Auch im Jardin des Plantes

gibt es schnelle, mittelschnelle und langsame Jogger. Ihr Selbstbewusstsein erkennt man leicht daran, welche Art der Flüssigkeitsmitnahme sie praktizieren.
Manche umkrallen die gute alte ein-Liter-Volvicflasche, andere die kleine Badois, die ganz coolen tragen Gürtel, an die handgranatengroße, mit Flüssigkeit gefüllte Objekte geschnallt sind. Wasser? Lachgas? Eigenblut?

Ich selbst hab heute langsam meine Abschiedsrunden gezogen, ohne Wasser, Gürtel, Ampullen. In der internen Hierarchie der Jardin-des-Plantes-Jogger hab ich damit so ungefähr Ringeltaubenniveau.

Da, die Laufstrecke. Ganz vorne die mit den Eigenblutinfusionen.

die Wal

Gut, dass es im französischen eine Walin ist, la baleine. So ein klitzekleiner Artikel, gell, aber ich finde, der weibliche passt zur Form des Wals einfach besser. Auch der Mond ist eine Frau in der Grande Nation, la lune. Wie sich das wohl auf deren romantische Dichtung ausgewirkt hat?
Versucht mal, bei unseren eigenen Mondgedichten aus dem Mond eine Frau zu machen, “die Mondin steht schwarz und schweiget” zum Beispiel, … das ist psychologisch was ganz anderes, oder?

Ich geh jetzt laufen. Guten Morgen, Leser!
Der Sonn (männlich im französischen) wird mir sonst zu heftig; wenn ich jetzt nicht lostrabe, verbrennt er mir die Denkerstirn ; )

Der Flow

Immer noch bin ich nicht frei davon, zu befürchten, was andere über mein künstlerisches Können oder Nichtkönnen zu sagen hätten. Meine Ideen. Immer noch ist es so, dass mich allein schon die Vorahnung dessen, was als Reaktion auf meine Arbeit eintreffen könnte, vom Handeln abhalten kann.
Ich verhalte mich wie jemand, der übelste Kritik und Häme einstecken musste – ein gebranntes Kind. Kaum zu begründen das, denn Zustimmung für meine Position war immer da, Neugier, Unterstützung auch. Sogar Respekt.
Warum also zittere ich oft herum wie ein Junges, was weder zu meiner Stimme, noch zu meiner Erscheinung passt, noch nie, doch mit zunehmendem Alter immer weniger passt, lasse mich von Befürchtungen abhalten, die konventioneller nicht sein könnten?

An anderen weckt solches Verhalten meine schlimmsten Abgrenzungsreaktionen, fast einen Beißtrieb. Vielleicht ja gerade, weil ich’s so gut verstehen kann. Und weil ich dafür bin, solche Bangigkeit zu benennen, doch dann als Schleuse in ein wie auch immer geartetes Anderes zu verwenden. Wer bei der Benennung bleibt, diese immer weiter verfeinert, verfehlt sich; dahinter gibt es etwas.
Ich möchte Erfindungen machen.
Wenn ich eine Figur zeichne.
Wenn ich einen Text schreibe, ein Wort verwende, das mir zufliegt.
Es geht um Ausholen. Rezeptiv sein und ausholen, sehen, was aus der subjektiven Themenwelt zu greifen ist, manifestiert werden kann. Es dann auch abbilden, ohne Scheu.
Die Scheu hat immer mit einer möglichen Reaktion anderer zu tun. Man gewöhnt sich sehr gut, zu gut daran, in ihr zu wohnen, wie in einer Aura, wie in einem Pavillon, der in einem abgelegenen Park steht und in den sich nur selten Besucher von außen verirren.

Während ich schreibe in der Pariser Wohnung, bei offenen Fenstern, dringt ein Streitgespräch zu mir herüber, das quer über den Hof in einer anderen Wohnung geführt wird. Eine Frau, ein Mann. Beide sprechen akzentuiertes Französisch. Seit einer ganzen Weile gehen die Stimmen auf und ab.
Eben sagt die Frau:
-Tu me prends pur une merde. Tu m’ecoutes jamais. Ich bin scheiße für dich. Du hörst mir niemals zu.
– Je ne comprends pas, sagt er. Je te prends pas pour une merde. Ich verstehe nicht. Du bist nicht scheiße für mich.
Die Frau hat eine Stimme, die aus dichtestem Gewimmel herausragen würde, sehr deutlich spricht sie.
– Tu t’arranges, sagt sie, du arrangierst dich.
Ihre Ansprache zeitlos in ihren Wellen, routiniert, immer wieder aufs Neue an den Strand des anderen anspülend.)

