Auf Wiedersehen Herr Kempowski

„Nicht mehr, als ich wollte, aber doch, wie sich’s gebührt“ sagte Walter Kempowsi auf die Frage hin, wie es sich anfühle, nun doch Ehrungen zu erhalten, als Schriftsteller, endlich.
Als sein Gesprächspartner sagte, er habe den Eindruck, dass Kempowski trotz schwerer Krankheit noch einige Projekte vorhabe, sagte dieser einen für seine Situation erstaunlichen Satz: „Die Leute warten doch jetzt auf meine neuen Bücher,“ sagte er mit einem kleinen, kleinen Lächeln, „da muss ich doch schreiben. Früher musste ich mich den Leuten aufdrängen. Man könnte fast auf die Idee kommen zu sagen, jetzt gerade nicht… da könnt ihr lange warten…“

Er hatte zum Zeitpunkt dieses Interviews nicht mehr lange zu leben: Trotzdem beschäftigte ihn der Gedanke, sein widerstrebendes Publikum, das ihm so lange Anerkennung verweigert hatte, gründlich zappeln zu lassen – jetzt, zum Ende seiner Schaffenskraft, da ihm die öffentliche Anziehungskraft ausgewiesen wurde, von der nur er immer unbeirrbar wusste, dass er sie hatte.

Ich habe kein einziges Buch von Kempowski gelesen. Werde das wohl nachholen. Er ist gestern gestorben. Heute Nacht kamen Aufzeichnungen vieler Gesprächsrunden auf NDR, ich habe die halbe Nacht damit verbracht, zuzuhören, wie er sich darstellte zu verschiedenen Zeitpunkten seines Lebens.
Der Mann war unbeirrbar. Er verzog selten das Gesicht, und wenn doch, dann zu einem Lächeln, das immer genau dosiert war. Er war fein; von innen, glaube ich. Und fürchterlich getrieben von der selbst gestellten Aufgabe, deutsche Geschichtsbewältigung auf eine Weise zu betreiben, die er für seine Pflicht hielt und für die niemand außer ihm den Atem hatte.
Für mich strahlte er etwas aus, eine Art Fremdsein in allen Runden, das nicht auflösbar war. Wie imprägniert von der Erfahrung, nicht zum Kreis derer zu gehören, die ihn eigentlich hätten aufnehmen müssen. Kann man einen Filmer interviewen, der einen dabei filmt, wie man ihm Fragen stellt? Man kann. Man kann auch einen Schriftsteller befragen, der zu seinen eigenen Büchern geworden ist und beständig weiter schreibt im Kopf, auch wenn er gerade öffentlich ist. In beiden Fällen ist das Resultat ein Kunstprodukt.

Kempowski hat mich beeindruckt. Gerade in seinem letzten Interview, als er schon ganz schmal geworden war, die Stimme nur noch ein Umriss. Doch diese Haltung: Vorsichtig und hellwach dem Tode entgegen gehend. Wie er den Eindruck vermittelte, sein Werk sei alle Verausgabung wert. Und wie dieses Lächeln etwas gelöstes hatte, das in früheren Jahren nicht erkennbar war.

Seine Website: http://www.kempowski.de
In dieser Form wird sie sicher nicht mehr lange bestehen.

Nachtrag

Ein weiterer Beweis für die manipulative Kraft der großen Geste: Ich hab eine Passage aus dem vorigen Beitrag gestrichen. Die Sache über die RAF, die Kopftuchträgerin und die Selbstmordattentäter. Hatte nachträglich den Eindruck, mit den paar Zeilen, schon gar im gleichen Absatz, könne ich das nicht abhandeln, würde dem Einsatz nicht gerecht, der auf der handelnden Seite gemacht wird.
Wie kann man aber auch freimütig (tolles Wort) über Menschen nachdenken und schreiben, die das Gewicht ihrer eigenen Existenz dazu verwenden, ihre Haltung zu manifestieren? Die sich und andere auslöschen, um Veränderung zu bewirken?
Da der Einsatz so verdammt hoch ist, fühlt man sich genötigt, auch in der eigenen Reaktion und Bewertung großes Gewicht zu entwickeln. Das ist wohlkalkulierte emotionale Erpressung.
Mein Denken ist eines, das sich im abwägenden zuhause fühlt, ich kann’s nicht leiden, wenn man mir Felsbrocken ins Gelände wirft und dennoch liegen sie überall herum. Jeder Bauer weiß, dass die wegzuräumen sind, bevor das Feld –

