Adlersprech

Ich sah meine Geliebten auf der Bühne, vollständig bis zu jenem ersten, der tatsächlich Mann war: vor ihm gab es Jünglinge. Er stand hinten in der Ecke, nackt wie alle anderen. Mit der Rechten hatte er seinen Schwanz etwas gehoben, ließ ihn in der Handfläche ruhen. Es ist angerichtet, schien die Geste zu sagen.
Niemand sprach. Ich stand vorne und betrachtete mir das wie ein Bild. Hatten wir Publikum? Falls ja, war es still. Dies ist kein Text, nur ein Erinnerungsfragment.
Vielleicht waren es Melusines Überlegungen zur Scham, die mich die Bühne betreten ließen. Wer Regie führte, keine Ahnung; ich jedenfalls war Statistin. Das passt zum Passivsein – gestern erzählte ich ihr davon an den Gleisen. Jemand anderes schrieb, wissen Sie, dass manche Männer eine Scheu haben, sich aufgerichtet zu zeigen. Merkwürdig, dass ich mir das sofort vorstellen konnte.
Meine Akteure waren nicht befangen. Vielleicht weil sie wussten, dass die Aufstellung eine statische war: es würde nichts weiter passieren.
So weit. Wer liest schon gern von fremden Träumen?

Aber folgen Sie mir doch in den nächsten Raum.
Schöpferisches Handeln bringt Bühnen mit sich, wer die Rampe scheut, hat es schwer. Wer sich schämt, ebenfalls. Schließlich muss bei allem Willen zur Abstraktion zunächst das eigene Herzfleisch ans Licht und betrachtet werden. Die Rohsubstanz: das, woraus sich alles weitere ableitet. In der Kunst geht’s viel um Übersetzungen. Dafür liegt ein Originalskript vor, das aus einem einzigen Wort besteht: „Ich.“
Daraus entsteht alles Weitere. Eigentlich irre, oder?
Ich hab’ immer geglaubt, auf diesem Wort einen Palast gründen zu können. Um neues, auch für andere gültiges Vokabular zu generieren. Vor allem aber wollte ich über das Originalskript hinauswachsen, mich zum abstrahierenden Denken aufschwingen! Ich wollte Adlersprech lernen.
Hat nicht geklappt.
Wegen der Scham. Ich glaube, ich hänge doch sehr an ihr. Was sich an ihr vorbei auf die Bühne drängelt, hat für mich Wert. Der Aufwand hat für mich Wert. Und er kostet so viel Kraft und Zeit, dass ich das mit dem Adlersprech ganz vergessen habe! Manchmal bedaure ich das. Dann aber höre ich sie oben schreien und denke: mein Fleisch kriegt ihr nicht.

Im Originalskript steht allerdings etwas anderes.

Sonne, verdeckt

Ich warte auf eine Stimme, die mir sagt, du wirst verschont, du darfst dich verpuppen. Möchtest du einen Saugnapf? Kleb’ dich an einen Felsen, häng’ dir das Haar vor’s Gesicht, back’ Plätzchen. Möchtest du eine Katze?
Ja.
Da.
Von Außen wird die nicht kommen.
Warum ist es nur so vertrackt, bei sich zu bleiben.
“Dieses Projekt braucht Menschen, die nicht kompromittiert sind”, sagt der Professor. “Menschen wie Sie.”
Ich horche der Stimme nach, sie ist gültig. Aber nicht meine. Ich lasse das Haar ins Gesicht fallen.
“Liebe deinen Nächsten, wie du dich selbst gerne lieben würdest, wenn du könntest”, sage ich.
Der Professor lacht.
“Zwischendurch dann wieder Tage, die sind so ohne Vorbehalt, da könnte ich locker eine neue Weltreligion gründen”, sage ich.
“Hm?”
“Meiner Liebe wegen. Ich denke, die wird nie versiegen.”
“Also sind Sie dabei?”
“Nehmen Sie auch Kranke?”
“Die sind nicht verlässlich.”
“Ich bin absolut verlässlich!”
“Dann sind Sie auch nicht krank.”
“Ich habe zu tun, ich warte auf einen Felsen”, sage ich.
“Gehen Sie jetzt bitte.”

Widmung.