Doch zurück zu meinen eigenen…
Was treibt mich? Warum wollte ich immer Künstlerin sein, schöpferisch arbeiten? Und warum – da dieser Drang doch stark genug war, für den Freiraum, den er benötigt, einiges an Sicherheit und Konvention ziehen zu lassen – warum zaudere ich dann immer noch so sehr, dass das Zaudern oft mehr Platz einnimmt als die eigentliche Arbeit?
Ich greife zum schweren Wort.
Nein, lieber nicht.
Bei „nein, lieber nicht“ fällt mir ein: Hermann Melville hat 1853 eine seltsame kleine Novelle geschrieben, sie heißt „Bartleby the Scrivener“ und handelt von einem Menschen, der im Laufe der Geschichte an seiner Lebensverweigerung zugrunde geht. Auf Forderungen, die von seinem Vorgesetzten an ihn gestellt werden, sagt er immer wieder den einen Satz: „I would prefer not to“ – ich würde lieber nicht…“
Die Novelle, aus der Perspektive des Vorgesetzten erzählt, ist deshalb so interessant, weil dieser fasziniert ist von der bleiernen Ruhe und Selbstverständlichkeit, mit der sein Schreiber ihm den Gehorsam verweigert: Er wünscht sich dringend, hinter dessen Geheimnis zu kommen, bringt ihm auch Sympathie entgegen.
So wenig kann er der stoischen Ablehnung seines Schreibers entgegensetzen, dass er sich am Schluss gezwungen sieht, aus seinem eigenen Büro auszuziehen, weil Bartleby es sich als Schlafplatz erkoren hat. Er will den Mann schützen. Und sich selbst: Vielleicht, um nicht infiziert zu werden von dessen alles verschlingender Antriebslosigkeit.
Bartleby geht dennoch verloren.
Ich fand immer, das ist eine der traurigsten Geschichten, die ich kenne.
http://www.lesekost.de/us/HHLUS04.htm

Das Zaudern verwandeln.
Darum hab ich mir die Auszeit genommen hier, ein leeres, beunruhigend weißes Atelier bezogen. Inzwischen ist es voller Zeichnungen. Manche davon sind so verkorkst und wuselig, dass ich sie kaum ansehen kann, andere souverän, manche gut. Ich hab mich gezwungen, nur die allernichtigsten wegzuwerfen.

Am schwersten fällt mir, das UND WAS KOMMT ALS NÄCHSTES abzuweisen, das sich immer wieder einschleicht, vergegenwärtigen gehört nicht zu meinen Stärken. Obwohl ich seit Jahren weiß, dass ich nur im Zustand der Ausblendung arbeitsfähig bin.
Wie lange am Stück muss man etwas praktizieren, damit es zu einem Selbstverständnis wird, das den Wiedereintritt in den Alltag übersteht? Ich hatte vier Wochen außerhalb meiner bestehenden Gewohnheiten. Zeit genug, ein paar neue zu entwickeln, vier Monate wären vielleicht besser gewesen. Genug war es doch. Die Stunde Laufen morgens im Park, die Denken und Atmen wenigstens einmal am Tag anders taktet, kann ich auch zuhause beibehalten.
Die Zeichnungen? Mal sehen. Ich hab ein paar Ideen, die doch dem gebieterischen Was Kommt Als Nächstes in die Hände spielen. Der berühmte Flow. Erfahrungsgemäß verändert er sich, wenn das Setting wechselt; auflösen wird er sich nicht.
Morgen räume ich das Atelier.