Die große Geste

Eine kurdische Politikerin sollte vereidigt werden als neue Abgeordnete im türkischen Parlament, erzählt meine Freundin X. Ihren Eid hatte sie auf kurdisch gesprochen, wohl wissend, dass ihre Sprache in diesem Zusammenhang verboten und ein Tabubruch war. Gleich danach wanderte sie ins Gefängnis, wo sie seit acht (!) Jahren inhaftiert ist.
Imponiert mir nicht sehr, sage ich, jetzt sitzt sie im Knast und kann für ihre Landsleute nicht mehr das geringste ausrichten. Hätte sie nicht besser daran getan, die türkische Regierung nicht wegen akuten Gesichtsverlusts in Zugzwang zu bringen und stattdessen zu versuchen, in parlamentarischer Arbeit die Anliegen ihrer Landsleute zu vertreten?
Nein, wäre es nicht, sagt X. Man braucht die Schaffer, und man braucht diejenigen mit der großen Geste: Sie öffnet Räume, die andere dann besetzen können. Selbst wenn die mit der großen Geste unsympathisch wirken.

Unsympathisch wirken? Interessant. Ja, warum eigentlich? Warum ist mir die große Geste so schwer verdaulich? Die Frage ist, welche Hebel man zur Verfügung hat, um die eigene Auffassung in der Welt zu manifestieren? Ich will diejenigen außen vor lassen, die, aus welchen Gründen auch immer, weder den Weitblick noch die geistigen Voraussetzungen besitzen, sich ihrer Alternativen bewusst zu sein. Vielleicht, weil sie schlicht keine haben. Über die existenziellen Entscheidungen dieser Leute kann ich überhaupt nichts sagen.

Wohl aber über meine. Ich empfinde eine Art Hassliebe für die große Geste.
Als Schröder zum Beispiel sagte, Putin sei ein lupenreiner Demokrat: Jeder wusste, das konnte nicht stimmen, auch Schröder selbst musste es wissen, Männerfreundschaft hin oder her. Warum hat er’s also gesagt? Und warum ist dieser Satz immer noch präsent im kollektiven Gedächtnis, während andere, weit bessere, klügere, längst verschwunden sind?
Die großen Gesten – auch unsere westlichen – entwickeln eine unverwechselbare Art von Energie. Man könnte sie fast magisch nennen. Die Erinnerung daran (und man muss sich natürlich klar sein, dass nur das zählt: In welcher Form sich Handeln im Gedächtnis ablegt. Denn wie viele Leute sind schon live dabei, wenn eine große Geste gemacht wird? Sie entsteht erst in der Rekonstruktion) – die Erinnerung daran ist meistens mit Genuss verbunden.
Man freut sich daran, dass diese ‚Popstar-Erinnerung’ so klar konturiert ist. Dass man auch im Rückblick noch weiß, welche Meinung man dazu hatte. Die Geste hat zum Zeitpunkt ihrer Ausführung polarisiert und tut dies auch Jahre später noch. Das ist ihre Verführung: Sie lässt sich gut merken; sie behält ihre Kontur. Angela Merkel fährt während Schröders Regierungszeit zu Busch, um zu signalisieren, dass ihre Partei und damit (vermeintlich) die Hälfte des deutschen Volkes die „Keine Panzer im Irak“-Politik der SPD nicht mitträgt. Ich fand ihr Verhalten damals abstoßend. Gemerkt habe ich es mir aber, im Gegensatz zu vielen Entscheidungen, die sie seitdem getroffen hat.
Meine Hassliebe für die große Geste: Eifersucht auf ihre Prägnanz und Nachhaltigkeit, Ablehnung angesichts ihres vereinnahmenden Wesens. Denn sie spricht zu oft für viele, sie repräsentiert. Und ich frage mich immer, ob die Mitrepräsentierten überhaupt gefragt worden sind, ob sie das wollen.

Welche Mittel stehen uns zur Verfügung für ein solches Superzeichen des Verhaltens, als Privatpersonen? Für welchen Kontext wäre es wünschenswert? Leute wie ich schreiben. Die große Geste fordert aber Vereinfachung – und die Fähigkeit, Erwägungen rechts und links, oben und unten auszublenden. Nur so wird Zuspitzung möglich. Natürlich kann man den Körper als Verstärker benutzen. Besonders auffällig sein, besonders schön oder hässlich, besonders trainiert oder manipuliert, besonders laut. Oder tausend andere Sachen. Doch solange der Körper nicht öffentlich einhergeht mit der Botschaft, das heißt gleichzeitig mit der Botschaft präsent ist, nutzt er nicht viel.

