Gestalt – Fragmente

Eine Woche Seminar „Einführung in die Gestalt(therapie)“ in Köln, zu acht, mit zwei Therapeuten. Spannende Sache!

– Das muss man w o l l e n, wie ich abends zu Ladybird sagte.
Ladybirdsiehtsoschönaus dachte ich ständig in diesen Tagen. Wir haben uns dieses Abenteuer als gemeinsames Lebenskapitel ausgedacht, nach der Lektüre von „Don’t push the river“ und „Burst out laughing“. Barry Stevens: Nur diese beiden Bücher hat sie geschrieben.
Hab’ ja schon wiederholt von ihr erzählt, wenn auch jetzt länger nicht mehr. Was „nur“ daran liegt, dass meine Schreibimpulse mich häufig in Situationen überfallen, die kein Schreiben zulassen und lang wieder verschwunden sind, wenn Zeit dafür wäre.
Hey, Kleines, vielleicht ist Widerstand ja in Ordnung. Niemand muss, flüstert Barry. Zwei Bücher kriegst Du in Deinem Leben locker auch noch hin, lass Dir doch Zeit.

„Ein Widerstand gegenüber Veränderung ist Beistand und Stütze. Widerstand heißt hier: ‚Jetzt noch nicht!’“, schrieb Lore Perls, Mitbegründerin der Gestalttherapie. Die eigentlich weder eine Therapie ist, weil nicht auf „Heilung“ psychischer „Probleme“ ausgelegt, noch ist sie ein Angebot, innere Zustände visuell zu gestalten. Sondern sie als Phänomen zu spüren. Und zu versuchen, Worte dafür zu finden.
Ich schreib’ das nur hin, weil viele Leute beim Wort Gestalt immer gleich an Gestaltung denken und an therapeutisches Malen.
Aber nix da.
„Gestalt“ ist eine Veranschaulichung, eine Denkfigur, mit der der Ansatz der Gestalttherapie umrissen werden kann. Oder auch nicht. Wer interessiert ist oder gar involviert, denkt und fühlt sich eh seinen eigenen Teil.

– Wir haben nur Einfluss auf unser Verhalten, sagt der Therapeut am ersten Tag; wir sitzen ganz klassisch im Stuhlkreis,
– Wir haben nur Verantwortung für unser Verhalten. Wir haben k e i n e Verantwortung für unsere Wirkung auf andere, und keinen Einfluss auf diese Wirkung.
Hoppla.
So eine Ansage muss ich mir erst einmal auseinandertüfteln.
Es klingt richtig. Würde aber bedeuten, dass alle – inklusive mir –, die es darauf anlegen, auch ihre Wirkung auf andere mitsteuern zu wollen, in einer Art Größenwahn befangen wären.

Wir arbeiten an dieser Annahme gemeinsam, ich, Ladybird (die immer wieder sagt, sie sei ja nun schon lang aus dem Arbeitsleben ausgeschieden und wolle, bitteschön, das alles nur aus Selbsterkenntnisgründen ergründen…),
und die anderen sieben Leute im Raum.
Der Therapeut ist ein Buddha, beleibt, gut gelaunt, ein blitzschneller Provokateur, wir anderen müssen:wollen mit-halten: den Boden bereiten für Einzel- und Gruppengespräche. Nichts ist verbindlich vorgesehen, das meiste, was zwischen uns passiert, entsteht aus der Situation heraus. Oder fühlt sich zumindest so an. Wir weben uns einen Boden, ein Netz, eine Tragfläche für geteilte Erfahrungen.

(tbc)

Schnipsel erzählen

Aus welchen Gründen auch immer: Mein Schreibvermögen hatte sich in letzter Zeit mal wieder davongeschlichen und lag gemütlich zusammengerollt irgendwo in der Ecke eines Schweigezimmers.
Es gibt diverse Schweigezimmer in mir. Dort wird viel gedacht, das sich von anderen nicht anfassen, begreifen lassen will. In ihnen herrscht pure Gegenwart. Nichts wird ausformuliert, geschweige denn bewahrt oder mit anderen geteilt. In meinen Schweigezimmern ist die Welt nicht größer als ich, sondern ich bin größer als die Welt. Und verdammt viel stiller.
Das ist weder gut noch schlecht. Es ist einfach so.
Dann, nach einer Weile, entrollen sich die Vermögen wieder, verlassen ihre Refugien und gesellen sich zurück zu der Gruppe von Eigenschaften, die mich ausmachen: zumindest in den Augen der Anderen.

