Sommeratelier

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“Je vous remercie d’avance pour votre appui. Dans l’attente de votre réponse que j’espère positive, je vous prie d’agréer, Madame, l’expression de mes sentiments les meilleurs.”

Ich schreibe meinen Brief jedes Jahr neu, obwohl mein Anliegen immer das gleiche ist. Nur dieser Satz, mit dem ich meine Anfrage nach einem Atelier abschließe, bleibt derselbe, denn Mme Drey legt Wert auf Höflichkeit: unsere jährliche Mail-Korrespondenz ist ein Ritual. Keiner meiner Briefe geht raus, ohne dass ich ihn von meiner französischen Freundin Korrektur lesen lasse. Der diesjährige ist jetzt unterwegs.

Ich wünsch’ Ihnen schöne Ostern, geschätzte Leser:innen! Lassen Sie sich’s gut gehen! : )

Red Devil

Ein wohlwollender Schutzgeist schlupfte mir heute Morgen ins Ohr und flüsterte, es wär’ mal wieder Zeit für Privates. Yippie! Der Abend hängt mir eh noch zu sehr in den Gliedern, um mich an Lohnarbeit zu machen, vor allem das rote Zeugs, mit dem ich gestern durchgängig versorgt wurde. Im Jerome. Dessen Besitzer sich da sein kleines privates Königreich eingerichtet hat. Klar, nicht jedermanns Geschmack, so ein Gewölbe. Schon gar eines mit Erotik auf Leinwand an den Wänden. (arrgs)
Beim Jerome mach’ ich aber eine Ausnahme. Weil der Club eigen ist, im Sinne des Wortes – sein Besitzer hat einfach gemacht. Ungewöhnlich in Frankfurt. Meistens merkt man den Clubs ihre Marketingkonzepte viel zu sehr an.
Ich bin selten in Stimmung für Leute, die zu gut zum Mobiliar passen.

(Wah, mein Gehirn ist noch im Stromsparmodus.)

Tausend Flyer habe man verteilt. Ich nahm einen in Augenschein. Gut gemacht, festes Papier, alles paletti.
Es war kurz nach acht. Wir standen an der Bar, zu fünft, ich mit meinem ersten Red Devil. Der Leseraum, den man von der Bar aus einsehen kann, sah verdammt einladend aus. Roter Plüsch, schöne Bühne, hohe Kerzenhalter, keine Erotik an den Wänden. (Uff) Einer der besten Leseräume, die Frankfurt zu bieten hat, befand ich. Wenn man wohnlich mag. Hasse ja nichts mehr als Klappbestuhlung. Früher hab’ ich sogar Liegelesungen gemacht.
Gästezahl: Unverändert fünf. Individualitätslevel der Anwesenden: Hoch.
Ein Kollege war gekommen, schlank, Zeichner erotischer Szenarios und Buchsetzer. Seine Freundin, superschlank, sah aus wie eine jüngere Version von Juliette Binoche. Der Kollege trug Philosophenbrille, Hemd und breite gestreifte Hosenträger, seine Süße schwarz. (Klar) Eine Blondgelockte, die (noch) niemand kannte, stand etwas abseits im Jeansmini. Die Barfrau (43 Kilo, schätz’ ich) sah mich an.
Ich hob mein Glas zum Wirt hin und sagte: “Vor fünf dünnen Leuten les’ ich nicht.”
Die Gelockte (filigran) protestierte.
Mein Kollege sagte: “Versteh’ ich.”
Die Süße schwieg, sie war in Trauer. Jemand hatte ihre Katze überfahren einige Tage zuvor.
Der Wirt (robust) spendierte die zweite Runde.
Ich trank, erinnerte mich an meine erste Lesung aus „Fettberg“ im getäfelten Saal des Weltkulturen Museum. Der war voll.

