Zweiter Brief. Ein schweigsamer Fremder.

K****, 11. Juni 2010

Lieber Dr. Sago,

ganz früh spielte ein Leierkasten direkt vor meinem Fenster. Überraschend in diesen Breitengraden, nicht wahr? (Ah, ich vergesse wieder, Sie kennen meinen Aufenthaltsort nicht… endlich, endlich einmal bin ich Ihnen voraus, lieber Doktor!) Ob wohl ein alter Mann, der langen Winter in Europa überdrüssig, vor Zeiten beschloss, mit seinem Instrument hierher auszuwandern? Er mag der einzige seiner Art in dieser riesigen Stadt sein.
Ich bin etwas erschöpft; die erste Nacht war nicht geeignet, die Ruhe zu bringen, von der Sie sprachen. Doch wie hätte ich mich schonen dürfen? Es roch unwiderstehlich; viele Stunden folgte ich den neuen Aromen bis in kleinste, dunkelste Straßen hinein. Als ich mich in den frühen Morgenstunden auf blossen Füßen (leichtsinnig war das!) kaum noch aufrecht halten konnte, erhob sich ein Herr, den mein Stolpern offenbar anrührte. Er war recht schweigsam – ganz wie Sie, obwohl Sie wissen, dass ich das nicht mag! – während er mich nach Hause, über die Türschwelle und zu meinem Lager trug.
Gott, die Kinder draußen. Wie ich diese kleinen Bälger beneide, die weder Lust noch Rage brauchen, um zu schreien.

Ich muss wieder hinaus, heute suche ich den Fluss.
Bleiben Sie mir gewogen?
Herzlich
Ihre
L.

Erster Brief. L. kommt nach K**** und greift zur Flasche.

K****, 10. Juni 2010

Lieber Dr. Sago,

ist es wirklich erst einen Tag her, dass Sie mir die Hand zum Abschied reichten? Die geben Sie mir selten. Ich war überrascht, wie trocken sie war. Ja. Eine feste, trockene Hand, wie mit Magnesium eingerieben. Ich kenne diese Glätte von früher, aus der Turnstunde. Kaum, dass ich merkte, wie Sie, als Sie meine ergriffen, mit zwei Fingern rasch über mein Handgelenk strichen. Ich soll wissen, Sie kümmern sich, nicht wahr? Deswegen auch Ihre dringende Bitte, ich möchte Ihnen Bericht erstatten.
(Haben Sie denn nicht langsam genug von mir?)
Die ganze lange Reise über war ich in Trance. Die sich fortsetzte, als ich mein Gepäck abstellte und nach der Flasche griff, die ich im eisig gekühlten Vorratsraum fand, die Flüssigkeit wie Wasser hinunterstürzend. Sie fuhr mir unmittelbar in die Blutbahnen, glaube ich … ich muss schnell eingeschlafen sein, denn eben, als ich erwachte, war es bereits Abend. Jemand hat meine Kleidung in den Schrank gehängt. Die Vase auf dem Holztisch ist voller Pfingstrosen jetzt, rosafarbene; die mag ich am liebsten. Die Blüten sind aber noch vollständig geschlossen. Ein recht dickes Buch liegt nun da, Titel und Autor geschwärzt, wie ich verwundert feststellte. Ich sah eben kurz hinein, ein Briefwechsel, doch ich bin zu müde, darin zu lesen. Sie werden mir gewiss nicht schreiben. Wie auch? Ich habe Ihnen die Adresse nicht genannt. (Oder doch? Ich erinnere mich nicht.) Ich wüsste gerne, wer mir die Reisekleidung ausgezogen hat.
Im Nebenhaus singt ein Mann, arabisch, glaube ich, ein Singsang eher. Er bricht immer wieder ab, als sei er in Bewegung. Ah! Jetzt verstehe ich: ein Gebet. Er wirft sich zur Erde…
Es ist so heiß auf den Straßen hier, dass der alle paar Stunden einsetzende Regen verdampft, sobald er den Asphalt berührt. Ich werde ohne Schuhe in die Nacht gehen.

Bis morgen.
Ihre
L.

TTag, 9. Juni 2010. Vorbereitungen.