Du wirst ausrutschen.
Deine Freunde werden nur selten die Geduld mit dir verlieren, doch das wird dir gleichgültig sein. Du wirst dein Gesicht in die Höschen und Hemdchen vergraben, die du gestohlen hast.
Du wirst schön aussehen. Der Mangel wird deine Haut falten und dir den durchscheinenden, zerknitterten Charme verleihen, der manchen Frauen gut gefällt. Sie werden kommen und fragen, was sie für dich tun können, du wirst sie ablecken und sofort wieder vergessen. Niemand wird wissen, was aus ihnen geworden ist.
Später wirst du dir die Decke zwischen die Beine klemmen und die Spinnweben in den Zimmerecken beobachten, die sich manchmal bewegen und manchmal nicht. Die Frau neben dir wird schlafen. Ihre ruhigen Atemzüge werden dich so rasend machen, daß du dich nur mühsam zurückhalten kannst, ihr ins Gesicht zu schlagen.
Und das Zimmer wird immer da sein, dieser Kasten, in dem du herumschnüffelst und suchst und jede Ritze kennst; es riecht nass, als sei es in die Erde gegraben. Wahrscheinlich ist es das, denn du kommst nicht heraus.
Du wirst das Tier nicht mehr loswerden, in das du dich verwandelt hast. Du wirst kaum merken, daß du so viele Wörter vergisst, denn jene, die du brauchst, kommen dir immer noch flüssig über die Lippen, doch es werden immer die gleichen sein.

Bestand.

Der Mann ahnte nichts, als das Zählen begann. Die Finger. Zehen. Seine Großmutter hatte auch immer gezählt, als er noch klein war. Und eididei, zwei Ohren dabei. Kinder sind das gewohnt, die Großen wollen wissen, woran sie sind mit den Kleinen. Ob alles dran ist. Die Kinder quieken.
Während der Mann jetzt gezählt wird, schweigt er. Es ist nicht wie früher; es hört nicht mehr auf. Die Frau singt auch nie. Sie zählt jedes Haar einzeln. Sie trägt die Ziffern in ihr Buch ein. Sie hat eine Lupe.
Sie hat auch eine Spritze. Wenn ich mit den Haaren fertig bin, sagt sie, zähle ich Deine Blutkörperchen.

Gewebeprobe: Die Insel

Ein langsam tuckerndes Motorboot, der Geruch billigen Benzins weht vom Hafen herüber. Der Wind macht zahllose Schäumchen auf dem Wasser, er greift nach allem, das nicht genug Haftung hat und umkleidet Haare und Haut mit Salzpartikeln. Wir tragen weite Gewänder, die er uns ungeduldig an die Körper presst, ohne Vorspiel unsere Konturen erkundend.
Ein hoch gewachsener, sanfter Fremder, dem ein Tiger als Kind das halbe Gesicht wegriss, kommt auf die Insel und beginnt schon nach wenigen Stunden, Brot und Heu an die Esel zu verfüttern, ein moderner Franz von Assisi, auch dem Tiger von damals hat er längst vergeben. Viele, viele Operationen, bis er sich wieder im Spiegel erkannte; zuhause kennt man die Geschichte.
Die Esel nehmen die Spenden des Neuankömmlings stoisch entgegen. Es ist schwer, ihren Augen mit den langen Wimpern einen Ausdruck zu entnehmen, den man deuten könnte. Was tun sie nachts, wenn sie sich unbeobachtet wähnen? Haben sie Geheimnisse? Nichts Menschliches regt sich in einem Eselkopf. Besser, man betrachtet ihre Hinterteile: Sie sind sehr hübsch, die schwarze Mandel ihres Geschlechts ist samtig und elegant gefaltet. Darüber hängt ein robuster Schwanz, mit einer Quaste.
Die Frau des Fremden ist eine Suchende; ihr Blick verrät, dass die Suche keine einfache ist. Es gibt eine starke Nuance von Verzicht in ihrer Erscheinung, sie ist sehr schlank. Die Köstlichkeiten, die abends vor sie hingestellt werden, lassen sie erstarren, erst, wenn diese Dinge nach einer Weile von anderen gegessen werden, kehrt ihre Anmut zurück. Sie spielt mit dem Gedanken, zum Islam überzuwechseln: Uns rät sie, die Haare zu verdecken, wenn wir aus dem Haus gehen. Wir machen einen halbherzigen Versuch, doch der Wind schiebt uns die Tücher ins Genick. Die Bevölkerung der Insel ist muslimisch. Kaum zu sagen, ob sie unsere Bemühungen registrieren.
Wir sind eher fett. Zuhause schlingen wir, ohne hinzusehen, doch hier überkommt uns ein Hunger besonderer Natur. Dieser der Moderne entrückte Ort macht etwas mit uns, das wir schwer benennen können, wir treten in eine Phase der Anverwandlung, vermischen uns mit der Substanz der Insel. Der Dreck, die Hitze. Wir laufen an dunklen Körpern vorbei, die beredte Botschaften verströmen, ohne ein Wort, starke Signale. Wir hingegen sind Mzungus, wir wissen nicht, was ihnen unsere Haut erzählt. Wir lassen uns treiben. Mit jedem Partikel, den wir in den engen Gassen verlieren, schreiben wir unsere Anwesenheit in die Geschichte des Ortes. Die Übersetzung findet ohne uns statt: Der innere Kern der Insel liest jede Sprache und speichert sie, für immer. Bereits nach wenigen Stunden kann die Veränderung, die wir durch unser bloßes Dasein bewirken, nicht mehr rückgängig gemacht werden; auf den Microcosmos ist Verlass. Was kommt danach? Wer von uns wird wo eingreifen? Und warum?
Unsere Gedanken keimen und verketten sich im Teig der Tage. Wenig von dem, was wir bereits wissen, findet eine Entsprechung hier; wir lassen Ideen in die heiße Luft ausschwärmen und bereiten uns vor.
Nachts legen wir uns unter die Netze und träumen. Nur die kleinsten Insekten durchqueren die engen Maschen, saugen, wechseln zu anderen Körpern, vermischen uns Schläfer mit den anderen Warmblütern der Insel, verteilen die in uns enthaltene Information. Allein das Gedächtnis der Zellen verfügt über die Fähigkeit der wortlosen Übertragung: Keime. Vergegenwärtigung. Glück. Krankheiten. Gerüche. Empathie. Gemeinschaft. Lippen, dick wie Törtchen. Säuren und Laugen. Vorbehalte. Die Selbstverständlichkeit, sich zu ereifern. Bewegungen. Opulenz ohne Dekadenz. Die Höflichkeit derer, die wissen, dass allein Höflichkeit nichts kostet. Zufall versus Schicksal. Differenzierungen. Der Geschmack von Dreck. Eseldunst. Das Gefühl von Kraushaar auf der Kopfhaut. Geschlechtsspezifisches. Wie es ist, hier aufzuwachsen. Sand, trocken und nass. Die Kratzigkeit von Fischschuppen. Der Moment der Intimität, wenn der dünn besohlte Fuß einen Haufen frischen Eseldungs betritt. Wachstum. Lethargie.