“Also, wenn wir Amonette mitzählen, sind wir sechs. Komm, trink’ noch einen.” Der Wirt schnickt der Barfrau.
Auftritt neue Gäste, er klassischer >>> Wacken-Look, sie blond und füllig. (Endlich)
Fastenklinik, hab’ ich mich noch nie mit beschäftigt”, sagt Wacken nach dem ersten Bier, “aber woll’n wa ma sehen.”
“Is’ auch keine Geschichte übers Abnehmen”, sage ich.
“Wir sind neun”, sagt der Wirt, “auffi jetzt.”
Da ist noch ein kleiner Schmaler an der Bar, den hab’ ich gar nicht bemerkt. Ok, sage ich. Und betrete die Bühne.

Ich entschied mich für ein Kapitel aus der Mitte des Romans – das, in dem Dr. Tense seiner Truppe die erste Gehirnwäsche verpasst – und ich las sie mit Schmackes. Kann man bei neun Leuten sagen, dass der Saal getobt hat? (grins)
Gute, aufgedrehte Gespräche danach. Das Ganze hatte was Verschwörerisches. Lag am Club, an den Leuten, vor allem aber an der merkwürdigen Selbstsabotage, die ich vorher betrieben hatte: Niemandem rechtzeitig Bescheid zu geben, dass ich dort lesen würde. Klar, ich war im Stress. Aber ich hab’s auch absichtlich verschwitzt. Wusste nicht, was auf mich zukommt, unbekannter Ort, vielleicht zu kinky. Oder noch schlimmer, peinlich. Wollte mich schützen. Da hat mein bürgerliches Ich über mein verwegenes gesiegt. Wird nie wieder vorkommen.
Fast nie wieder!
(hüstel)

p.s. Bestes Wort des gestrigen Schreibseminars im Museum: “Blutduft”.

Lese nachher…

aus “Fettberg” im >>> Club Jerome in Frankfurt. Hatte so viele Deadlines und Workshops die vergangenen zwei Wochen, da hab’ ich glatt vergessen, das anzukündigen. Grrr. Aber wer weiß … die sagten eben am Telefon, manchmal sitzen dreißig Leute drin und manchmal drei. Sollte letzteres eintreffen würden wir uns, so die Bedienung vergnügt, halt einfach einen schönen Abend machen.
Aiaiai.
Ich tiger da jetzt mal hin. Um 21:00 Uhr geht’s los, Schützenstraße 10 …

Leicht chaotisiert grüßend,

Miss TT! : )

Procrastinationsambulanzjob gesucht

Guten Morgen!
Eben, auf der schnellen Online-Suche nach bundesweiten Krisen, die mein Eingreifen erfordern würden, wenn ich denn Zeit hätte, kam mir die >>> Procrastinationsambulanz der Uni Münster auf den Schirm, und die, lese ich, hat 115 Trödler – vor allem angehende Historiker:innen und Philosoph:innen – betreut im vergangenen Jahr, was, wenn ich’s recht bedenke, keine so alarmierende Zahl ist, damit lässt sich’s doch umgehen als Procrastinationsberaterin (ist schnell auszurechnen, wieviel Studierende man da so abwickeln muss pro Arbeitstag) und ich dachte, wow, lässiger Job, nur noch durch sowas wie eine Ambulanz für narkoleptische Goldfische zu überbieten, und Münster ist ja auch ‘ne schöne Ecke, da bewerb’ ich mich, will endlich auch mal was Sinnvolles tun.

Sollten Sie sich selbst als procrastinationsgefährdet einstufen, rate ich zum sofortigen Ausdruck >>> dieser Lehrtafel.

18:01
Sollten Sie sich allerdings eines etwas gewissenhafteren Umgangs mit diesem wichtigen Thema befließigen wollen, könnte >>> dieser Artikel helfen.

Take Shelter

Such’ Unterschlupf.
Such’ Dir Schutz.

Eine glatte halbe Stunde lang stemmte ich die Hacken in den Boden, dann packte >>> der Film mich doch. Und wie. Lange her, dass ich zwei Schauspielern so gebannt in die Gesichter geblickt habe: Michael Shannon und Jessica Castain. Verglichen mit dieser Besetzung hatte Lars von Trier mit >>> Melancholia geradezu Schnarchnasen vor der Kamera. Jeff Nichols Film hat mich psychologisch eh mehr überzeugt. Anderes Milieu, klar. Aber vor allem spröder die story, weniger WAHWAH, und die ANGST, zu der spielt in Take Shelter kein Wagner, sondern der eigene Herzschlag. Ingmar Bergmann ging mir durch den Sinn. Kammerspiel mit Kieslaster.
Nach zwei Stunden wankte ich aus dem Kinosaal, kaum fähig, mich in die Ärmel meiner Strickjacke zu fädeln.

