Die Sprache der Anderen, 53

“Phyllis, Sie brauchen einen, der Sie kämmt, Sie brauchen außerdem einen Stiftdienst und einen Fusselrollendienst.”
W.M., Seminarteilnehmer, 18 Jahre, Oktober 2013

Nachdem er einige Male beobachtet hatte, wie ich mich während des Seminars bürstete, übernahm W. die Verantwortung: Immer, wenn er den Eindruck hatte, seine Seminarleiterin sei wieder etwas zerzaust, zeigte er auf die Bürste, die stets neben meinem Laptop liegt. Nachdem dies zum ersten Mal geschehen war, ernannte ich ihn zu meinem Assistenten; zu diesem Behufe habe ich immer ein Extra-Ansteckschildchen “ASSISTENZ” dabei, sein Status war somit offiziell bestätigt. Im Laufe des Seminars erweiterte W. seinen Aufgabenbereich, kümmerte sich um Eddings und Flipcharts und behielt meine Gesamterscheinung mit großer Kompetenz im Auge. Um auch mein Ego zu bürsten, versicherte er mir mehrmals, große Angst vor mir zu haben.
Wenn dieser junge Mann die Bedürfnisse arbeitender Frauen weiterhin so genau beobachtet, wird er noch viel erleben.

Zwischenmeldung

Es gibt ja Blogger:innen, die schreiben live von der Buchmesse; ich gehöre nicht zu dieser Kategorie, deswegen war ich etwas wortkarg die vergangenen Tage! Ab heute Nachmittag dann ein Seminar “Schreiben als kreativer Prozess” in Neuss, wir reisen mit vier Trainern an. Ich freu’ mich schon, jetzt vom Buchmessenmodus Abschied zu nehmen – die kleine Gruppe Jugendlicher, mit der ich die nächsten beiden Tage arbeiten will, kommt meiner derzeitigen Stimmung viel mehr entgegen. Und kommende Woche?
Will ich schreiben und wieder zur Ruhe kommen. Keine meiner leichtesten Übungen dieser Tage, Fuchur der Glücksdrache möge mir beistehen. Und Ihnen natürlich! Sowieso!

Bleiben Sie mir gewogen,
Ihre
Madame TT

Die Axt am Boden des Brunnens

So. Da wären wir mal wieder, hm? Draußen nüscht viel los, drinnen umso mehr, Küche wieder sauber, nachdem die Freunde gestern mit dem Kartoffelbrei spielten. Irgendwer hat das übrig gebliebene Eiweiß auf den Steinboden fallen lassen, hie und da glitschte es in den Morgenstunden an unseren Fußsohlen. Vive la Boheme, wenn du meinen Löffel ableckst, leck ich deinen.

(„Was, meinen Löffel?“
„Kannst Du dir aussuchen.“)

Fingernägel kurz wie nie, Schnellschreibkuppen. Eben die hellgraue Jeans von vor zwanzig Jahren anprobiert, die mir Zadok mitgab, als ich nach Deutschland zurückkehrte, passt wieder (jeyi!), voll abgerissen das Teil allerdings. So rotzig kann ich heutzutage nicht mehr rumlaufen, außer vielleicht mit Kaschmir drüber.
Du bist antibürgerlich, sagte ein englischer Journalist letztens in der Sauna, doch nach dem zu urteilen, was seinen Blick bannte, sagte er das zu meinen Brüsten: Ihr zwei seid antibürgerlich. Ich vermute, er meinte indiskret. Was nicht ganz von der Hand zu weisen ist, jedenfalls sind sie offenherziger als andere Stellen. Was jetzt vielleicht nur jene Leserinnen verstehen, die über wirklich große verfügen: Manchmal ist man ihnen schlichtweg nicht gewachsen, hebt sie lustlos durch die Gegend, manchmal amüsieren sie einen, manchmal hängt man wonnig wie in Trance an ihnen dran und versucht einfach nur, Schritt zu halten, während sie auf der Jagd sind, kurz, große Brüste sind ein Abenteuer für sich, doch das nur eben bei. (Klingt besser als nebenbei, nicht wahr.)
Und weiter.
Oder wollen Sie mehr wissen von großen Brüsten.
Na gut, das noch: Man braucht andere Gesten, um sie in den Griff zu bekommen, beherztere vielleicht, immerhin, sie leisten Herausragendes in Sachen Kommunikation, sie lehnen sich, könnte man sagen, ganz schön weit aus dem Fenster (was gelegentlich auch sowas von unpassend sein kann, ahem), insofern (schlage ich vor und beherzige es auch selbst) sollte man sich ein bisschen blinder auf die Natur verlassen, die wird’s schon richten.
Kleinlaut wirkt jedenfalls nicht.
An kleinlauten Tagen, jetzt aus der Sicht der Trägerin gesprochen, hilft nur Oversize und Sonnenbrille. (Die heißen im Englischen übrigens „shades“ und wenn man fünfzig davon gesammelt hat, bekommt man einen echten Softsadisten zum Spielen)
Mei, das läuft heute aber. Muss an den Schnellschreibkuppen liegen.
Doch zurück in die Sauna.