Für G. und C.

also, G… sagt,

(und irgendwie lässt mir das keine Ruhe seitdem), also sie sagt, meine Texte seien so crisp und meine Zeichnungen, nun, sie bekäme das noch nicht so recht zusammen.
Was aber, so sagt sie weiter, gar nichts machen würde, denn vielleicht würden sich diese Text und Bild- Elemente mit der Zeit ja doch irgendwie .. fügen.
Ich hab dann sofort wieder eine Stimme im Nacken, die sagt, Phyllis, deine Zeichnungen sind kindlich und albern, bleib beim Text, damit stehst du gut da und verrätst dich nicht.
Tja.
Mal die Eule fragen.

Bonjour Tristesse

Gestern “Bonjour Tristesse” von Francoise Sagan zu Ende gelesen. Die Geschichte des siebzehnjährigen Mädchens Cecile, die mit ihrem Vater den Sommer in einer Villa auf dem Land verbringt. Der Vater ist ein Frauenheld; die Tochter ist es gewohnt, seine Fixierung auf schöne (dabei etwas schlichte) Frauen mit Abgeklärtheit, ja fast Langeweile zu beobachten.
Das ändert sich, als Anne, eine Freundin der lange verstorbenen Mutter einer Einladung des Vaters in die Villa folgt, ohne zu wissen, dass dessen junge Gespielin Elsa ebenfalls anwesend ist.
Bonjour Tristesse ist aus der Sicht der Tochter geschrieben. Eifersüchtig auf die fremde Frau, die zu einer seriösen Beziehung fähig und damit auch in der Lage wäre, ihr den Vater “auszuspannen”, zu dem sie ein komplizenhaftes Verhältnis hat, entwirft sie einen Plan, diese loszuwerden.

Francoise Sagan schrieb das Buch 1954, als sie selbst gerade mal achzehn war; ihr Vater fand sich etwas zu gut darin wieder und bat sie, es unter eben diesem Pseudonym zu veröffentlichen. “Bonjour Tristesse” wurde ein unglaublicher Skandal – und Erfolg. Kaum 150 Seiten, ein Büchlein eher, verkaufte es sich wie warme Semmeln und machte Mademoiselle Sagan im zarten Alter von achzehn berühmt und reich. Sie kaufte sich Sportwagen, Freunde, Drogen, in den Achzigern führte sie sogar ihren eigenen Nachtclub in Paris, bis ihr Stern dann irgendwann, na ja.
Ich wünschte, ich hätte das Buch mit Anfang zwanzig gelesen… inzwischen bin ich eher im Alter der eleganten Anne, die den Manipulationen der eifersüchtigen Tochter zum Opfer fällt… ächz

Der Roman ist (zumindest im Original) gut zu lesen und hat mich auf seine Art sehr berührt.
Wie die blutjunge Sagan es schafft, einen mit hinein zu ziehen in dieses Szenario, dessen kühle, leicht dekadente Schwingung allein aus der merkwürdigen Abgeklärtheit der Protagonistin heraus entsteht. Unheimlich auch. Das Mädchen Celile, das erzählt, ist ja erst siebzehn. Sie ist verwöhnt, gelangweilt, einsam und gerät in Wut, wenn sie spürt, dass sie nicht im Mittelpunkt steht: Dann sinnt sie auf Rache.
Bonjour Tristesse ist die Geschichte einer Siebzehnjährigen, die mit der Blasiertheit des Teenagers an den allzu offensichtlichen Hebeln der Erwachsenen dreht, ohne einschätzen zu können, welche Katastrophen daraus entstehen können.

Es ist leicht, die Erwachsenen zu steuern, stellt sie fest, man muss sie nur an ihren Motiven packen.

Das macht sie denn auch, teilweise sehr plump, wie es eine Siebzehnjährige eben nicht besser hinbekommt, doch es funktioniert trotzdem: Die Manipulationen gelingen, obwohl sie von einer absoluten Anfängerin betrieben werden.
Das unheimlichste an Bonjour Tristesse ist vielleicht dies:
Cecile ist bei aller (ihr von der Autorin zugeschriebenen) Intelligenz viel zu unbedarft und grob in der Anwendung ihrer Hebel. Das kann doch nicht klappen, denkt man als Leser, die wird bestimmt bald einen Klaps auf ihren impertinenten Hintern kriegen!
Kriegt sie aber nicht. Daran merkt man dann wieder, wer diesen Roman geschrieben hat – eine verdammt kluge, selbstbewusste Achzehnjährige.
Chapeau.