Vom Fliegen

Ich schwinge mich auf. Immer, wenn ich im Traum fliege, sind Leute dabei, Publikum. Verdammt, jedes Mal. Und nie Leute, die ich kenne, immer Fremde. Ich will ihnen etwas beweisen, auch das wiederholt sich. Also steige ich auf. Dafür reicht einfach der Entschluss. Ich breite die Arme aus, hebe himmelwärts ab.
Keine Angst, eine Weile. Das ist der beste Teil. Mühelos. Könnte immer weiter steigen. Vergesse die anderen, die mich bestimmt von unten mit ihren Blicken verfolgen, entgeistert sind: „Wie, sie kann f l i e g e n ?“
Nach oben gibt es keine Grenze. Aber das Gewitter. Den Sturm. Aufpassen, nicht zu hoch zu kommen, sonst finde ich nicht mehr zurück. Was ich also mache, ist, ich fliege, gleite ein paar Runden dort oben, lasse mich wieder absinken. Schnurstracks auf die Menschenmenge zu, die mein Ausgangspunkt war. Lande. Tu’ so, als wär’ das alles ganz normal, mach’ keine große Sache draus, versteht ihr. Ist halt so bei mir, mit dem Fliegen. Ich will ja nicht gefeiert werden, will nur zeigen, dass ich etwas kann, das von jenen, die bei mir sind, niemand sonst kann.
(Mein erwachtes Selbst schüttelt nur den Kopf: was für ein kindliches Bedürfnis!)
Ich will, im Traum, nicht erklären, wie es funktioniert, mein Aufsteigen; komischerweise fragt mich auch nie jemand danach. Worüber ich nie mit ihnen spreche, ist die Angst, da oben verlorenzugehen. Riesig ist die. Sie tritt erst ein, wenn ich sehr weit oben bin: beim Abheben denke ich nicht daran, da oben beherrscht sie mich.
Im Ausnahmezustand verloren zu gehen.
Hm.
Jedenfalls, heute Nacht, zum allerersten Mal, hatte ich das Gefühl, den Ablauf des Traumes verändern zu können. Ich war, wie meine Jugendlichen sagen würden, stabil. Hatte mehr Möglichkeiten. Dieses Mal war es nur die Landung, die sich anders anfühlte: Ich hatte beschlossen, noch ein paar Runden ein paar Meter über’m Boden zu schweben, weit von der Gruppe entfernt, ganz in Ruhe, das hatte ich noch nie getan vorher, war immer auf so direktem Wege wie möglich zur Gruppe zurück.
Die Luft, auf dieser neuen Flughöhe, war warm. Eine warme Zone. Ich hatte es nicht eilig, mich den anderen wieder anzuschließen.
Das ist das Neue, der Grund, weshalb ich den Traum notiere: diese Ahnung, etwas könnte sich verändert haben, der seit meiner Jugend immer wiederkehrende, uralte Flugtraum könnte seine Form verändern, mir aus irgendwelchen Gründen plötzlich mehr Möglichkeiten bieten als die alte, vertraute, maßgeschneiderte Choreographie.
(Ich will zurück ins Bett!)

So.

Noch drei Tage, dann ist auch diese Workshop-Woche geschafft. Danach erst einmal fünf Tage freiiiii.
Sorry, dass ich momentan ein bisschen karg bin hier; der November ist jedes Jahr ein harter Monat mit Wochenenden durcharbeiten und Kontrollfetisch. Im Dezember leg ich mich immer erst einmal drei Tage aufs Sofa mit Schmöker und Schokokeks.
Das Refugium scheint sehr weit weg gerade, aber der Kopf ist klar.

Und sobald der Druck auch nur ein einziges Mü nachlässt, schreib’ ich ein neues Schafgedicht, soviel steht fest!!!

Schönen Tag, allerseits!

Yours kindly,
THE OWL

Lady Unzerbrechlich

(Neinnein, keine Angst, die Dame ist kein neues Alter Ego! ; )

Bin seit gestern unzerbrechlich auf Seminar, schau’ aber trotzdem immer mal wieder hier im Atelier vorbei, hab’ auch meiner Gruppe versprochen,
ihnen TT zu zeigen.
Also, verehrte Leser:innen, bitte benehmen Sie sich heute, es sind Jugendliche unter uns!
Bionade ist im Kühlschrank, den Alkohol hab’ ich versteckt, Schlüssel liegt unter der Matte.

Schönen Samstag, allseits!

Herzlich Ihre
Madame TT


(thanx, kittenwishes, for the Abfalleimerinspiration : )

Refugium

Ich lasse mir immer viel Zeit, seine Angebote zu durchstreifen, hinter jedem steht eine Person, jede hat nur wenige Zeilen, ihr Anliegen zu beschreiben, ich lese die Zeilen, es sind Settings, es gibt Dinge, die benannt werden, die innerhalb dieser Settings passieren könnten. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass sie auch tatsächlich passieren, also Vorsicht, Wünsche werden wahr. Man sollte sich einigermaßen gewiss sein, dass man das auch will, bevor man anreist. Ich wusste bis in die Fingerspitzen, was ich wollte.
(Es gibt hervorragende Gründe, an Prognosen zum Ausgang von Situationen zu zweifeln, doch sie sind nicht interessant. Zweifel, manchmal, sind schlichtweg nicht interessant.)

