Fünfter Brief. Von gepuderten Säuen.

K****, 13. Juni 2010, am Tage

Lieber Dr. Sago,

ich kann gar nicht sagen, wie der Aufruhr in mir wühlt. Heute Morgen (ich schlief kaum zwei Stunden, las dieses verflixte Drehbuch, bis mir die Augäpfel wie Murmeln über die Wangen zu kullern drohten) fand ich Ihre Depesche auf dem Frühstückstisch. Himmel sei Dank! Woher wussten Sie… ? Ich schreibe dies eilend vorweg, Sie scheinen in so großer Sorge: Den ganzen Tag schon verstecke ich mich in meinen Räumen.
Selbst Sie, bei aller Lebenserfahrung, machen sich keine Vorstellung, was dieses Manuskript…. eine Zumutung! Ein Albtraum, die Rolle der A*****. Von zehn allesamt anrüchigen Szenarien, die jene Figur betrafen, ist vorgesehen, sieben gänzlich unbekleidet zu absolvieren.
Lieber Doktor, solche Maßgabe lässt mich schnauben vor Empörung, ich bin geneigt, aufzuspringen, mich an den Ort des Geschehens zu begeben und diesen unsäglichen Kerl zur Rede zu stellen! Mein Gesicht wollte er sehen? Für das, was jene Kladde enthält, sind Gesichter kaum vonnöten, glauben Sie mir! Eine Sau, entsprechend gepudert, könnte seinen Absichten besser dienen!
Sie sehen mich in Rage, verehrter Doktor! Nur Ihre wie immer schrecklich klugen Anmerkungen hindern mich daran, mein Vorhaben sofort in die Tat umzusetzen. Ach, ich bin so unruhig. Ich glaube, denke, nein, ich MUSS einfach hinaus! Ich werde eine ***** aufsuchen. (Gibt es überhaupt ***** in dieser verflixten Stadt?)

Eilende Grüße!
Stets Ihre
L.

Vierter Brief. Worin L. ein höchst fragwürdiges Angebot erhält.

K****, 13. Juni 2010, Nachts

Lieber Dr. Sago,

da liegen sie, die hohen grünen Schuhe. Haben sie mich wirklich den ganzen Tag durch die Stadt getragen? Doch ohne sie hätte sich wohl jenes nicht ereignet: Doktor, ab morgen bin ich eine Andere… Oder… vielleicht auch nicht.
In dieser Stadt wird ständig gefilmt; besonders ihre engen Gassen scheinen es den Drehbuchschreiberlingen angetan zu haben. Die Sonne war aber auch besonders mild am späten Nachmittag! Man hätte Kuchen in ihrem Licht ausbacken mögen.
Ich hatte mir eben erst einen sehr aparten Ring gekauft und schritt, auf rohen Steinen sorgfältig einen Schuh vor den anderen setzend in Richtung meiner Unterkunft, als sich mir ein Mann aus den Halbschatten entgegen warf. „Sh***tis k***ma!“ rief er und packte mich am Arm.
Worüber ich so erschrak, dass ich fast zu Boden gesunken wäre, hätte mich jener Rüpel nicht eben noch aufgefangen! Wie ich die Scheinwerfer und Kameras, all die Menschen nur hatte übersehen können…? Ich ging mit geneigtem Kopf, auf die vermaledeiten Pflastersteine achtend.
(Sie lächeln? Ich kenne Sie!)
Da hing ich nun recht unelegant in den Armen des, wie mir schnell klar wurde, Regisseurs, die Augen der gesamten Mannschaft auf mich gerichtet.
„Let go! You’re breaking my arm!“ quiekte ich und versuchte, Stand unter die Füße zu bekommen. Er lachte. Das nun brachte mich in Zorn und ich trat ihm von rechts mit dem Absatz ans Schienbein. (Ich weiß wohl, was Sie jetzt denken)
„Br** nub***s! Nu*m masr**** al**ija!“ zischte der Kerl und ließ los, allerdings nicht, ohne mir in gemeinster Absicht einen Stoß zu verpassen.
Ach, Doktor! Ich stürzte ihm zu Füßen.
Nachdem ich meine Schuhe gerichtet hatte, erhob ich mich mit aller gebotenen Würde, glauben Sie mir. Keiner der Umstehenden lachte. „Come on…“ hörte ich jemanden flüstern, dann etwas, das wie eine Anweisung klang. Unmittelbar darauf hörte ich diesen Knall, den riesige Scheinwerfer machen, wenn sie anspringen… (Ich kenne das Geräusch aus diesen „Making of“- Filmen)
Jeglicher Sicht beraubt, stand ich benommen. Eine Frau löste sich aus der Menge (ich konnte indes kaum ihre Umrisse erkennen) trat näher, nahm meine Handtasche vom Boden und schickte sich an, mich aus dem gleißenden Licht zu führen. Wir hatten uns bereits einige Schritte entfernt, als der Regisseur hinter uns die Stimme erhob.
„Turn please, show me your face“ sagte er.
Unwillkürlich drehte ich mich. Außer dem Brummen der Scheinwerfer waren alle Geräusche verstummt, kein Mucks aus den Reihen der Crew. Der Mann musterte mich lange. Dann schien er zu einem Schluss zu kommen.
„You’re not a tourist“ sagte er.
„I am an artist“ erwiderte ich ohne nachzudenken.
Er hob die Brauen: „Unpredictable folks, artists.“
„Ich bin keineswegs unberechenbar“
„Speak english!“ schnappte er.
„Never mind, I was just cursing“ log ich. „My knees hurt…“
Er ging nicht darauf ein. „How long will you be in town?“
„I don’t know yet. A month. Maybe two.“
„Would you be free to work with us? We have a sick actrice who needs to be replaced.“
Ich sah ihm ins Gesicht. Seine Pupillen waren im Scheinwerferlicht winzig klein.
„Yes“ sagte ich. Noch eine Sekunde zuvor hätte ich nichts zu antworten gewusst. Er zeigte keine Überraschung, schnippte nur nach der Frau, die mir geholfen hatte: „The script!“
Er reichte mir einen Packen gebundenes Papier: „You will be A*****. Read it. Work starts tomorrow at eight a.m., you’ll find the location on the back.“
Er wandte sich um.
„Excuse me!“ rief ich.
„What else?“
„I don’t even know your name!“
„Read the damned script tonight and you’ll know everything you need“ schnappte er.

