The Happy Show

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Sind wir erwachsen? Tatsächlich?
„Dein Argument ist gut, aber meins fühlt sich besser an“ – Erinnern Sie sich, Leser:in? So beendete der Sohn meiner Freundin vor Jahren eine Auseinandersetzung mit ihr. Er war damals fünfzehn – ein Heranwachsender.
Seinen Satz hab’ ich seitdem nicht nur hier auf TT immer wieder zitiert. Er bringt noch immer alle zum Lachen. Spontanidentifikation. Wie befreiend, den Weg einzuschlagen, der sich besser anfühlt. Die Realität zu wählen, die sich besser anfühlt, die Entscheidungen zu treffen, die sich besser anfühlen.
Mache ich ständig. Niemand hindert mich daran, das zu tun, im Gegenteil: Es soll mir doch gut gehen in meiner kleinen Dimension, in der kleine Regelungen zu kleinen Glückserlebnissen führen. Und glücklich ist nicht jener, der bekommt, was er sich wünscht, sondern jener, der sich wünscht, was er hat. Las ich kürzlich irgendwo.
Hm. Glaub’ ich ja nicht.

Hier in Frankfurt läuft gerade eine Ausstellung „The Happy Show“: Der Werber-Superstar Stefan Sagmeister war auf der Suche nach dem Glück. Als Besucher:in darf man es jetzt interaktiv auch selbst mal suchen.
Die Show – klar – ist ein großer Erfolg. Hab’ den Mann eben gegoogelt – es gibt kein einziges Foto von ihm im Netz, auf dem er mal lächelt. Schon seltsam, dabei scheint er so schön verspielt zu sein. Aber wahrscheinlich zu klug. Die Klugen sind nie glücklich, jedenfalls nicht die mir persönlich bekannten.

„Wofür würdest du kämpfen?“

Ich hab’ eine Kiste mit Fragenkärtchen, die ich gelegentlich in Schreibseminaren einsetze. Beantwortet haben sie immer nur die Jugendlichen, ich selbst war zu beschäftigt. Diese eine allerdings sollte ich so langsam mal beantworten können. Denn viele Selbstverständlichkeiten brechen gerade zusammen, im großen, politischen, wie im kleinen Maßstab – und ab einer gewissen Dimension von Krise ist die private Wohlfühllethargie einfach kein Schutzraum mehr.
Also. Wofür würde, nein w e r d e ich kämpfen?

„Wenn ich mich einem grundlegenden Dissens ausgesetzt sehe, reagiere ich nicht mit Wut, sondern mit Abwendung“, erzählte ich gestern einem langjährigen Freund und Weggefährten am Telefon. „Sobald ich feststelle, dass mein Gegenüber und ich in z u verschiedenen Welten leben, sodass aus meiner Sicht keine Empathie möglich ist und damit auch kein Miteinander, ziehe ich mich zurück. Ich verlasse den Schauplatz.“
„Sie sind Künstlerin. Sie stehen für bestimmte Themen, Werte und Einsichten. Die sollten Sie offensiv nach vorne tragen, finde ich. Sie wirken verhaltener als früher; ich beobachte das auf TT. Die Frequenz der Texte hat nachgelassen. Auch Zeichnungen sind selten geworden.“
„Mir fehlt Zeit. Und zunehmend auch die Energie dazu.“
„Sie sind überlastet…“
„Ich erledige sehr viel auf Autopilot, hinterfrage meine Entscheidungen nicht mehr genug. Kann sein, dass dieser Energiesparmodus eine Auswirkung von Überlastung ist. Vielleicht bin ich aber auch, ohne es zu korrigieren, in eine Teenager-Grundverfasstheit zurückgefallen. Falls ich die überhaupt je verlassen habe…“

K e i n Teenie zu sein ist einfach so anstrengend. Mit dieser Erkenntnis bin ich anscheinend auch nicht allein – anders sind die vielen Jugendlichenfilme, die zu erwachsenen Sendezeiten im TV gezeigt werden, eigentlich nicht zu erklären: Zauberer, Fantasy, Abenteuer und all die anderen Eskapismus-Drogen. Vom Kino mal ganz zu schweigen. Wir lassen eben gerne andere kämpfen. Stellvertretend.
Das ist alles noch sehr harmlos, was ich hier formuliere. Immerhin: Ein Prozess hat eingesetzt. Ich kreise meine Themen ein, schreibend.
Überlege mir, was a n s t e h t. Für mich. Wird noch ein Weilchen dauern, aber dieser träge Sommer wird ja noch ein paar lichtdurchflutete Tage hervorbringen. (Wirst du wohl, du Biest!)
Im Licht, jedenfalls, denkt sich’s immer am besten.