Auf dem Platz vor dem alten Fort sprechen Männer in Mikrophone, manche ordentlich und berufen, andere schon halb zerfetzt vom Gelebten. Die Menge versammelt, verläuft sich wieder; nur die ganz Alten bleiben bis zum Abend sitzen. Wir lauschen dem Klang der Stimmen, ohne Orientierung: Der Geist begibt sich auf Abwege, macht andere Beute. Alles ist gleichzeitig. In halbrunden Schalen siedet Öl in den Gassen. Teile von etwas, das ursprünglich ganz anders ausgesehen hat, werden hineingeworfen, zischen auf und sind fast sofort gar. Man nimmt ein Tütchen davon entgegen und stippt die Stücke in eine rosafarbene, körnige Substanz. Zucker? Salz? Wir verschieben die Verkostung.
Vereinzelt schwarze Schleier, unter denen onyxfarbene Pupillen alles sehen. Die tief verhüllten Frauen halten nie an, um zu essen; sie sind immer unterwegs zu einem anderen Ort. Sie tragen Früchte nach Hause, Kartoffeln, Fisch. Stoffe. Wir glauben, dass sich unter ihren schwarzen Gewändern raffinierte Schichten anderer Materialien verbergen, Höschen aus Spitze, geschmückte Innenflächen, bemalte Haut. Nichts davon können wir dem schmalen Fenster entnehmen, das die Augen freigibt.
Die plötzlichen Eindrücke und der Wind, immer Wind. Wenn er nachlässt, legt sich die Hitze wie ein wabernder, dicker Gewürzkuchen über die Wahrnehmung und macht alle Gassen dicht.
Wir kaufen Kikois und XXL-T-shirts in kleinen, dunklen Lädchen, an deren Schwellen die Schlappen zurückgelassen werden, um den Sand nicht ins Innere zu tragen. Abends finden wir uns in geschützten Ecken zusammen. Der Einfluss der afrikanischen Gepflogenheiten ist nicht mehr zu übersehen; wir tragen Perlen an allen Gelenken und entwickeln einen Hang, viele dünne, weit fallende Kleidungsstücke übereinander zu tragen. Nach und nach verschwindet die Schminke aus dem Repertoire, Lippenstifte schmelzen, vernachlässigt, in den Hülsen. Wir verwenden Parfümöle. Es gibt sie in hunderten von Varianten, kleine Fläschchen in den verglasten Ladentheken, fünfzig Schilling das Stück.
Lamu sei das St. Tropez von Afrika, behauptet ein Kerl, mit dem niemand etwas zu tun haben will, es heißt, er stelle jungen Mädchen nach. Unerhört, ein afrikanisches St. Tropez. Wer braucht schon ein zweites St. Tropez? Auf der Insel gibt es nur ein Automobil, einen Range Rover, den fährt der District Commissioner an der Waterfront auf- und ab. Zwei Minuten braucht er von seinem Haus bis zum Arbeitsplatz, drei, wenn ein Esel im Weg steht. Was sonst zu transportieren ist, erledigen Esel und Boote.
Die gut betuchten Ausländer schwelgen in Diskretion. Nur aus beiläufigen Bemerkungen beim gemeinsamen Abendessen erschließen sich ein paar gesellschaftliche Zusammenhänge. Wir hören jenen zu, die etwas zu erzählen haben und erwarten desgleichen. Man kennt sich, die Metropolen sind nah, hier auf Lamu, Laptops liegen auf den Diwanen, Ipods. Eine Menge Teenager, deren Eltern viel Geld verdienen, oder einfach schon immer welches hatten. Die Teens sind hübsch und fahrlässig und gehen zuhause auf Schulen, die ihre Eltern schon besucht haben.