Guten Morgen!
Ich werde die nächsten zwei, drei Wochen vom Ausland aus schreiben: möchte morgens mal wieder in einem anderen Bett aufwachen, andere Vorhänge aufziehen, durch ein anders unter meinen Absätzen hallendes Treppenhaus nach draußen treten, um andere Gesichter zu sehen. Mein Arbeits-, auch das Lohnarbeitsmodell erlaubt mir solche Phasen – ich bin nur immer wieder verwundert von mir selbst, weshalb ich sie nicht häufiger einlege. Wollte allerdings erst einmal meinem Rücken wieder etwas mehr vertrauen können: Schmerzen im Ausland wiegen doppelt. Sieht aber ganz gut aus. Mein schöner Physiotherapeut hat es in den letzten Wochen doch tatsächlich geschafft, mir etwas Ruhe ins Rückgrad zu zaubern (obwohl mich seine sachlichen Berührungen zu durchaus unruhigen Gedankenspielen veranlassen, aber, psssst!, das wird er nie erfahren)
Texte werde ich mitnehmen, die zu überarbeiten sind, dazu alles, was ich zum Zeichnen brauche. Zu den vier kommenden hab’ ich schon Titel – so beginnt das immer bei mir, erst Titel, dann Bild. Bei vielen Künstlern, die ich kenne, ist’s genau anders herum, doch die haben das Schreiben nicht als primäres Medium.
Wie ich mich freu’, mal wieder aus der Stadt zu kommen! Auf Tisch und Sofa liegen Klamotten und Arbeitsmaterialien für mindestens drei Monate … das muss noch schwer ausgedünnt werden heute. Nicht das ganze Wohlfühl- und Sicherheitsarsenal mitnehmen: drei Kleider, Schuhe, Laptop, mehr soll nicht übrig bleiben.
Wer will ich sein in der Fremde? Dem Alter Ego Raum zum spielen geben.

TTag, 5. Juni 2010. Von Flegeln und warmen Steinen.

Wie still es war heute morgen, als wären alle fort. Noch liegend zog ich mein linkes Bein an die Brust, Hände um den Oberschenkel. Fühl’ was. Da ist immer noch Taubheit, die sich zum Fußrand hinunter zieht. Wie langsam der Nerv erwacht, von seinem Ärger los lässt, so gequetscht worden zu sein. Von meinem Unmut, sich überhaupt in diese Situation gebracht zu haben, will er indes nichts wissen.
Ich erhebe mich, Espressomaschine, Paulus Böhmers neues Buch auf dem Badewannenrand, ein paar Zeilen: wie man immer darin eintauchen kann, an jedem willkürlich gewählten Punkt. Mein Gefährte pflegt Bücher im Bad abzulegen, bringt mir meine Bibliothek zu Bewusstsein. Ich mag das, weil ich dazu neige, nur in die Hand zu nehmen, was sich als neue Lektüre an meinem Bett stapelt.
Schauen, ob sich Schlaflose heute Nacht geäußert haben: nein. Nur der Flegel, der kürzlich schon mal rumpanschte. Ich behielte ihn ja gerne da, wer weiß, vielleicht rappelt er sich noch, die Einladung ist jedenfalls ausgesprochen.
Nebenan bei cellini las ich eben von Thymian, der sich Steine aussucht, nah bei ihnen zu wachsen. Weil er die Wärme liebt, die sie speichern. Ich halte das ähnlich.
Gestern hab’ ich lohnarbeitstechnisch geschludert, muss das nachholen. Dann Park, Freunde, einen leichten Schwips in der Sonne, weil ein Glas zu heben ist: meine in England lebende Schwester hat Geburtstag – sei innig umarmt, semiothicghosts! Dies wird ein privater Tag.

[…]

»… eine Frau ist allein. Sitzt vor einem Spiegel.
Wie sie, vor dem Spiegel, alleine,
die Spuren an ihrem Körper bemerkt,
erfährt sie, alleine, den doppelten Verlust.
Ein Mann hat, seit seines Lebens, nur im Stehen geliebt,
als ob ihn das Lieben, anders,
auf die Seiten der Toten schlüge.
Und ein Pochen, ein Knistern, ein Rauschen,
und dahinein entwickelte sich das Gehirn
wie das Ballen in dichten Knäueln, wie das Fangen mit einer Hand
– jedes Kleinkind, das seine eigene, separate Haut entdeckt
weiß davon mehr als wir.
Wer einen Stein berührt, verändert ihn schon?
Wer das Meer berührt, macht es anders?«

[…]

Paulus Böhmer
aus: »Am Meer. An Land. Bei mir.«
Verlag Peter Engstler, 2010

Smartes Vokabular, 5

»Ambiguitätstoleranz«

= Unsicherheits- oder Ungewissheitstoleranz
= Gegenteil von Vorurteilsbereitschaft
= Die Fähigkeit, Widersprüchlichkeiten, kulturell bedingte Unterschiede oder mehrdeutige Informationen, die schwer verständlich oder sogar inakzeptabel erscheinen, wahrzunehmen und nicht negativ oder vorbehaltlos positiv zu bewerten
= Voraussetzung für interkulturelle Kompetenz
= Die Fähigkeit, Schwebezustände, in denen keine Entscheidungen fallen, auszuhalten und trotzdem geordnet und durchdacht weiter zu arbeiten
= Erwünschte Kernkompetenz von Lehrenden

Quelle: verschiedene