Die ersten Seiten las ich schon im Taxi. Als ich später mein Gemach betrat, fiel mir dieses Buch mit dem geschwärzten Titel wieder ins Auge, das seit meiner Ankunft hier auf dem Tisch liegt. Einem jähen Impuls folgend, schlug ich es auf: es beginnt mit exakt den gleichen Sätzen wie das Drehbuch, das ich gerade in Händen halte.
Lieber Doktor, ich bin sehr, sehr verwirrt. Wären Sie doch nur hier! Ich vermisse Ihre Stimme; ich verstehe das alles nicht. Ich möchte nicht involviert sein. Je weiter die Nacht voran schreitet, desto größerer Zweifel befällt mich. Soll ich morgen dorthin gehen?

Zum offenen Fenster hinaus fragend,
Ihre, doch vielleicht eine andere
L.

Dritter Brief. Nicht nur die Augen weiden.

K****, 12. Juni 2010

Guten Morgen, verehrter Dr. Sago,

Sie finden Ihre Lieblingspatientin bestens gelaunt! Das bin ich doch, oder? Ihre Lieblingspatientin? Ich wünschte, Sie wären nicht so schrecklich formell! Ah, einmal möcht’ ich Sie aus der Fassung bringen, oder zumindest aus Schlips und Jackett!
Entschuldigen Sie. Der Überschwang. Es sind die Menschen hier! Allein, wie sie sprechen und singen, schnurren und gurren. Da ist ein Tanzen in den Stimmbändern bei Mann und Weib, ein aus allen Kehlen sich unablässig sammelndes Wesen aus Tönen, das durch die Straßen zieht wie ein Irrwisch und mir den Kopf verdreht. Und die Kinder! Sie wissen, ich verabscheue die kleinen Biester. (Wie viel haben wir daran schon gearbeitet, und mit wie wenig Effekt!)
Hier… nun, ich lasse sie um mich herum quirlen und schnattern, Sie hätten Ihre Freude an mir. Nur eines, das mir partout nicht vom Rockzipfel ging gestern Nacht, musste ich schlagen. Die Wucht meiner Backpfeife war indes genau bemessen, das Wergel blieb ohne bleibenden Schaden. Die Mutter, nahbei sitzend, schreckte beim Greinen ihres Sprösslings von einem Gespräch hoch, ich hob beide Hände in entschuldigender Geste; da drohte sie mir nur, mit gestreckter Handkante die Kehle entlang fahrend. Ah, ich muss mich zu beherrschen lernen! Gut, dass die Männer nicht böse wurden. Oder nicht werden wollten?
Sie wissen, ich liebe falsches Haar, drei meiner Perücken brachte ich mit hierher. Eine vierte, im Vergleich mit den Preisen in der Heimat lächerlich preiswerte, erwarb ich am Tag meiner Ankunft in einem kleinen, mit Ware zum Ersticken gefüllten Laden, auf den ich zufällig stieß. Es sind aber jene von zuhause (für die ich kleine Vermögen ausgebe, wie Sie wissen), die mich bei diesem Klima zur Augenweide machen. Viele Frauen hier tragen falsches Haar, doch oft spreizt es sich ab wie Draht… Billigware. Ist Augenweide nicht ein wunderschönes Wort, Doktor? Ich sehe Sie vor mir, Ihre grauen Augen! Einmal, vor langer Zeit, erhielt ich den Brief eines Mannes, der mich bei einem Empfang meiner Freundin G*** den ganzen Abend nicht aus dem Blick gelassen hatte. Der Umschlag enthielt nur diesen einen, ganz unten auf dem Bogen notierten Satz:
„Ich werde Dich weiden.“
Das habe ich Ihnen nie erzählt, nicht wahr?
Doch ich schweife ab.
Spät geworden ist es dabei; im Nebenraum wird mein Frühstück angerichtet. Selbstverständlich werde ich erst hinüber gehen, wenn alle Geräusche verstummt, die Bediensteten gegangen sind: ich weiß sehr wohl, was sich gehört hier.