Jede zweite Begegnung ist konspirativ, jedes Vorhaben muss sorgfältig in die Substanz des Ortes geknetet werden, bis es zum Ereignis werden kann. Ein flüchtiger Geruch, die leichte Verengung einer fremden Pupille, ein Stückchen Holz, das abends unter unseren Füßen zerknackt: Wir sind in der Mitte von etwas, nicht mehr am Rand. Die Nächte schaffen keine Distanz, keinen Abschied, der herandämmernde Morgen scheint den gleichen Tag anzukündigen, der gestern schon war. Bei Stromausfall brennen nur vereinzelt Laternen in den Häusern. Wir benutzen die winzigen Lämpchen spezieller Feuerzeuge, die es hier überall zu kaufen gibt. Später bewegen wir uns im Dunkeln, wie die anderen. Die Mauern der Häuser rücken nachts zusammen, es ist, als würde man durch Röhren laufen. Das einzig Helle ist das Weiße in den Augen derer, die uns entgegenkommen.
Wenn die Sonne aufgeht, glühen die Farben wieder. Wir machen Pläne. Einer von uns entwirft unweit der Stadtmitte ein Domizil für Künstler und Schriftsteller, bringt privates Geld auf, setzt den Bauprozess in Gang. Die neuen Gebäude entstehen auf dem Gelände einer ehemaligen Fabrik für Palmöl. Öl: Das Zeug, das Prozesse geschmeidig macht. Vielleicht hat das Gedächtnis der Insel ein Einsehen und lässt uns das Künstlerdomizil durchgehen, im Namen der Geschmeidigkeit. Wir nennen den Ort Factory; schon jetzt hat er eine Geschichte.
Wir werden ganz sicher neue hineinschreiben, wir betasten den Rohbau, inspizieren Perspektiven; aus den Ideen, die wir entwickeln, entstehen die Phantome zukünftiger Gäste. Wer sind die Verwandler, die Künstler und Denker auf beiden Seiten, die hier zusammenzubringen sind? Das Gelände hat schon jetzt eine erwartungsvolle Aura angenommen: Etwas ist im Gange. Es wird nicht genügen, die vertrauten Muster aufzurufen.
Die Arbeiter auf der Baustelle sind alle jung. Sie tragen keine Hemden, doch ihre bunten Wollmützen behalten sie an, selbst mittags, in der größten Hitze. Ist das eine Art Mode, die Mützen? Wir wissen nicht viel und erkundigen uns nur nach dem, wofür wir ein System mitgebracht haben.
Fragen, Fragen. Im Deutschen klingt das Wort wie eine Säge, ganze Brocken von Zusammenhängen kann man damit durchsägen. Was heißt fragen auf Suaheli? Werden wir die Sprache lernen? Vielleicht wären die ersten unserer neuen Fragen welche, die im Körper zusammengebraut werden: Eine Leber-, eine Herzfrage. Eine Darmfrage. Eine Lungenfrage. Wir brauchen die Umwälzung unserer Systematiken, um interessante Ansätze zu entwickeln. Mehr Irritation. Anders strukturierte Zeit. Weniger Beschwichtigung, mehr Profil.
Diese Dinge sind möglich hier. Die Lust auf Neues hat Einzug gehalten in Lamu, doch in welche Richtung sie unterwegs ist, kann bislang niemand beantworten, ohne an die besonders berüchtigten Fragen zu geraten: Besser leben, was ist das? Weniger Krankheit und Krieg? Wer soll besser leben, essen, Geld ausgeben, alle, oder nur einige? Kann so etwas wie Beiläufigkeit entstehen zwischen uns, die wir kommen, und jenen, die noch nie woanders waren, so etwas wie Selbstverständnis? Einmal fertig gestellt, wird sich die neue Factory so diskret und natürlich in die Umgebung einfügen, als sei sie schon immer da gewesen, ein frei bespielbares Konstrukt. Die alte hat Öl produziert. Was wird die neue hervorbringen? Braucht es Moderatoren für die künstlerische Produktion? Wie viel Freiheit verträgt das Projekt? Und wer nimmt die Herausforderung an, es mit den sprachlichen Begriffen zu bekleiden, die nötig sein werden, wer greift nach dem heißen Eisen?
Der Druck muss wachsen. Da, wo es nicht riskant wird, passiert nichts von Belang.