(„Oder?“
„Nö.“
„Ok, dann nicht.“)

Jedenfalls, die Gänse sind weg. Abgehoben in den Süden, der Park leergefegt, dafür jede Menge Krähen und die bleiben auch. Raaahraaa. Ab jetzt wird’s ernst. Ab jetzt, Farah, lass mich eine Weile an Deinem Strang ziehen, während meiner im Wind weht. Denk nur an das kleine, uralte Karussell im Jardin des Plantes, für Monate wird es nun hübsch verpackt ausharren, bis die ersten Spitzen wieder aus dem Boden schieben: Kroküsse wahrscheinlich. Es zerreißt mich jetzt schon, wie

(Aber lass gut sein Farah, ja, lass es gut sein: Ich glaube an Dich. Lass Dich nicht einwintern, Du bist nicht sentimental, im Gegensatz zu mir, Du bist meine Wildnis, mein Zorn, meine Axt am Boden des Brunnens.)

dunkel es werden wird.

Die Idee zu dieser Rubrik ist die Variante eines vor einigen Jahren veranstalteten Wettbewerbs der Stiftung Lesen, doch das spielt keine Rolle: wollte man nur noch tun, was nie zuvor getan wurde, man käme aus dem Nichtstun gar nicht mehr heraus. (Außerdem kann man für gute Bücher gar nicht genug werben.)

Der erste Satz, so die Behauptung, ist der Haken, mit dem man sich den Leser krallt.
Der magische Haken.

Überprüfen Sie das doch mal…

Nehmen Sie Ihr Lieblingsbuch oder Ihre aktuelle Lektüre zur Hand und schauen Sie, ob schon der erste Satz Sie in Bann zieht… und dann bitte schicken! Wenn Sie Muße haben, schreiben Sie noch ein paar Sätze dazu, warum das so ist. Sie könnten auch eigene Produktionen vorstellen, wir sind nicht bei der Klassensprecherwahl: Erste Sätze aus Ihren eigenen Romanen sind willkommen : )

Die Rubrik wird weiter wachsen. Ihre einzige Ordnung besteht aus der zeitlichen Reihenfolge, die sich aus der Sendung Ihrer Beiträge ergibt; man kann und soll in ihr stöbern, zur Recherche ist sie ungeeignet. (Es hilft allerdings, wenn Sie Datum und Verlag der Erstpublikation mit dazu schreiben)
Wenn kein Einsender zum Zitat genannt ist, stammen die Beiträge von mir, bzw aus Romanen meiner eigenen Bibliothek.