(to be continued)

Die Alten.

Vorgestern in Polylux tv: Ein ironischer Beitrag über „Altershipness“: Leute in Jeans, coolen Sneakers, Laptoptasche über der Schulter. Man geht hinter so einem Kerl her, sagt die flutschige Moderatorenstimme, sieht super aus von hinten, man denkt sich, hm, könnte interessant sein. Dann läuft man an ihm vorbei und – bärg!!! – das Gesicht! Schon Mitte vierzig, oder sogar fünfzig. Altershipness-Alarm. Wenn man sie fragt, was sie machen, heißt es weiter, sind die Altershippen entweder irgendwas mit Werbung, in ein Galerieprojekt verwickelt, oder, zu achzig Prozent, verbringen sie ihre Zeit damit, im Internet ihren Namen zu googeln.
Ups, lustig, erwischt! Mach’ ich alles auch. Und, klar, Polylux hat eine junge Zielgruppe. Abgrenzung ist was feines. Deswegen jetzt auch von Tainted Talents ein offizielles Statement: Ich hab’ nichts gegen junge Leute. Sollen sie jung sein, straffhäutig und unverfroren wie die Könige.
In meinem Revier allerdings stelle ich immer wieder fest, dass es die Älteren sind, die meine Neugier wecken. Was ist schon groß dabei, wenn man zwischen zwanzig und dreißig gute Ideen und einen knackigen Arsch hat? Zwischen dreißig und vierzig kann einem dann eh kaum jemand etwas anhaben, wenn das Psychokorsett nicht allzu löchrig ist. Ab dann? Wird’s spannend.
Bis dahin hat man nämlich gemerkt, was ein Haushalt ist. Und damit meine ich nicht die Wohnung. Ich mag diesen Ausdruck in den Augen, der mir sagt, dass jemand weiß, was scheitern und wieder anfangen bedeutet. Was können mir schon Leute in die Wagschale werfen, die gerade mal den ersten Versuch der Selbst-Positionierung hingemanscht haben?
Also, nichts gegen die Jungen. Aber spannender sind oft die schon lange im Rennen befindlichen. Die dosieren können. Und die einem nicht wegen jeder Hierarchie- und Identitätsklärung gleich wie die Terrier ans Bein gehen. Sorry, Polylux –

Erweiterung der Knautschzone

Jedes Mal, bevor ich loslege, überlege ich, wie privat meine Sachen werden dürfen, und müssen, um interessant zu sein – und wie diskret sie zu sein haben, um eine gewisse Haltung bewahren zu können: Angesichts der unzähligen online-Schreiber, die ungeniert ihr Privatleben teilen. Wenn nicht schlimmeres.
In den ersten Jahren nach meinem Studium habe ich öffentlich aus meinem, na ja, nennen wir’s ruhig Tagebuch, gelesen; da war ich noch nicht so spröde. Hinterher kamen immer Leute und sagten, sie hätten sich wiedergefunden in meinen Texten. Sie wünschten sich (ganz offensichtlich), dass jemand (an ihrer statt) die Vorhänge zurückzog vor den Intimitäten und Verwirrungen, den Ungereimtheiten, den Zweifeln, die uns alle plagen.
Heute frage ich mich schon, in welcher Weise es mir schaden könnte, hier zusätzlich zu meinen unverfänglichen Texten Räume privater Natur zu öffnen. In die dann alle (die Wohlmeinenden und die Hinterhältigen) hineinstolzieren könnten. Warum, würden diese Leute mit Recht fragen, machst du sie denn auf, deine Räume, wenn du nicht willst, dass man reinkommt?
Ja, warum?
Warum überhaupt Privates? Man könnte ja auch einfach Buchbesprechungen schreiben. Oder Kochrezepte. Oder feinfühliges, über die Katze. Oder sich ins Gewand scheinbarer Objektivität hüllen und Themen bearbeiten. Doch wozu? ich will keinen Buchclub, keine Kochgruppe, keinen Katzensalon gründen.
Ich will euch gewinnen, mit Tainted Talents, als Leser. Mit der Zeit. Ich möchte, dass ihr euch an mich gewöhnt. Dass ihr mitverfolgt, wie ich darum ringe, dieses Ding überraschend und lebendig werden zu lassen, für mich und für euch. Ihr seid mein erstes Publikum: Was ich hier schreibe, ist frisch. Kann sein, dass ich Texte, die hier entstehen, zu einem anderen Zeitpunkt noch einmal veröffentliche, aber ihr seid die ersten.
Und nach und nach, während ich mich in mein neues Medium finde und dieses Blog zum Funkeln bringe, könntet übrigens auch ihr ein bisschen auftauen: Legt euch ein neues Pseudonym zu und schreibt gelegentlich mal einen Kommentar. Oder gebt den Link weiter. Ihr seid ganz schön träge. Ich glaube, dieses Blog wird nur prall, wenn auch ihr euch hin- und wieder mal regt. Auf irgendeine Weise…

