Farah Days Tagebuch, 41

Donnerstag, 30. Juni 2016

„Killekille…“
LeBlanc neckt meine Rose mit den Fingerspitzen.
Ich seh’ nur ihren ellenlangen, fingerdicken Stiel, unten scharf angeschnitten. Auf den würden glatt zweidrei Köpfe passen: einfach beherzt durch die Ohren durchschieben.
Bin latent zornig. Überhaupt sehr latent seit zweidrei Jahren: Mein Zorn Meine Brisanz treibt unter der Oberfläche, kein Wunder, dass der Kopf so rauscht und fiept, sobald die Alltagsgeräusche verstummen. Die von mir konsultierten Ärzte rieten zur Ablenkung, also habe ich Watte ausgesät: Riesige Baumwollfelder. Die sind durchaus effektiv. Inzwischen fungieren allerdings so große Areale als Lärmschutz, dass sich manchmal mein ganzes Denken wattiert anfühlt, auch tagsüber.

„Bei uns in China sagt man, ein einziger Tropfen Milch genüge, um ein ganzes Glas Wasser einzufärben.“
Immer wieder denke ich an Liyus Satz vom vergangenen Sommer zurück.
(„Willst du nicht so ein Tropfen sein?“)

Stattdessen verstecke ich mich in den Baumwollfeldern.
Kann ich inzwischen einfach zu gut.
Der Morgen regnet vor sich hin. Wie oft haben andere schon in Worte gefasst, wie es sich anfühlt, aus dem Trockenen ins Nasse hinauszusehen, der Klang der Tropfen, durchnässtes Licht, dieses heimliche Vollsaugen mit Melancholie? (Und die ganzen nassen Vögel. Wie schmal die dann sind.)
Bin nicht nur latent, sondern auch voller Ideen, die auseinanderstieben wie ein Schwarm aufgescheuchter Spatzen. Sei laut und nimm Einfluss, tschilpen sie, und nimm gefälligst die Watte aus den Ohren!
Der Morgen ist wach und geil und voller Krisen.
Vielleicht gibt er mir was davon ab.

Lionel die Aloe

Lionel ist vor einiger Zeit auf den Balkon ausgewandert. Für alle, die es interessiert: Der Umzug ist ihm und seiner Gefährtin Madame Klee sehr gut bekommen. Charmant auch, dass sich in Lionels schlupfigen Spalten immer Sonnenblumenkerne sammeln, die mir aus den Händen gleiten, wenn ich das Vogelhäuschen befülle. Da diese Spalten feucht sind, erwarte ich demnächst das Keimen weiterer Bewohner in der Blumentopf-WG.

Jaja, ich weiß, Lionel ist komplett unwichtig. Für mich aber nicht. Bin gerade aus einem Workshop für interkulturelle Kompetenz herausgewankt, randvoll mit Eindrücken und Stimmen, bin heimgeradelt und auf den Balkon getreten.
Während ich weg war, hat meine Kleinstnatur das gemacht, was sie immer macht, ob ich nun zusehe oder nicht: Sie ist gewachsen. Der Reiherschnabel (heißt wirklich so, die Pflanze) hat ein paar Blüten vorbereitet, die Kapuzinerkresse hat mehrere grüne Ärmchen in den Wind gehängt und so weiter.
Alles prima.

Habe heute über “sichere” und “riskante” interkulturelle Kommunikation referiert. Darüber will ich auch noch schreiben. Aber jetzt nehme ich mir erst einmal ein Buch und einen Schluck Talisker und schaue Lionel beim Nichtstun zu.

Wünsche allerseits einen schönen Abend in guter Gesellschaft. Morgen ist auch noch ein Tag, hat meine Oma immer gesagt. Ihre bestimmt auch.

Herzlich!
TT

Sprich in meinem Namen

Ein Fehler, fast ein Unrecht: sich so leise zu machen. So diskret. Man stelle sich nur einmal vor, dass zu allen aufgeregten und oft felsenfest überzeugten Stimmen, die uns täglich um die Ohren gehauen werden, auch noch die leisen und schüchternen hinzuträten: all die, die sich lieber raushalten, den Mund nicht aufkriegen, verstummt sind vor Enttäuschung, nicht schlagfertig zu sein, nicht ausreichend im Bilde, nicht witzig genug, um mithalten zu können im Gewirr.
“Sprich in meinem Namen.”
Wie oft, ohne das wir’s explizit aussprechen, überlassen wir den Lauten das Spielfeld, den Fuß- und Sprechballern?
Oft. Ich zumindest. Ich reagiere allergisch auf Konflikte. Die sind aber mit den Lauten nicht zu vermeiden. Deswegen, um meine Belange (seltsames Wort) nicht untergehen zu sehen, fing ich früh zu schreiben an.
Allerdings fällt mir zunehmend auf, dass mich immer dann die Lust dazu überkommt, wenn die Bedingungen gänzlich ungeeignet sind. Wenn aber genug Zeit wäre, die Lohnarbeit getan ist, surfe ich im Netz, lese oder sehe Filme. Die schnelle Nummer.
Nicht schlimm? Andere machen’s doch genauso. Das Problem ist nur, ich vermisse den Zustand der Eigenmächtigkeit, wenn ich nicht schreibe, dieses innige Gefühl, mich in meiner eigenen Welt zu bewegen. Auffällig ist auch: Je seltener ich schreibe, desto ungelenker wird mein Vokabular. Von poetischer Aufladung ganz zu schweigen. Das schriftliche Denken will nämlich gepflegt werden, geölt und hofiert, sonst bleiben irgendwann nur noch die schnellen Nummern übrig.
Die Herde der langsamen Wörter weidet irgendwo in meinem Kopf. Wenn ich mein innerstes Schreiben zurückhaben will, muss ich sie wiederfinden.

Die Sprache der Anderen, 73

[…] Eine ihrer Konflikte und Leidenschaften enthobene, befriedete Weltgesellschaft, die das Ziel eigentich aller politischen Bemühungen ist, produziert jedoch zugleich eine universelle Angst: Die Menschen werden ständig daran gehindert, sich “einzubringen”, und sie entwickeln eine chronische Angst davor, ihre Bedürfnisse mit der notwenigen Aggressivität zu äußern. Diese chronische Angst richtet unvorstellbar zerstörerische Energien gegen das, was anders ist als man selbst. […]

“Einladung zur Gestalttherapie, eine Einführung mit Beispielen”, Erhard Doubrawa/Stefan Blankertz, Peter Hammer Verlag 2010