Draußen gehen die Ortsansässigen ihren eigenen Zielen und Geschäften nach, von denen wir nicht viel erfahren. Männerstimmen in den Gassen, ihr Klang bricht sich an den alten Häuserwänden, aus Korallenstücken gefertigt, jedes von Menschen oder Eseln geschleppt. Seitdem große Steine verwendet werden, dauert das Beladen der Tiere nicht mehr so lange, doch der schwere Tritt ist derselbe geblieben. Vielleicht sind sie Nachkommen einer einzigen Eselfamilie, die schon Jahrhunderte auf der Insel ansässig ist. Vielleicht sind die Esel die älteste und inzüchtigste Sippe hier auf Lamu. Nah am Wasser liegt die Donkey Clinic, von den Briten während der Kolonialzeit errichtet, dort werden die schwächlichen Tiere hingebracht und wieder aufgepäppelt, ein überdachtes Holzschild weist auf den Urheber der Einrichtung hin. Als ob irgendjemand auf die Idee kommen könnte, dieses Verdienst den Einheimischen zuzuschreiben: Warum auch sollte ein Arbeiter einen anderen bemitleiden?
Mittag, die Sonne steht hoch. Ein Bussard hängt fast reglos mit ausgebreiteten Schwingen in der Brise. Schwalben warnen. Jemand schlägt einen Nagel ein. Tok, tok. … tok. Er hat keine Eile. Ein junger Mann breitet frisch gewaschene Wäsche auf einem benachbarten Dach aus, die Ecken beschwert er mit Steinen, damit der Wind sie nicht fortweht. Die Hitze der Dachpappe scheint seinen blanken Füßen nichts auszumachen. Seine Fußsohlen sind ausgewalzt und an den Rändern etwas knotig, wie Pizzateig, als habe er noch nie Schuhe getragen. Ein Dach weiter ist auf einer sauberen Stelle Getreide zum Trocknen ausgestrichen. Wer fliegen kann, pickt sich seinen Anteil weg.
Keiner stört sich daran. Vom Wasser her Kindergeschrei.
Manche von uns haben die Persönlichkeit erkannt, die im Kern dieser alten Stadt lebt und ihr mit unseren eigenen Häusern eine Fassung gegeben. Eine Ästhetik von der Art, die man schmeckt und berührt, benutzt und genießt, nicht eine, die befangen macht. Der Stil, den wir dabei entfalten, ist eine Fähigkeit, die längerer Studien bedurfte; viel Geduld und Sorgfalt steckt in den Details. Ein wenig neidvoll inspizieren wir den Charme jener Häuser, deren Bewohnern die Erziehung fehlt, nicht aber die Auffassung.
Viele Stunden am Tag scheint komplexes Denken unmöglich. Wir entwickeln Antennen, die es durch etwas ersetzen, das wir Intuition nennen würden, wenn uns das Wort nicht so peinlich wäre. Doch dann, eines Tages, verweilen wir lange an einem zufälligen Platz in der Sonne, und ohne dass wir es merken, sickert das Konzept von Peinlichkeit in die Erde und wird von der Insel verschluckt. Abends schon ist es, als habe es nie existiert.
Später steigen wir auf die Dächer. Der Wind kommt jetzt massiv vom Meer herüber, das nur wenige Meter entfernt ist, zischt zwischen den weißen Zinnen durch, wütet in den offenen Bassins der Dächer wie ein gefangener Derwisch, rast mehrmals hoch und tief und diagonal über alle Oberflächen und fegt dann weiter ins Inselinnere. Alles ist ständig in Bewegung, die Seiten der Bücher flappen, die Haare, Gegenstände rollen über den Boden. Eben taucht die kleinste Schwalbe aus einer Strömung. Sie macht ein Geräusch, als würde sie ein Netz aus feinstem Glas durch die Luft ziehen.
Was wir sonst noch brauchen? Nichts. Nicht, auf gar keinen Fall, Menschen, die immer gerade im Begriff sind, etwas Interessanteres anzufangen als das, was sie gerade tun.
Durch die Zinnen das Wasser. Die nächste Insel, auf der bisher nur einige Häuser stehen, ansonsten Mangrovenwälder. Eine Motorsäge, weit entfernt. Die Stimme eines Muezzins hebt sich zum Gebet, rechts, es scheint, als stünde er auf gleicher Höhe auf einem anderen Dach, bis uns klar wird, dass nur die Lautsprecher der Moscheen so hoch angebracht sind. Es gibt sehr viele davon hier. Die ausgeleierten Stimmen der anderen Rufer fallen kreisförmig ins Gebet ein, Allah Akbar, singen sie, Gott ist groß, und Mohammed ist sein Prophet. Mühelos vermischen sich die Rufe mit den Geräuschen des Ortes, unmöglich, sich zu distanzieren von der Selbstverständlichkeit des Appells. Der erste Ruf erklingt schon vor dem ersten Hahnenschrei.
Wir sind müde. Die Gedanken flappen im Wind wie ein Haufen nasser Kikois. Unter uns wird das Haus geputzt, der Staubsauger läuft, Plastikeimer werden gefüllt und wieder entleert, die jungen Männer bringen alles in Ordnung, solange die Mzungus aus dem Weg sind. Alle sind unterwegs, außer uns: Wir können nur ein gewisses Quantum an Begegnung vertragen. Warum müssen unsere Leute nur so viel sprechen? Verbale Kommunikation wird überschätzt; wir möchten länger schweigen. Vielleicht sollten wir es mal mit Leere versuchen. Das Sammeln von Information, das jahrelange Anhäufen dessen, was der Verstand nur hergibt, bis ein relevantes, intellektuelles Konstrukt entsteht: Hier scheint es wie der Versuch, mit einer kleinen Schippe im offenen Meer eine Insel aufzuschütten. Vielleicht wäre es interessanter, das Meer zu sein.
Transition. Anverwandlung einer anderen Essenz. Wie auch immer, es geschieht nur, wenn wir nicht mehr Bedienstete des eigenen Gedankenstroms sind, der uns erfolgreich von dem abschirmt, was man das Innere Sein nennen könnte. Zugang zur Quelle: Das ist im Grunde, und immer wieder, das Einzige, das Bedeutung hat. Die Störgeräusche des Ego ausblenden, um etwas zu fassen zu bekommen, das mehr Substanz entwickelt als die eigene Befindlichkeit.
Hier kann das gelingen, nach einer Weile. Es liegt am Wind, der morgens langsam anfängt zu zupfen und im Verlauf des Tages immer heftiger wird: Er säubert das Gehirn wie ein Putzerfisch.
Eben haben wir ganz klar die Gegenwart der Pflanze, die neben uns die Wand hoch wächst, gespürt. Nachdem wir schon vor Tagen bemerkt hatten, wie ihr Schatten als Scherenschnitt auf die Mauer fällt.

