Michel Leiris / Die Spielregel, Band 1: Streichungen

«Auf den unerbittlichen Boden des Zimmers (Salon? Eßzimmer? Mit einem angenagelten Teppich mit welkem Rankenmuster oder einem losen Teppich mit faden Ornamenten, in die ich Paläste, Landschaften und Erdteile zeichnete, ein wahres Kaleidoskop, womit ich als Kind spielte und zauberhafte Bauten schuf, ein Kanevas für Tausendundeine Nacht, die mir damals die Seiten keines Buches erschloß? Oder ein nackter Fußboden, gewachstes Holz mit dunkleren Lineamenten, sauber geschnitten von der strengen Schwärze der Rillen, aus denen ich zuweilen, um mich zu zerstreuen, Staubflocken stocherte, wenn ich unverhofft eine Nadel gefunden hatte, die den Händen der im Taglohn stehenden Schneiderin entfallen war?), auf den makellosen und unbeseelten Boden des Zimmers (samtweich oder holzig, im Sonntagsstaat oder kahl, den Ausflügen der Einbildung oder mechanischeren Spiele hold), im Salon oder Eßzimmer, Halbschatten oder Tageslicht (je nachdem ob es sich um jenen Teil des Hauses handelte, wo die Möbel gewöhnlich durch Überzüge und all die bescheidenen, meist versprengten Reichtümer durch die Sperre der Fensterläden vor der Sonne geschützt sind, oder nicht), in diesem kaum den Erwachsenen zugänglichen Gehege – und stille Grotte für die Schlafsucht des Klaviers – oder in jenem mehr gemeinsamen Raum, der den großen Ausziehtisch umgab, um den die ganze oder ein Teil der Familie sich zum Ritus der täglichen Mahlzeiten einfand, war der Soldat gefallen.»

“Die Spielregel, Band 1: Streichungen”, Matthes und Seitz, 1993

(Zugetragen von brsma)

Vladimir Nabobov / Ada oder Das Verlangen

“Alle glücklichen Familien unterscheiden sich mehr oder weniger; alle unglücklichen ähneln sich mehr oder weniger”, sagt ein großer russischer Dichter am Anfang eines berühmten Romans (Anna Arkadievitch Karenina, ins Englische transfiguriert von R. G. Stonelower, Mount Tabor, Ltd., 1880).”

“Ada oder Das Verlangen”, 1969

(zugetragen von parallalie)

Hermann Broch / Der Tod des Vergil

Stahlblau und leicht, bewegt von einem leisen, kaum merklichen Gegenwind, waren die Wellen des adriatisches Meeres dem kaiserlichen Geschwader entgegengeströmt, als dieses, die mählich anrückenden Flachhügel der kalabrischen Küste zur Linken, dem Hafen Brundisium zusteuerte, und jetzt, da die sonnige, dennoch so todesahnende Einsamkeit der See sich ins friedvoll Freudige der menschlichen Tätigkeit wandelte, da die Fluten, sanft überglänzt von der Nähe menschlichen Seins und Hausens, sich mit vielerlei Schiffen bevölkerten, mit solchen, die gleicherweise dem Hafen zustrebten, mit solchen, die aus ihm ausgelaufen waren, jetzt, da die braunsegeligen Fischerboote bereits überall die kleinen Schutzmolen all der vielen Dörfer und Ansiedlungen längs der weißbespülten Ufer verließen, um zum abendlichen Fang auszuziehen, da war das Wasser beinahe spiegelglatt geworden; perlmuttern war darüber die Muschel des Himmels geöffnet, es wurde Abend, und man roch das Holzfeuer der Herdstätten, so oft die Töne des Lebens, ein Hämmern oder ein Ruf von dort hergeweht und herangetragen wurden.

“Der Tod des Vergil”, Rhein-Verlag, 1958

(zugetragen von ANH)

Arthur Adamov / Ende August

«Das Licht blendete, die Cafés ergossen sich bis auf die stickige Straße.»

“Fin août”, in: «Je… ils…», Paris, 1969

(Zugetragen von brsma: “Die meines Wissens nach wie vor einzige deutsche Übersetzung dieser großartigen kleinen Erzählung voll von mit sanfter, aber nie verräterisch abgewandter Ironie beflügelter Leichtigkeit, Lakonie und Abgrund fand ich vor ca. 20 Jahren als dank alfabetischer Ordnung ersten Beitrag in der Matthes&Seitz-Anthologie «Ich gestatte mir die Revolte». Der Rest von Adamovs meines Wissens nach letztem Buch ist nie auf deutsch erschienen. Ich warte noch immer darauf.”)