K****, 11. Juni 2010
Lieber Dr. Sago,
ganz früh spielte ein Leierkasten direkt vor meinem Fenster. Überraschend in diesen Breitengraden, nicht wahr? (Ah, ich vergesse wieder, Sie kennen meinen Aufenthaltsort nicht… endlich, endlich einmal bin ich Ihnen voraus, lieber Doktor!) Ob wohl ein alter Mann, der langen Winter in Europa überdrüssig, vor Zeiten beschloss, mit seinem Instrument hierher auszuwandern? Er mag der einzige seiner Art in dieser riesigen Stadt sein.
Ich bin etwas erschöpft; die erste Nacht war nicht geeignet, die Ruhe zu bringen, von der Sie sprachen. Doch wie hätte ich mich schonen dürfen? Es roch unwiderstehlich; viele Stunden folgte ich den neuen Aromen bis in kleinste, dunkelste Straßen hinein. Als ich mich in den frühen Morgenstunden auf blossen Füßen (leichtsinnig war das!) kaum noch aufrecht halten konnte, erhob sich ein Herr, den mein Stolpern offenbar anrührte. Er war recht schweigsam – ganz wie Sie, obwohl Sie wissen, dass ich das nicht mag! – während er mich nach Hause, über die Türschwelle und zu meinem Lager trug.
Gott, die Kinder draußen. Wie ich diese kleinen Bälger beneide, die weder Lust noch Rage brauchen, um zu schreien.
Ich muss wieder hinaus, heute suche ich den Fluss.
Bleiben Sie mir gewogen?
Herzlich
Ihre
L.