And here’s to you. Sonntag, 5. Juni 2011

Weil heute einer dieser Tage ist. Weil der schwarze Ritter den Wolf nicht entmachten kann, ohne zu kopieren. Weil es keine schlimmeren Maulkörbe gibt als jene, die man sich selbst anlegt. Weil Gurren manchmal einfach nicht genügt. Weil Urteile so oft nicht wahrer sind als ihre Larven. Weil. Weil wir ängstlich sind, gründlich, und erst Lichtjahre später bemerken, dass wir Sterne wurden. Weil zwischen zwei Sekunden plötzlich eine blaue Stunde aufspringen kann. Weil Vergebung eine der irrsten und wunderbarsten Ideen unserer Spezies ist. (Und frau auch mal kitschig sein darf. So what …)
Weil wir üppig sind, obwohl so vieles an uns zehrt; weil wir Gezeichnete sind. Weil wir die scheue Mühe einfangen. (Herrjeh, sie hat Tupfen) Weil wir Fallen stellen und die Köder nachts selbst fressen. Weil wir unser eigenes Gold in Umlauf bringen, auch wenn. Sie wissen schon. Wir manchmal dealen, ohne eine Waage mitzunehmen. Manchmal ist ja Abwägen wie die Bremse auf dem Pferd: nervt und hält auf. Recht haben wollen ist Gift für die Kunst. (Und die Liebe, doch wem sag’ ich das) Wir treffen uns nachher in der Scheinbar. Immer rein mit Ihnen, der Türsteher ist noch ein Kind; werfen wir ihm ein Lächeln zu.
Weil heute einer dieser Tage ist, an denen die Riesin über uns wacht.

