Nur diejenigeln, die man sich merkt, sind wichtig. Auf meine Klage, ich sei so vergesslich, könne mir von Büchern, die ich lese, bestenfalls Bruchteile, manchmal nur einzelne Begriffe merken, erwiderte kürzlich jemand, die der Vergessenheit anheim gefallenen seien wohl nicht so wichtig gewesen. Da ist was dran. Weil man, und sei er noch so von Belang, einen Text nur mit den Rezeptoren liest, die gerade zu diesem Zeitpunkt zur Verfügung stehen. Und das sind nun wirklich nicht immer alle, die man im Repertoire hat. Ein Text ist nur in den Augen dessen, der ihn verfasst, selbstständig. Alle anderen verleihen ihm Stützrädchen.
Fast schöner noch, als sich über ein gelesenes Wort zu freuen, das im gerade richtigen Moment eintrifft, ist es natürlich, selbst eines in Umlauf zu bringen. Die einzelne Vokabel hat gegenüber einem ganzen Satz, ganz abgesehen vom vollständigen Text, den Vorzug der Prägnanz. Ein Wort zu setzen ist ein künstlerischer Akt. Er erfordert Gespür für die Beweglichkeit des Zeitflusses. Wie verhält sich die Zeit denn gerade, schlängelt sie so herum, fließt sie träge, zuckt sie, und wenn ja in welchem Rhythmus, wo ist der Moment, auf den gerade aus unerfindlichen Gründen das Licht fällt. Diese Dinge lassen sich an Gesichtern ablesen, an Dingen, an Räumen, selten an Texten.
Ein Wort muß behutsam ins Geschehen eingefädelt werden, in einen Zwischenraum, der so großzügig bemessen ist, daß es noch wachsen kann. Gelegenheiten gibt es immer, sie aufzuspüren erfordert Geschicklichkeit und Mut, man wirft die Vokabel aus dem Handgelenk dorthin, wo die Oberfläche des Flusses gerade hell aufleuchtet und im besten Fall schnappen sie danach, die Fische, die dann wieder von anderen gefressen werden, wie man weiß, und so verbreitet es sich, das Wort.
(Heute allerdings ist mir noch kein geeignetes untergekommen)
(*lacht*)
„Ich glaube, auch du, lieber Gorgias, weißt, wie Gespräche normalerweise ablaufen. Wenn die Leute sich über etwas streiten und der eine behauptet, der andere habe nicht recht oder drücke sich nicht deutlich aus, so werden sie unwillig und meinen, man würde aus persönlicher Missgunst gegen sie so reden. Schließlich gehen sie auseinander, indem sie sich gegenseitig beschimpfen und solche Dinge aussprechen, dass sich die Anwesenden ärgern, zugehört zu haben. Weshalb sage ich das? Weil ich fürchte, wenn ich dich widerlege, könntest du annehmen, ich rede nicht aus Eifer für die Sache, sondern gegen dich persönlich. Wenn du jedoch zu den Leuten gehörst, zu denen auch ich zähle, möchte ich das Gespräch gerne fortsetzen.” […]
Sokrates in Platons Dialog „Gorgias”