Die Frau, die vor ein paar Tagen bei mir zum Textcoaching war. Einzelstunde. Sehr sympathische Erscheinung, kam mit sechs von Hand vollgeschriebenen Büchern, setzte sich und ihre Bücher an meinen mit Tuscheflecken übersäten Tisch. Warum so viele?, dachte ich anfangs, ein einzelnes Exemplar hätte als Ausgangspunkt für unser Gespräch durchaus genügt. Die Frau wollte aber zeigen, was sie hat, was da ist, womit wir arbeiten können. Sie wollte unseren Ausgangspunkt be-greifbar machen.
Ich verstand das bereits im Verlauf der ersten halben Stunde. Wir sprachen dann noch lange. Bevor sie ging, sagte sie: »Ich bin jetzt erschöpft. Aber auch sehr zufrieden, dass ich mich so vertrauensvoll erlebt habe. Ich habe das vorher noch nie gemacht, so privat über mein Schreiben gesprochen.«
Die Freude, solches bewirken und begleiten zu können, hat in all den Jahren nichts an Intensität verloren. Mein Vermögen, anderen Kraft zu geben, hängt nicht von meiner Tagesform ab: Es aktiviert sich, sobald es gebraucht wird.

Dazu ein Eindruck, den ich im Gespräch mir einem Arzt gewann, mit dem mich eine zarte Freundschaft verbindet: seit meinem ersten Termin bei ihm, nach dem wir uns zu unserem ersten Glas Wein verabredeten.
Der Arzt, vor ein paar Tagen, erzählte mir von seinem Unvermögen, sich alleine unter Menschen zu begeben: er brauche immer eine Begleiterin. Das war kein Flirtversuch, sondern Fakt. »Vor einiger Zeit ging ich aus dem Haus«, erzählte er, »mit der festen Absicht, eine Vernissage zu besuchen. Ich kam bis zur Eingangstür der Galerie. Dann kehrte ich wieder um.«
»Du bist ja schlimmer als ich«, lachte ich. »Kein Wunder, dass du unsere Verabredungen so oft in letzter Minute absagst.«
Er ist ein verdammt guter Therapeut. Ein Heiler. Auf sich selbst kann er diese Künste aber nur bedingt anwenden; das verbindet uns auf seltsame Weise. Er muss sich nie entschuldigen, wenn er mir ein Treffen absagt, muss keine Ausrede erfinden.

Fragmente erzählen: damit will ich mir mein Schreiben zurückerobern. Mal sehen, wohin das führt.

Farah Days Tagebuch, 44

Donnerstag, 29. September 2016

Angsfrei

Der Karneval der Ängste ist vor ein paar Tagen weitergezogen. Nach gut vierundvierzig Jahren wurde es auch Zeit, ich brauche den Platz. Tagsüber kann man sich ja arrangieren, doch ab Mitternacht beginnt die Schicht der Hardliner…
Die arbeiten durch bis zum Morgengrauen.

Als mein Karneval damals anrückte, war ich noch ein Kind, zu unbedarft, die Tarnung zu durchschauen. Ängste kommen ja mit Glitter im Haar und in feine Wörter gekleidet. Die sind gewieft! Immer schon gewesen.
Hätte ich ahnen können, dass sie alle Schaubuden waren? Firlefanz? Die gehören zu mir, dachte ich. Schützen mich vor Schlimmerem.
Meine Wagenburg.
Jahr um Jahr, während ich älter wurde, hab’ ich mich von ihnen breitschlagen lassen, bis genug Gelände für alle da war.
Sie ließen mich in dem Glauben, die Managerin zu sein.
(((Ha!)))

Als die erste Bude damals auf den Platz rollte, war ich wie geblendet: Auf ihren beiden Längsseiten prangte in güldenen, gesperrten Lettern das Wort
V o r s i c h t
Im Laufe der Jahre ist das Gold natürlich ein bisschen abgeblättert. Ebenso das von der R ü c k s i c h t: Die rollte direkt hintendran mit der zweiten Bude ein. Und die dritte, klar, stellte die N a c h s i c h t zur Schau.

Während diese drei ewig auf meinem Gelände zusammenstanden, haben die übrigen immer mal wieder ihre Stellplätze gewechselt. An sie hab’ ich mich deshalb nie so gewöhnt wie an die ersten: Die waren das Siegertrio. Jede mit eigenem Treppchen zum Einsteigen.
Ich hab’ das erst so spät kapiert! Dass die Wagenburg scheiße war, die Versammlung meiner Tugenden nichts als ein Arrangement hübsch beschrifteter Angstbuden.

Woher ich neulich die Kraft nahm, ihnen die Pacht zu kündigen?
Keine Ahnung
Wahrscheinlich hab’ ich schlichtweg die Schnauze voll davon, gelobt werden zu wollen.
Wird spannend, jetzt herauszufinden, wer mich auch ohne mein Siegertrio noch toll findet.
Die weite, geräumte Fläche fühlt sich jedenfalls komisch an, so angsfrei. Muss mich erstmal dran gewöhnen; plötzlich ist es ziemlich leer in mir.

Sogar das t ist weg.
Hat sich wohl in einer der Buden versteckt bei der Abfahrt.