See the turtle of enormous girth,
on her shell she holds the earth.
Her thought is slow, but she is kind.
She holds us all within her mind.

Happy birthday, semioticghosts.

Gewebeprobe: Bilderhaut

Gib dem Feuer, was des Feuers ist. Wir bringen die falschen Opfer, Monjou, doch welche Freude, sie brennen wie die richtigen, nur ihr Rauch, der beißt Löcher ins Dach: a hole to see the sky through. Auf der Haut schabt er wie Sand. Stundenlang schwelt das gute Wort, bis es dem falschen folgen darf. Wir gießen Tinte ins Feuer. Wir werden Meister im Luftanhalten, Monjou, wir legen uns hin.
Auf den Rücken legen wir uns. Wir strecken die Handgelenke vor, halten den Atem an. Wir sind die mit der Bilderhaut; alles zeichnet sich ab. Die Tatoos sind nur im Kopf, sagst du. Ich zähl’ meine freien Stellen.

für *

Der Impostor

Fies, das Ding. Besonders, da die Frauen betroffen zu sein scheinen. Also ran. Beherzt. Geben wir ihm den Namen: Impostor. Man sagt, es sei ein Syndrom. (frau, übrigens, sagt das auch)
Ich werde mich langsam reinwinden, denn, ich bitte um etwas Geduld, leicht ist es nicht. Wer möchte so ein Syndrom schon … nein, dann fast lieber burnout, das klackt wenigstens für die Krankenkasse. Tatsache ist, den Impostor zieht man sich nicht an. Er sitzt unter der Haut. Unausziehbar, sozusagen. Oder wie Semioticghosts, ihres Zeichens Psychologin, erklärt: Das sind Frauen, die immer darauf gefasst sind, dass ihnen jemand von hinten auf die Schulter tippt und sagt: „Sie da. Sie haben sich hier unter falschen Behauptungen eingeschlichen. Sie gehören hier nicht hin. Ihre vermeintliche Kompetenz ist ein Fake. Sie sind ein Blender.“
So sieht’s aus.
Der Impostor, Studien zufolge, ist besonders bei gescheiten, starken Frauen anzutreffen. Und sehen Sie! Obwohl ich eben noch schreiben wollte, mir sei Semighosts Erklärung extrem vertraut, nun wage ich es nicht mehr. Denn dann würde ich mich ja selbst als gescheit und stark bezeichnen, und allein das fühlt sich bereits wie ein Täuschungsversuch an. Ich sage: es fühlt sich an. Ich weiß durchaus um meine Fähigkeiten. Meine Ratio weiß es; mein Bauch sagt etwas anderes. Der Jemand, der mir von hinten auf die Schulter tippt, sagt: „Du bist eine Simulantin. Wenn die erst einmal rauskriegen, dass Du gemogelt hast, werden sie dich fallen lassen. Mach’ dich darauf gefasst. Nichts, was Du geschaffen und dir erarbeitet hast, hält einer Überprüfung stand. Nur deinem Charme (Glück, gutem Timing…) ist es zu verdanken, dass sie dich bisher noch nicht erwischt haben.“
Sie glauben das nicht? Glauben Sie’s ruhig.
Der Impostor, er bleibt ja immer innen. Das reicht ihm völlig – Sie kriegen davon gar nichts mit, außer, Sie haben selbst einen. Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich bin einem gesunden Zweifel durchaus zugeneigt. (Wäre.) Ich habe nichts gegen konstruktive Kritik, und meine Prüfungsangst hält sich in Grenzen.
Der Impostor aber setzt an einem ganz anderen Punkt an: Er ist ein Entwertungsmechanismus im Inneren, ohne dass sich auch nur ein Fitzelchen davon an der Oberfläche zeigt. Das macht ihn so fies. Dass es ein Mechanismus ist. Vernünftigen Argumenten gegenüber ist er völlig immun. Einfach ein aggressiver, gewiefter alter Mechanismus, der seinen Ursprung verspiegelt hat, so dass man immer nur sich selbst sieht, wenn man versucht, die Quelle zu finden. Aber jetzt rücke ich ihm doch zu Leibe: Ich zerre, wenn nicht ihn, so doch seinen Namen ans Licht. Ich wette, damit hat er nicht gerechnet.