Unvergessen:

Der Kaiser und Spätstoiker Marc Aurel, geboren 121(!) nach Christus.
Weil ich in seiner Schrift “Selbstbetrachtungen” das Konzept der multiplen Persönlichkeit vorgefunden habe. Und da der Kaiser meiner Aneignung nicht mehr widersprechen kann, lest mal diesen Auszug:

… “Was für einen Gebrauch mache ich eigentlich jetzt von meiner Seele? In jedem Einzelfall sollte man sich danach fragen und darauf prüfen: Was geht jetzt in diesem Teile von mir vor, den man den herrschenden nennt, und was für eine Seele habe ich zur Zeit? Doch nicht die eines kleinen Kindes, eines unreifen Knaben, eines schwachen Weibes oder die eines Tyrannen, eines Haus- oder Raubtieres?”

(Na ja, die Sache mit dem schwachen Weib müssen wir ihm durchgehen lassen)

Sehr interessantes Buch auf jeden Fall. Kurze Gedankenpäckchen, man kann einfach irgendwo aufschlagen und loslesen. Insgesamt geht es ihm um den Willen der “Weltvernunft”, den man bejahend in den eigenen aufnehmen möge. Muss beruhigend sein, daran zu glauben, dass die Welt eine übergeordnete, von unseren Bemühungen unabhängige Qualität von Vernunft besitzt.

Der Rand

Die meisten Menschen sind dann isoliert, wenn gerade kein interessantes „Außen“ stattfindet. Im Prinzip bevorzugen sie das taktile Kruschel-Wuschel der Herde. Andere begeben sich in Gesellschaft, um später als Belohnung wieder unbehelligt sein zu dürfen. Sie bevorzugen es, für sich zu sein.
Haben sie besseres zu tun, als sich mit der Herde zu verbinden? Gilt die berühmte alte Regel noch, dass irgendwann (möglichst früh) zu entscheiden sei, ob man Wolf oder Schaf ist? (Was ist mit den dicken Wölfen und den wehrhaften Schafen?)

Die Frage ist doch, ob man sich an einem Rand, welchem auch immer, wohl fühlt.
Da, wo die Impulsfrequenz der sozialen Selbstverständlichkeiten und Anforderungen schwächer wird. Und wie man es sich leisten kann, am Rand zu bleiben, während so viele andere zum Inneren der Herde streben, mit suchenden Fingerspitzen hin zum Kern des gesellschaftlichen Organismus, dorthin, wo der Puls schlägt: Geteilter Status. Gleichgesinnte. Gemeinschaft mit anderen Fingerspitzen.
Unsere derzeitige Gesellschaftsauffassung beruht darauf, sich zu verbinden. Immer zu verbinden. Kontextualisieren, mitmachen, manifestieren.
Am Rand indes werden diese verbindenden Energien diffus. Dafür tauchen andere auf: Welche?

blogger-ehrgeiz

Ich weiss nicht, ob Ihr euch in diesen Welten bewegt und ob es euch überhaupt interessiert: Habe heute zum ersten Mal recherchiert, was andere blogger so treiben. Da gibt es Rankings. Hitlisten. Alle nur erdenklichen Tricks, die Besucherzahlen für das eigene Blog in die Höhe zu treiben. Ich hab’ drei Stunden damit verbracht, die blogs von wildfremden Leuten zu lesen. Kommentare. Links. Seitenhiebe. Ein paar lustige sind mir untergekommen. Ein paar ernsthafte. Es gibt jemanden, der sich hinter dem Pseudonym “Spreeblick” verbirgt, der scheint meiner layenhaften Recherche zufolge so etwas wie ein Guru unter den deutschsprachigen bloggern zu sein. Warum? Hatte heute nicht genug Muße, dieses Geheimnis zu ergründen. http://www.spreeblick.com
Die Leute scheinen viel Zeit zu haben. Und juckende Fingerspitzen. Ich jedenfalls komme zu dem Schluss, dass mir die Rankingmania eine Nummer zu aufwendig ist (schreibt man inzwischen übrigens wieder mit “e”). Wer mein etwas träges blog mag, kann es weiter empfehlen. Das muss genügen.