Das Tainted Talents Wort zum Sonntag, 37, II

Ja, »Lamu Tamu« ist eine gute Erzählung. Ohne A.N.Herbst allerdings hätte sie nie einen Verleger erreicht, ohne sein »Los jetzt!«. Ich bin, glaub’ ich, die am unwilligsten publizierende Autorin der Stadt. (Ich ahne, woran das liegt: wenn es stimmt, ist’s noch ein weiter Weg) Ich hab’ hunderte Manuskriptseiten hier am Nestrand rumsitzen. Viele von ihnen könnten längst fliegen.
Herbst war es auch, der mich Simone Barrientos Krauss und Leander Sukov vorstellte, den Machern der Kulturmaschinen. Die beiden sind auch außerhalb der Verlagsarbeit ein Paar. Ein besonderes, das spürt man sofort; sie haben mehr als dieses eine Leben und andere Gesichter als jene, die einer Buchmesse angemessen sind. Die beiden werden nun tatsächlich einen Packen Erzählungen von mir bekommen. Die sind wild und kränklich und durchaus pornographisch und ich hab sie noch nie jemandem angeboten. Plötzlich bin ich sehr gespannt, was aus ihnen wird.
Abends, beim Riesenschnitzel in der »Tenne« kamen noch die Macher vom Pahl-Rugenstein Verlag in die Runde. Lange Gespräche, bei denen ich bald merkte, auf wie vielen Ebenen ich immer noch ein unbeschriebenes Blatt bin. Na gut, ist nicht zu spät: Alle Luken öffnen und fluten lassen, dachte ich. Dabei diesen Blick von Johann P. Tammen nicht vergessend: Wie bescheiden er sprach von seinem eigenen Schreiben. Wie zurückhaltend im Vergleich zu der Verve, mit der er für seine Autoren einsteht. Und wie gänzlich konträr zu all diesen Selbstdarstellern, die mich regelmässig dem Trugschluss aufsitzen lassen, nur ein strotzendes Selbstbewusstsein könne sich durchsetzen.

Ich traf übrigens bei dieser Messe eine Frau, die ich kennen lernen wollte, seitdem ihr Name eines Nachts fiel. Aber dazu ein anderes Mal.

Das Tainted Talents Wort zum Sonntag, 37, I

Buchmesse also – manchmal sagt eine Zeichnung ja doch nicht alles. Diese ist zehn Jahre alt; ich muss die Signatur auf ihrer Rückseite gar nicht sehen, um das zu überprüfen, die zornige Phyllis hat sich »Buchmesse 2000« auf den Bizeps tätowieren lassen. Ich zeichne weiterhin, es gibt auch Figuren, die ich erfinde, die über die Jahre immer wieder auftauchen, die Zornige allerdings gibt es nicht mehr. (Den prallen Bizeps auch nicht, Abschreckung praktiziere ich anders inzwischen)
Wie auch immer, Buchmesse, wenn ich an sie dachte, war immer Frankfurt. Nun fuhr ich zum ersten Mal nach Leipzig und stellte fest: Ein ganz anderes Kaliber. Vielleicht lag die gute Laune einfach daran, dass meine Erzählung »Lamu Tamu« bei Die Horen erschienen ist: »Der Sprung über die Kante / Schreiben als Kunst«, hauptsächlich dem Werk Gerd Peter Eigners gewidmet. Großartiger Autor. Seine Lesung in Leipzig, präsentiert und kommentiert von Horen Herausgeber Johann P. Tammen und Alban Nikolai Herbst: eine Offenbarung. Im Ernst. Werde Eigners Bücher nun alle lesen.
Abgesehen von seiner Wahnsinnssprache ein Mann von beträchtlichem Charme, dazu dieser obsessive und wehrhafte Blick. Hui. Und J.P. Tammen? Ich hatte zuvor nur mit ihm korrespondiert, erlebte ihn zum ersten Mal und dachte: S o muss ein Herausgeber sein, dem möchte man erste, aber irgendwann auch die letzten Worte anvertrauen. (Sein Grappa im Schränkchen war ebenfalls fabelhaft)

Oh. Eben fällt mir ein, ich muss dringendst einen Text für die Homepage der Crespo Stiftung schreiben, bin schon zwei Tage im Verzug. Grrr. Muss ich einschieben.
Bis später …