(Von Kommentatorenseite wurde inzwischen zurecht moniert, dies sei kein reines Frauenthema. Ich nehme das hiermit zur Kenntnis! Den nächsten Text in dieser Rubrik schreibe ich über Siewissenschon.)

Gewebeprobe: Fleisch

Ereignisse sind keine Behälter für wahr oder falsch: wir schon. In unserem Blick darauf. Ein Blick aber ist noch lange kein Einblick. Für den braucht’s die Kläranlage. Mit der Zeit lernen wir, das unablässige Quirlen der Anlage zu überhören, solang’ sie ein sauberes Endprodukt liefert, eine gültige Interpretation. Doch die ist immer schon weit: weg von den Ereignissen. Wir sind alleine mit unserem Quirl, man täusche sich da nicht. Er entfernt uns von der Gegenwart, schickt uns nach hinten oder voran, im Guten wie im Schlechten. Bis dass der Tod uns scheidet. Von unserem Fleisch.
Das sein Vergehen nicht leugnet. Manche von uns tragen mehr davon, andere weniger, egal, es ist unser einziges, und es nutzt sich (damned shit) schneller ab, als wir quirlen können. Kann sein, Kinder sind so eine Art Fortsetzungsroman, nicht nur des Geistes: Man neigt dazu, sein Fleisch zu ehren, um das neue möglichst lange begleiten zu können. Für jene von uns ohne Fortsetzung: Machen Sie sich vertraut. Mit sich selbst. Durchschreiten Sie Ihre dröhnenden Hallen und halten Sie den Quirl gelegentlich an. Vermischen Sie sich mit Ihrem Fleisch, anstatt es zu gängeln. Es lügt nicht und es sagt Ihnen nicht, dass Sie Unrecht haben. Wir sind nie falsch. Wir sind auch nie richtig. Wir sind einfach, weiß der Henker warum, hier. Mit unseren schmatzenden Zellen.

Gewebeprobe: Drogen

Nimm meine Drogen. Nichts ist gebunden; du kannst alles haben. Erschaffe das, was du haben willst. NIMM SIE. Es ist dein Haus. Es ist dein riesiges Haus. Ich werde dich versorgen; heute besuche ich dich, morgen wohne ich in deinem Haus. Wie viele Arme brauchst du? Wie viele? Wir nähren dich. Laß uns in deinem Bett schlafen. Wir werden alle in deinem Bett schlafen, doch du bist das Fest, du liegst immer in der Mitte. Das ist es doch, was du willst. Wieviele bunte Bilder brauchst du? NIMM SIE. Wir begießen dich mit flüssigem Gold aus kleinen Karaffen. NIMM SIE. Wir bestreichen deine Stirn mit zweifarbigem Nougat und baden deine Hände in reinstem Paraffin, wir lecken dir die Falten aus dem Gesicht und spicken dein Gehirn mit seltenen Gewürzen, NIMM SIE. Du willst ein Schwein sein? Wir machen den Schlamm für dich. Wir sind da, wenn du dich wälzt, wir sind da, wenn du laut bist. NIMM SIE. Du willst feinsinnig und tief sein? Wir stützen deinen Kopf, massieren deine Schläfen, zerstreuen den Schatten des Zweifels auf deiner Stirn, wir sind voller Ehrfurcht. Wir schützen, schnüren, treiben dich, wir beschimpfen dich, wir verschleudern dein Verdienst. NIMM SIE. Alles ist billig, du musst dich um nichts kümmern, wir waschen dein Geschlecht, wir verzieren deinen Körper mit hunderten kleiner Bilder und bürsten deine Haut mit unseren Wimpern. Wir salben dich und breiten dich aus. Wieviele Arme brauchst du?
NIMM SIE blind und sieh dich nicht um. Nichts ist gebunden, alles ist billig, alles ist schlecht. Vergiß’ das. Wir sind alle zusammen. NIMM SIE. Laß dir nichts eine Lehre sein. Schließ’ die Augen und NIMM SIE, dick und fett und von allen Seiten. So macht man das. Leg’ dich auf den Bauch und erwarte das Schönste. Es ist dein Haus. Wer bestimmt in deinem Haus? Wieviele Arme brauchst du? Alles gehört dir. Für immer. Du willst das? Dann tu es. Jetzt. TU ES JETZT.