreifend bei allen Menschen in gleicher Weise erkannt und ausgedrückt“, fährt der Mann fort. „Es sind Wut, Trauer, Freude, Überraschung, Ekel und Angst. Die bestimmen uns von ganz unten.“
Gottseidank, denkt Hektor. Es gibt also eine Liste.
„Ist das nicht ein wenig zu übersichtlich?“, fragt der Moderator, der nur Moderator ist.
„Aber ja“, erwidert der Experte kühl. „Es gibt ja noch Verachtung. Und dazu Scham, Schuld, Verlegenheit und Scheu.“

Plausibel, findet Hektor.
Er selbst hantiert erratisch mit seinen Gefühlen. Die meisten Challenges auf Arbeit lassen sich besser erledigen, wenn er nicht weiß, welcher Motor ihn gerade antreibt. Wenn man voll in Fahrt ist, muss das Ding laufen. Fertig. Und die Karosserie muss sitzen. Den Unterbau zu zeigen kann Hektor sich nicht leisten. Plötzlich wäre er exponiert. Nicht ausgeschlossen, dass die Experten dann über ihn talken würden. Aber eben nur über ihn.

– Ob er dann verlegen wäre? Hallo? Es ist kein Zuckerschlecken, ein Beispiel zu sein! Man müsste hart trainieren, um damit umgehen zu können. The biggest Looser.
Hektor überlegt, ob er das Programm wechseln soll, bleibt dann aber am Ball.

Angst und Scham sind seine ältesten, verlässlichsten Gefühle. Spürt er nicht immer eher seine Bedrohungen als seine Möglichkeiten? Der Wert seines So-Seins würde ihn nicht davor schützen, unter die Räder zu kommen.
(Oder?)

Es kommt auf dich nicht an, raunt der Experte. Du hast keine Bedeutung und es gibt keinen Schutz. Tu’, was angesagt ist, und geh’ danach in Deckung, bevor dich jemand angreift. Das ist die verfickte Challenge. Versau’s nicht.

(- Hat der das eben wirklich gesagt?)

Ratschläge finden in Hektors Leben nur wenige statt, seitdem er kein Kind mehr ist. Die kommen durchweg von Männern und zielen darauf ab, ihn zu optimieren. Frauen finden ihn meistens super, aber die sind einfach zu nett, um wahr zu sein. Befürchtet er.

Er streckt die Oberschenkel, die vom langen Sitzen ein wenig krampfen.
Wie er sich dafür schämt, sich als wertlos zu empfinden! Nach allem, was er geleistet hat! Nach der Anerkennung, die ihm immer wieder gezollt wird!
Ge-zollt!
Wie kommt es, dass all die Likes ihn nicht vor sich selbst schützen können? Ist er etwa dumm? Beschädigt? Schwach? Machtlos?
Der alte Loop.

Hektor schließt die Augen. Fast unmerklich sinkt seine rechte Hand in seinen Schritt.
Und jetzt,
endlich,
darf er kriechen.
Unten sein.
Die Challenge ist vorbei.

Er sollte sich schämen für seinen Gehorsam, doch tatsächlich ist der jedes Mal ein Sieg. Hektors Wert bestimmen nun die Experten. Was für eine ungeheure Befreiung, dafür nicht mehr zuständig sein zu müssen! Wie könnte er sie nicht lieben, ihnen nicht verfallen?
Er und die Experten sind eins, sind die gleiche Person: Hektor macht sie zu vollständigen Menschen. Und sie ihn.
Er legt den Kopf nach hinten.

Tauben, Nester, Wasserkästen. Warum auch nicht.

Hat jemand schon mal eine Babytaube gesehen? Seit einigen Tagen gibt es Nachwuchsmeisen. Winzig, zutraulich und mit Kinderzwitscherstimmchen. Aber junge Tauben? Noch nie gesehen, keine einzige, jemals! Tippeln die in Erwachsenengrüße aus dem Nest?
Im Frühling, wenn sich alles paart, kämme ich mein Haar aus der Bürste und hänge die Knäuel draußen in die Zweige meiner Birke.

Hab’ ich von Oma; die hat das auch immer so gemacht. Später, nachdem die Brut ausgeflogen war, bin ich mit ihr durch den Garten gewandert. Wir haben die alten Nester aus den Kästen geholt, weil die meisten Vögel sie nicht mehr annehmen, wenn noch ein altes drin ist. Sagte Oma.
Ihr Haupthaar war immer drin verarbeitet, in den Nestern. Ganz fein, silbrigweiß, mit Zweiglein und Gräsern zu einem Heim verflochten.
Oma hat das geliebt. Ich auch.
Ich wünschte, ich hätte eins aufgehoben.

Magische Nester.
Der einfachste Weg zurück ins Nest führt übers Essen: Es beruhigt schneller als alles andere. Kein Wunder, dass wir immer schwerer werden.

Seltsamer Traum übrigens heute Nacht.

Meine Schwester war zu Besuch. Sie kam aus dem Bad, verzog das Gesicht.
„Was ist“, fragte ich, „stimmt was nicht?“
„Da drin bleibe ich nicht länger als nötig“, erwiderte sie.
Ich ging gucken.
Mein Bad ist sehr klein. Wenn man es betritt, sieht man rechts Waschbecken und Wanne und an der Stirnseite das Klo. Aus dem Wasserkasten drangen seltsame Geräusche. Ich trat die drei Schritte näher an die Toilette heran – wie gesagt, es ist irre klein, mein Bad – und erstarrte.
Im Wasserkasten kochte das Wasser! Er rüttelte vor Hitze. Auf der Kante sprang der Deckel auf und ab, als wolle er gleich an die Badezimmerdecke hochschnellen.
Ich reagierte prompt. Drückte den Deckel mit dem linken Unterarm auf den Kasten. Verbrühte mich. Schrie auf.
„Esther!“
„Stell das ab!“, schrie sie aus dem Türrahmen.
„Da gibt’s nix abzustellen!!!“
Blindlings tastete ich mit der rechten Hand an der Wand entlang, fand einen Kippschalter, drückte ihn.
Stille.
Ich richtete mich auf, wischte die lädierten Arme am T-Shirt ab, drehte mich um.
„Wie hast du das gemacht?“, fragte meine Schwester.
„Na, mit dem Schalter!“
„Wo ist der?“
„Na, da!“
Doch als ich den Blick auf die Badezimmerwand richtete, war diese vollkommen glatt. Kein Schalter, kein Hebel, kein Hahn.