Lionel die Aloe

Lionel ist vor einiger Zeit auf den Balkon ausgewandert. Für alle, die es interessiert: Der Umzug ist ihm und seiner Gefährtin Madame Klee sehr gut bekommen. Charmant auch, dass sich in Lionels schlupfigen Spalten immer Sonnenblumenkerne sammeln, die mir aus den Händen gleiten, wenn ich das Vogelhäuschen befülle. Da diese Spalten feucht sind, erwarte ich demnächst das Keimen weiterer Bewohner in der Blumentopf-WG.

Jaja, ich weiß, Lionel ist komplett unwichtig. Für mich aber nicht. Bin gerade aus einem Workshop für interkulturelle Kompetenz herausgewankt, randvoll mit Eindrücken und Stimmen, bin heimgeradelt und auf den Balkon getreten.
Während ich weg war, hat meine Kleinstnatur das gemacht, was sie immer macht, ob ich nun zusehe oder nicht: Sie ist gewachsen. Der Reiherschnabel (heißt wirklich so, die Pflanze) hat ein paar Blüten vorbereitet, die Kapuzinerkresse hat mehrere grüne Ärmchen in den Wind gehängt und so weiter.
Alles prima.

Habe heute über “sichere” und “riskante” interkulturelle Kommunikation referiert. Darüber will ich auch noch schreiben. Aber jetzt nehme ich mir erst einmal ein Buch und einen Schluck Talisker und schaue Lionel beim Nichtstun zu.

Wünsche allerseits einen schönen Abend in guter Gesellschaft. Morgen ist auch noch ein Tag, hat meine Oma immer gesagt. Ihre bestimmt auch.

Herzlich!
TT

Sprich in meinem Namen

Ein Fehler, fast ein Unrecht: sich so leise zu machen. So diskret. Man stelle sich nur einmal vor, dass zu allen aufgeregten und oft felsenfest überzeugten Stimmen, die uns täglich um die Ohren gehauen werden, auch noch die leisen und schüchternen hinzuträten: all die, die sich lieber raushalten, den Mund nicht aufkriegen, verstummt sind vor Enttäuschung, nicht schlagfertig zu sein, nicht ausreichend im Bilde, nicht witzig genug, um mithalten zu können im Gewirr.
“Sprich in meinem Namen.”
Wie oft, ohne das wir’s explizit aussprechen, überlassen wir den Lauten das Spielfeld, den Fuß- und Sprechballern?
Oft. Ich zumindest. Ich reagiere allergisch auf Konflikte. Die sind aber mit den Lauten nicht zu vermeiden. Deswegen, um meine Belange (seltsames Wort) nicht untergehen zu sehen, fing ich früh zu schreiben an.
Allerdings fällt mir zunehmend auf, dass mich immer dann die Lust dazu überkommt, wenn die Bedingungen gänzlich ungeeignet sind. Wenn aber genug Zeit wäre, die Lohnarbeit getan ist, surfe ich im Netz, lese oder sehe Filme. Die schnelle Nummer.
Nicht schlimm? Andere machen’s doch genauso. Das Problem ist nur, ich vermisse den Zustand der Eigenmächtigkeit, wenn ich nicht schreibe, dieses innige Gefühl, mich in meiner eigenen Welt zu bewegen. Auffällig ist auch: Je seltener ich schreibe, desto ungelenker wird mein Vokabular. Von poetischer Aufladung ganz zu schweigen. Das schriftliche Denken will nämlich gepflegt werden, geölt und hofiert, sonst bleiben irgendwann nur noch die schnellen Nummern übrig.
Die Herde der langsamen Wörter weidet irgendwo in meinem Kopf. Wenn ich mein innerstes Schreiben zurückhaben will, muss ich sie wiederfinden.