Der Regen setzt ein.

Immer, auch aus der Ferne,
ganz Ihre
L.

Zweiter Brief. Ein schweigsamer Fremder.

K****, 11. Juni 2010

Lieber Dr. Sago,

ganz früh spielte ein Leierkasten direkt vor meinem Fenster. Überraschend in diesen Breitengraden, nicht wahr? (Ah, ich vergesse wieder, Sie kennen meinen Aufenthaltsort nicht… endlich, endlich einmal bin ich Ihnen voraus, lieber Doktor!) Ob wohl ein alter Mann, der langen Winter in Europa überdrüssig, vor Zeiten beschloss, mit seinem Instrument hierher auszuwandern? Er mag der einzige seiner Art in dieser riesigen Stadt sein.
Ich bin etwas erschöpft; die erste Nacht war nicht geeignet, die Ruhe zu bringen, von der Sie sprachen. Doch wie hätte ich mich schonen dürfen? Es roch unwiderstehlich; viele Stunden folgte ich den neuen Aromen bis in kleinste, dunkelste Straßen hinein. Als ich mich in den frühen Morgenstunden auf blossen Füßen (leichtsinnig war das!) kaum noch aufrecht halten konnte, erhob sich ein Herr, den mein Stolpern offenbar anrührte. Er war recht schweigsam – ganz wie Sie, obwohl Sie wissen, dass ich das nicht mag! – während er mich nach Hause, über die Türschwelle und zu meinem Lager trug.
Gott, die Kinder draußen. Wie ich diese kleinen Bälger beneide, die weder Lust noch Rage brauchen, um zu schreien.

Ich muss wieder hinaus, heute suche ich den Fluss.
Bleiben Sie mir gewogen?
Herzlich
Ihre
L.

Erster Brief. L. kommt nach K**** und greift zur Flasche.

K****, 10. Juni 2010

Lieber Dr. Sago,

ist es wirklich erst einen Tag her, dass Sie mir die Hand zum Abschied reichten? Die geben Sie mir selten. Ich war überrascht, wie trocken sie war. Ja. Eine feste, trockene Hand, wie mit Magnesium eingerieben. Ich kenne diese Glätte von früher, aus der Turnstunde. Kaum, dass ich merkte, wie Sie, als Sie meine ergriffen, mit zwei Fingern rasch über mein Handgelenk strichen. Ich soll wissen, Sie kümmern sich, nicht wahr? Deswegen auch Ihre dringende Bitte, ich möchte Ihnen Bericht erstatten.
(Haben Sie denn nicht langsam genug von mir?)
Die ganze lange Reise über war ich in Trance. Die sich fortsetzte, als ich mein Gepäck abstellte und nach der Flasche griff, die ich im eisig gekühlten Vorratsraum fand, die Flüssigkeit wie Wasser hinunterstürzend. Sie fuhr mir unmittelbar in die Blutbahnen, glaube ich … ich muss schnell eingeschlafen sein, denn eben, als ich erwachte, war es bereits Abend. Jemand hat meine Kleidung in den Schrank gehängt. Die Vase auf dem Holztisch ist voller Pfingstrosen jetzt, rosafarbene; die mag ich am liebsten. Die Blüten sind aber noch vollständig geschlossen. Ein recht dickes Buch liegt nun da, Titel und Autor geschwärzt, wie ich verwundert feststellte. Ich sah eben kurz hinein, ein Briefwechsel, doch ich bin zu müde, darin zu lesen. Sie werden mir gewiss nicht schreiben. Wie auch? Ich habe Ihnen die Adresse nicht genannt. (Oder doch? Ich erinnere mich nicht.) Ich wüsste gerne, wer mir die Reisekleidung ausgezogen hat.
Im Nebenhaus singt ein Mann, arabisch, glaube ich, ein Singsang eher. Er bricht immer wieder ab, als sei er in Bewegung. Ah! Jetzt verstehe ich: ein Gebet. Er wirft sich zur Erde…
Es ist so heiß auf den Straßen hier, dass der alle paar Stunden einsetzende Regen verdampft, sobald er den Asphalt berührt. Ich werde ohne Schuhe in die Nacht gehen.

Bis morgen.
Ihre
L.