Also, geschätzte Leser:innen!
Erstmal einen wunderschönen ersten April Ihnen allen! Die Sonne brennt vom Firmament, die Tochter hat jetzt ausgepennt. (Um mal wieder meinen Vater zu zitieren : )
Ich mach’ mich ans Werk. Muss ein Interview vertexten, das ich vorgestern mit einer sehr interessanten Frau hielt. Das Ding muss morgen raus, deswegen keine Sonntagsbrise für Miss TT. Aber offene Fenster. Und eben die Empfehlung – sehen Sie sich diesen Film an. Ich hab’ (verflixtnochmal!) keine Zeit heute, viel darüber zu schreiben, dabei tät’s mich in den Fingern jucken. Aber die Lohnarbeit geht vor, weil, wie bereits ab- und an erwähnt, ich muss im Frühling die Kohle ranschaffen, die ich im Sommer brauche, denn da mache ich für zwei Monate das Büro dicht und hau’ ab nach Frankreich. Na, fast. (Falls irgendeiner meiner Auftraggeber hier mitliest ; )

Herzliche Grüße

Miss TT

Das Wir – Gefühl

Vor ein paar Tagen saß ich abends mit meiner Mutter am Kamin. Auf dem Land. Das erinnert mich daran, wie ich dort zu meinem Vierzigsten ein großes Fest gab. Und eine Freundin, die dort noch nie gewesen war, eine bürgerlich-wohlsituierte Dame, den Hang zum Haus heraufschritt. Oben angekommen und nachdem sie mich umarmt hatte, blickte sie sich um, besah sich die ganzen selbstgemachten Masken und Objekte an der Fassade, die Holzterrasse mit den Hängematten, die Gartenhütte und das geschichtete Feuerholz links davon und sagte: „Wunderschön! Ist das Euer Landhaus?“ Und wie ich lächelnd erwiderte: „Das ist unser einziges Haus!“
Aber zurück. Kassetten.
„Ich hab’ die seitdem nie wieder abgehört. Wollen wir?“
„Ja.“
Wir stellten den alten Ghettoblaster (Sie erinnern sich, die Dinger, in die man Kassetten stecken kann) zwischen uns auf ein schrammeliges Beistelltischchen und lauschten unseren alten Ichs. „1974“ las ich auf einer, „Frühstück mit …“ – und dann die Namen. Wir waren zu neunt auf der Terrasse draußen am großen Tisch. Vier von uns sind inzwischen Geister.
Meine Mutter und ich saßen drei Stunden am Kamin und hörten zu. Es war ein ernstes Ritual, auch wenn viel Gelächter vom Band kam. Die Aufnahmen sind krackelig und von kleinen Knall-Geräuschen durchsetzt – immer wenn wir Kinder ans Mikro stießen. Es dauerte eine Weile, bis ich alle Stimmen erkannte; die vergisst man als erstes, las ich mal. Meine eigene Kinderstimme war die einzige, die ich nicht erkannte. Ich war sehr weit entfernt von dem Mädchen, das da sprach. Während dieser drei Stunden fragte ich mich die ganze Zeit, was aus diesem jungen Ich mit der weichen, sorgfältig artikulierenden Stimme geworden ist. Manchmal redet es französisch. An einer anderen Stelle auf dem Band erzählt es eine Geschichte nach, die es in der Schule gehört hat. Die Fragen der Mutter bewegen das Kind dazu, genauer zu erzählen, Lücken im Ablauf des Geschehens zu füllen.