Content “Erste Sätze” (nach Reihenfolge der Einsendungen):

1.] John Cowper Powys / A Glastonbury Romance
2.] F. Scott Fitzgerald / The Great Gatsby
3.] James Joyce / Finnegans Wake
4.] Anthony Burgess / Earthly Powers
5.] William Gibson / Neuromancer
6.] Ricarda Junge / Eine schöne Geschichte
7.] Djuna Barnes / Nachtgewächs
8.] Jonathan Franzen / Freedom
9.] Nick Cave / Und die Eselin sah den Engel
10.] Sören Kierkegaard alias Constantin Constantius / Die Wiederholung
11.] Günter Grass / Die Blechtrommel
12.] Flann O’Brien / Der dritte Polizist
13.] Alban Nikolai Herbst / Der Arndt-Komplex
14.] Halldór Laxness / Das gute Fräulein
15.] Kazua Ishiguro / Die Ungetrösteten
16.] Valeria Narbikova / Wettlauf.Lauf.
17.] Péter Esterházy / Harmonia Caelestis
18.] Angela Hornbogen – Merkl / Hannelore Bahl oder Der Eselsfurz
19.] Janet Frame / towards another summer
20.] Alice Munro / Die Liebe einer Frau
21.] Sylvia Plath / The Bell Jar
22.] Christine Lavant / Aufzeichnungen aus einem Irrenhaus
23.] Samuel Beckett / Murphy
24.] Arthur Adamov / Ende August
25.] Aldous Huxley / Das Genie und die Göttin
26.] Hermann Broch / Der Tod des Vergil
27.] Wolf v. Niebelschütz / Die Kinder der Finsternis
28.] Vladimir Nabobov / Ada oder Das Verlangen
29.] Marcel Proust / A la Recherche du Temps Perdu
30.] David Foster Wallace / Infinite Jest
31.] Unica Zürn / Der Mann im Jasmin
32.] Michel Leiris / Die Spielregel, Band 1: Streichungen
33.] Stig Larsson / Die Autisten
34.] Chimamanda Ngozi Adichie / Purple Hibiscus
35.] Julio Cortazár / Rayuela
36.] Zeruya Shalev / Liebesleben
37.] Foster Wallace / Infinite Jest
38.] Richard Powers /Schattenflucht
39.] Peter H. Gogolin / Calvinos Hotel
40.] Rolf Lappert / Nach Hause schwimmen
41.] Albert Camus / L’étranger
42.] Heimito von Doderer / Die Merowinger oder Die totale Familie
43.] Pascal Mercier / Perlmanns Schweigen
44.] David Foster Wallace / The Pale King. An Unfinished Novel
45.] Wilhelm Genazino / Abschaffel
46.] Jaimy Gordon / Lord of misrule
47.] Virginia Woolf / The years
48.] Thomas Bernhard / Holzfällen
49.] Thomas Bernhard / Meine Preise
50.] Yasmina Reza / Une désolation
51.] Ayn Rand / The Fountainhead
52.] Gregory David Roberts / Shantaram
53.] Arno Geiger / Der alte König in seinem Exil
54.] Yasmina Reza / Adam Haberberg
55.] Dieter Forte / Auf der anderen Seite der Welt
56.] Alberto Moravia / Desideria
57.] Herzmanovsky-Orlando / Maskenspiel der Genien
58.] William Vollman / The Royal Family
59.] Theodor Mommsen / Römische Geschichte
60.] Sibylle Lewitscharoff / Blumenberg
61.] Alban Nikolai Herbst / Meere
62.] Aldous Huxley / The genius and the goddess
63.] Herman Melville / Moby Dick or The Whale
64.] Monika Helfer / Bevor ich schlafen kann
65.] Franz Kafka / Der Prozess
66.] Tim Parks / Dreams of Rivers & Seas
67.] Charles Dickens / Oliver Twist
68.] Tom Rachman / The Imperfectionists
69.] Anna Katharina Hahn / Kürzere Tage
70.] Phyllis Kiehl / Fettberg
71.] Gerbrand Bakker / Oben ist es still
72.] Gerbrand Bakker / Der Umweg
73.] Anna Katharina Hahn / Am Schwarzen Berg
74.] Jonathan Franzen / The Corrections
75.] Cees Nooteboom / Mokusei!
76.] Iwan A. Gontscharow / Oblomow
77.] Peter Nádas / Parallelgeschichten
78.] Franz Kafka / Das Schloß
79.] Christopher Ecker / Fahlmann
80.] Alban Nikolai Herbst / Argo. Anderswelt