Geborgenheit

Sonntag, 5. Juni 2016

Ein Gewitter zieht auf. Ich ruhe auf dem kleinen Sofa auf Ladybirds Holzterasse, rings um mich überbordende Vegetation, das Gelände (es mit dem Begriff „Garten“ zu verharmlosen, wäre nicht fair) ist seit meinem letzten Besuch regelrecht explodiert. Alle paar Minuten denke ich, was für ein Geschenk, auf ihm leben zu dürfen. Kann „man“ ein solches Privileg überhaupt verdienen, verdient haben? Klatschmohn und Frösche, die behäbig die Backen aufblasen, circa ab sechs Uhr morgens; die wecken eine Stadtfrau wie mich mühelos aus dem Schlummer, wenn’s die Amsel nicht längst getan hat. Von den anderen Vögeln, die ebenfalls früh auf den Beinen sind, ganz zu schweigen.
Ladybird hat eine Kohlmeise, eine besondere. Die hüpft ihr täglich auf den großen Frühstückstisch bis ganz nah an den Tellerrand, wippt auffordernd, fliegt dann zum Vogelhäuschen, das ein paar Meter weiter auf den Palisaden befestigt ist, die die Holzterrasse umsäumen. Reagiert die Angewippte nicht umgehend, kommt der Vogel zurück und wiederholt seine Aufforderung, bis Ladybird ihren Eierlöffel zur Seite legt. Sie geht dann zu der uralten, braungestrichenen Holzkiste direkt neben der Haustür, in der sie Sonnenblumenkerne, Meisenbällchen, Zeitungspapier, Saaten aller Art und auch Fischfutter aufbewahrt, öffnet den schweren Deckel, nimmt den verkratzten orangenen Plastikbecher, der da seit Anfang der sechziger Jahre drinliegt und schöpft mit ihm eine Ladung Futter aus dem Meiseneimer. Der Eimer ist noch nicht so alt, er kommt aus der Genossenschaft und fasst zehn Kilo. Auf dem Land ist das keine wirkliche Menge, zehn Kilo.
Ladybird ist zwanzig Jahre älter als ihr orangefarbener Becher.

Jedenfalls ist danach erstmal Ruhe und sie kann ihr Ei weiterlöffeln.
Vorhin ist sie zum Joggen in den Wald gezogen; ich muss gerade eine leise Beunruhigung abwehren. Mag’s nicht, wenn sie bei Gewitter unter Bäumen zugange ist.

– Warum bist du so schrecklich unruhig immer? fragte ich kürzlich den Sentinel.
– Mir fehlt Geborgenheit, erwiderte er.

(Ui. Jetzt fängt’s aber an zu pladdern. Und Ladybird immer noch nicht zurück.)

((Geborgenheit.))

Die Pflanzen fangen unterm warmen Regen betörend zu duften an, die Haustür steht sperrangelweit offen, von ferne ein Hund. Eine Hornisse zeigt unüberhörbar Interesse an einem breiten Spalt im Vordach, krabbelt hinein, sondiert die Lage. Letztes Jahr, erzählt Ladybird, hatte sie gleich zwei Hornissennester unterm Dach. Und die Biester sind laut. Wenn sich eines von ihnen in eines ihrer Zimmer verirrt –

Ah! Da kommt sie. Schiebt eben lächelnd ihr Rad den Hang hoch. Pitschnass.

– nähert sie sich sehr vorsichtig mit einem Glasgefäß, fängt das Tier und entlässt es ins Freie. Sie kümmert sich, spricht mit allem, was wächst und sich vermehrt, mit immer noch zunehmender Behutsamkeit.
Hat sie auch mit mir. Gesprochen. Bis ich achtzehn wurde führte sie auch ein Buch, in dem sich Beobachtungen, Kinder- und Pubertätszitate, Zettel, Briefe und Botschaften finden, wir haben gestern mal reingelesen. Was für Sprüche ich mit zweidrei Jahren rausgehauen habe, unglaublich. Wir haben diese Aufzeichnungen mit jenen über Semioticghosts vergleichen, die natürlich auch so ein Buch hat und ebenso verblüffende Sätze gesagt hat damals. Alles schön in Ladybirds typischer, ausgreifender Schrift notiert, die ich noch halbblind wiedererkennen würde. Sie kann auch das, was ich mir über das Schreiben auf TT erst bewusst aneignen musste: in Fragmenten schreiben, hingeworfenen Sätzen. Nix mit rechtschaffener Aufsatzkunst, einfach Beobachtung und assoziatives Gedankenspiel.
Wir haben beim Vorlesen andauernd lachen müssen. Manchmal auch aus Verlegenheit, gerade bei den Texten zu den pubertierenden Phasen. Und die Erkenntnis, dass ich mit zwei ausgesprochen rüpelhaft war, hat mich ziemlich geschockt. DU BLÖDES VIEH war meine Lieblingsbeschimpfung. Wo ich das herhatte? Mich hat todsicher niemand aus der Familie so angesprochen. Die Hunde aber vielleicht?
Heute morgen dann Semioticghosts auf ihrer zugigen britischen Insel angerufen, wegen Schnapszahlgeburtstag.

– Ich hab’ doch versprochen, dass ich dich einholen würde, lacht sie am Telefon.
– Ja, aber nur, weil ich seitdem nicht mehr älter geworden bin!

Happy birthday, sis.