Es geht mir nicht um Sentimentalität, wenn ich Ihnen das berichte. Ich spreche davon, weil es so seltsam war. Wie viele von mir gibt es und wie viele davon spüre ich? Ein Ich-Konstrukt, will mir scheinen, ist ein fragmentarisches, trügerisches Gebilde. Es besteht hauptsächlich aus Vergangenheit – aber diese Erinnerungen vermitteln sich über Impulse, die an gegenwärtige Möglichkeiten des Empfindens gekoppelt sind. Was aber, wenn dieses gegenwärtige Empfinden ältere Frequenzen gar nicht mehr wahrnehmen kann? Wenn man bestimmte Kanäle aufgrund fehlender Benutzung einfach klammheimlich dichtgemacht hat? Merkt man das? Und, falls man es nicht merkt, ist das Ich-Bewusstsein dann nicht einfach ein ziemlich automatisch agierendes Reiz-Reaktions-Gebilde?

Das sind alles noch diffuse Fragen. Ich komme darauf, weil ich gestern im Gespräch mit einem Freund sagte, dass ich echte Empathie für ein seltenes Phänomen halte. Er widersprach vehement: ohne die könnten doch keine Bücher entstehen, keine Kunst, keine Beziehungen und kein reales Gespräch. Ich vermute aber, das sind alles Konstruktionen. Autobiographisch motivierte Zu-neigungen. Kein wirkliches Miterleben. Möglich, dass Eltern Empathie können: wenn sie sich in ihren Kindern suchen und wiedererkennen. Ich zumindest, die ich keine Mutter bin, spürte beim Abhören dieser Bänder, dass ich nur einen Bruchteil meines vergangenen Erlebens bewusst zur Verfügung habe. Nur das, was ich zum Handeln und Überleben in der Gegenwart brauche, ist wirklich verfügbar. Das Gehirn neigt zum Energiesparen: die Reflexe nehmen einen in Haft. Wenn ich also noch nicht mal in der Lage bin, meine eigenen vielen vergangenen Ichs zu spüren, wie soll ich dann wirklich mitempfinden, was Andere fühlen? Aus welchem Reservoir speist sich dann Empathie?

Falls Ihnen das alles zu wirr ist, sehen Sie’s mir nach – hab’ einen Bilderbuchbrummschädel heute. Einen schönen Frühlingssonntag Ihnen allen!
(Ist heute Sonntag??)

Herzlich schniefend,

Miss TT

Bei den zweien…

… isses nich’ geblieben.
Geschätzte Leser:innen! Muss erstmal überprüfen, ob noch ein paar Synapsen übrig sind, bevor ich hier –

Sie wissen schon.

13:30
Übrigens – ich werd’ das Buchschwenken dann auch wieder lassen! Versprochen. Aber die >>> Kulturmaschinen sind halt (noch) ein kleiner Verlag mit entsprechend schmalem Werbebudget.
Die brauchen so viele Schwenker aus den >>> eigenen Reihen wie möglich : )

15:04
… Und hier noch das bereits erwähnte Buchmesse-Neon-Shirt. Damit Sie mich auf der nächsten schon von weitem erkennen.

Messenotiz

Die Autorin hatte sich zuvor an einer mündlichen Einleitung versucht, die danebenging. Später rhetorisch überzeugend die Szene, in der ein Motivationstrainer Gehirnwäsche an einer Gruppe schwerleibiger Patienten praktizierte. Kein Thema, das mir naheliegt. Dennoch blieb mir der Matjes in Sahnesauce, den ich mir zu Lesung hatte auftragen lassen, mehrfach im Halse stecken. Die Autorin trug ein neonorangenes T-Shirt, eine nicht unproblematische Farbe, dazu schwarze Hose und Sneakers. Der Text war gut.

Die Assistentin trug Boyfriend-Jeans und lehnte an der Wand, als hätte sie Stunden zuvor noch einen VW zusammengeschweißt. Klarer, kühler Blick, der meinen ersten Eindruck sofort Lügen strafte. Das Haar an den Seiten raspelkurz, am Oberkopf länger und zum Pferdeschwanz nach hinten gezogen. Eng sitzender Lederhalsschmuck mit mittig eingearbeiteter Meerschnecke. Die Fingernägel der linken Hand rot lackiert. Kein Make-up, dafür ein schmaler Ring durch die Unterlippe.

Muss aufbrechen. Draußen einige Möwen.