In meinem Inneren sind es immer zuerst Namen, die auftauchen, wie Ausrufezeichen. So erschien Farah Day, damals, und so, seit viel längerer Zeit, auch Sanssourir. Ich spürte, dass sie da war, sie sprach aber nicht. Eine lange Weile genügte mir ihr Schweigen. Es war ziemlich beredt.
„In meinem Bereich nennt man das eine dissoziative Persönlichkeitsstörung“ sagte eine Vertraute am Telefon. „Gefällt mir, wie liebevoll du mit etwas umgehst, was sich als ausgewachsene Störung übel auswirken kann.“
Ich konnte es an ihrer Stimme hören, dass sie lächelte.
„Alter Egos zu haben ist keine Störung“, erwiderte ich.
„Bei dir nicht, nein.“

Der Ort, jedenfalls, um Sanssourir eine Stimme zu geben, ist gut gewählt. Er „weiß“ mehr als seine Bewohner, alt, wie er ist, benutzt, wie er ist. Ausgetreten. Eine Zauberschule, wenn eine es will.

Im Laufe der Tage geschehen Dinge mit mir, mit uns. Wie soll ich die beschreiben? Außerhalb des Raumes, in dem wir uns tagsüber aufhalten, wird nicht gesprochen. Was die Neuen wissen müssen, steht auf kleinen Schildern. Auch, auf einem Klappschildchen am Futterplatz der Kätzin, dass man ihr keine zusätzlichen Speisen verabreichen soll. Ich bin nicht neu, kenne alle Schildchen auswendig. Besonders das am Hoftor, auf dem steht:

Haus der Stille. Zutritt nur mit Anmeldung

Da muss ich immer an die Fastenklinik meines Romans denken, deren Pforten sich auch nur für Befugte öffnen.
Anderswelten.
Es gibt so viele von ihnen. Wir kommen dorthin zusammen, um sie, eine zeitlang, zu vermischen. Dann gehen wir wieder fort.

Am ersten Abend, zuverlässig, überkommt mich ein Gefühl, abreisen zu wollen, es ist so stark, dass ich fast kotze. Irre. Ist jedes Mal so. Niemand kann etwas dafür, ich nicht, der Ort nicht, die Menschen nicht, die mir gegenüber sitzen, ihre Gedanken, Motive. Ich nehme die Körper wahr, Gesichter, Münder, beobachte, was ihre Hände tun, während sie sprechen, die Füße, ob sie zuckeln, ob der Hals mitschwingt beim Artikulieren, ob sie sitzen, als ob sie ein Gelege unter sich hätten.
Vorstellungsrunden, wenn’s nach mir ginge, würden abgeschafft. Ich komme an diesen Ort im Zustand des Niemandseins, da ist jedes Fetzchen Selbstdarstellung kontraproduktiv.

(Auf der Arbeitsliste hab’ ich mich für Kapokzupfen eingetragen.
Besser als Küchendienst. Nähen kann ich eh nicht. Letztes Mal hab’ ich Toiletten geputzt, Übung in Demut, wie mein damaliger Kursleiter es nannte, der Hypnosegeek.)

Die Frauen, im Laufe der Tage lerne ich einige von ihnen zu lieben, so unwahrscheinlich das klingt. Wir haben Wesentliches miteinander geteilt, das Strömen. (Strömen. Klingt richtig.)
„Methodisches will ich die nächsten Jahre eigentlich nur noch von Frauen lernen“ sage ich. (Jemand wollte wissen, warum ich den asketischen Meister, das Oberhaupt des Ortes, nicht wirklich kennen lernen möchte, keine Kurse bei ihm wahrnehme.)
„Warum?“
„Ich will eruptiv lernen, nicht methodisch.“
„… und das können dir Frauen besser vermitteln?“
„Nein, aber sie halten mich dabei weniger auf Linie.“

Auf Linie.
Sanssourir kümmert sich nicht um Linie. Sie schert sich um gar nichts, das Sicherheit suggeriert. Ich werde ihr eine Rubrik geben. Vielleicht macht sie ja weiter, jetzt, nachdem sie ihre Stimme gefunden hat.

Frieden.

Immer wieder kommt mir Eugenie Faust in den Sinn, ihr Lächeln, ihr langsames Abschiednehmen. Ich habe sie nie persönlich kennen gelernt und spürte doch durch dieses seltsame Medium, dieses Netz hindurch, was für ein zutiefst ungewöhnlicher, warmer und inniger Mensch sie war. Ich denke an sie und an jene, die sie lieben.

Fünf Stockwerke

Das Gebäude, in dem die Bilder lagern, die ich während des Studiums gemalt habe, wird demnächst abgerissen; sie müssen raus. Mal wieder. Ich bin schon mehrere Male mit ihnen umgezogen, nun hatte ich eigentlich beschlossen, sie dort im obersten Stock stehen zu lassen. Ich hätte sie noch einmal fotografiert. Dann, dachte ich, hätte ich mich auf die Straße gestellt und zugesehen, wie der Abrisskran seine Arbeit verrichtet, doch so soll es anscheinend nicht kommen, denn der Mann meines Herzens legte Widerspruch ein. Keinesfalls dürfe ich mich von ihnen trennen.
Warum nicht, sagte ich, sie sind zu ihrer Zeit ausgestellt gewesen, einige von ihnen haben ihren Weg zu neuen Besitzern gefunden, die, die noch übrig sind, haben es einfach nicht geschafft, wichtig zu werden, sie waren nicht stark genug, also weg mit ihnen.
Aber d i r sind sie wichtig, sagte er.
…Nein.
Doch.
Lass mich in Frieden damit.
Sie sind ein Teil von dir.
Aber ein vergangener!
Lass’ deine Zerstörungswut an etwas anderem aus!
– Und so ging das eine Weile.

Und nu’ hole ich den Transporter und fahre dorthin und steige ichweißnichtwievieleMale dieses wunderschöne Treppenhaus rauf und runter mit dem Oevre meiner Studentinnenzeit, belade das Gefährt und karre die Bilder aufs Land. Dort stehen sie dann beieinander auf einer grünen Wiese, kauen friedlich ihren Hafer und genießen ihr Altenteil. Oder so ähnlich.