Das Tainted Talents Bild zum Sonntag, 36

Freund W., der Zunft der Neurologen angehörend, skizzierte mir meinen Befund mal kurz auf einem Post-it. Das Ergebnis will ich Ihnen nicht vorenthalten:

Und mit diesem soll’s nun auch genug sein mit Berichten aus der Reconvaleszenz; ab jetzt wird wieder ausgegriffen, geschritten. Sie ahnen nicht, Leser, wie sehr man ein Hinken kultivieren, ja erotisieren könnte, wenn’s denn soweit käme.

Das Tainted Talents Wort zum Sonntag, 34

Leistungsbereitschaft.

Ja nu, ist doch einfach! Überlebt haben. Gegessen, geschlafen, Körper erhalten haben. Hätten wir das bisher nicht ganz ordentlich hinbekommen, säßen wir hier nicht vor unseren Monitoren. Doch das böse Wort verlangt mehr von uns in diesen Breitengraden: Unsere Leben seien nicht täglich bedroht, heißt es, wir hätten Ressourcen übrig, die sollten wir nutzen zum Wohle der Gemeinschaft. Unter Ausnutzung unserer verdammten Resilienz. (Pech, wer keine hat bisher, die erwirbt man sich nämlich schon im Kindesalter. Es wird bezweifelt, dass man sie sich nachträglich draufschaffen kann als Erwachsener)
Doch zurück zum bösen Wort. Leistungsbereitschaft. Ich hasse es, und zwar nicht, weil unser (leider aus dem Blumentopf ausgepflanzter) Außenminister damit um sich wirft – ich würde es auch ablehnen, wenn ein Maulwurf es zu mir sagte. Darf ich an dieser Stelle bitte kurz mal weltweit verkünden, ich bin durchaus lei………….t, doch ich fände es hochnotpeinlich, zu jenen zu gehören, die das fordern vom Volk. Ein Volk ohne Leistungsbezweifler? Ohne Leute, die mit der Hälfte Arbeit auch noch ganz gut leben könnten, wenn man sie denn ließe? Oder ganz ohne? Ohne Tagträumer, Rumtreiber, Drückeberger, vermeintliche auf-der-Tasche-Lieger und so genannte System-Ausbeuter: wollen wir das? Und was ist mit den Künstlern? Müssen die auch Leistung bringen? Falls ja, wer verlangt sie von ihnen, da das, was sie tun, doch in den meisten Fällen eh nicht auf dem Markt (ver)handelbar ist?
Leistung oder nicht Leistung – eine Rechenschaft, die ich mir selbst gegenüber ablege. Ebenso wie die Definition dessen, was denn genau »Leistung« in meinem Fall bedeutet. Ein privater Vorgang, kein Beweis, den ich jemandem schuldig wäre. Nu isses raus, und da fliegen mir dann auch gleich die nächsten allergenen Begriffe um die Nase: Optimierung. Nachhaltigkeit. Relevanz. Nutzung. Frequenz. Ressource. Dynamik. Effizienz. Aktivierung. Dieses ganze Flipchart-Getue, Schluss damit! Mit solchem Vokabular versucht man die Denker schön im Gehege zu halten und die Nicht-Denker im Konsumentenparadies, wo sie ja auch hingehören, nicht wahr? Doch ein einziges eigenes Wort ist kostbarer als dieser ganze Enhancement-Quark, also lassen Sie sich nicht lumpen: Schnappen Sie sich mal eins und schnallen Sie eine Behauptung dran, so als tägliche kleine Übung. (Es können auch zwei sein, Hauptsache, sie haben noch nie auf einem Flipchart gestanden.)

Das Tainted Talents Wort zum Sonntag, 33

Angst, sprach gestern mit Mahmegani darüber, vor der Erwartungshaltung der anderen: Ihr ausgeliefert sein. Überforderung, meint er, ein altes Motiv. Müsse aus meiner Kindheit stammen. Meine vergeblichen Versuche, die Ehe meiner Eltern »heil« zu machen. Na, so vergeblich waren sie nicht.
Wir hörten diesen Schweizer Psychotherapeuten im Radio vor einiger Zeit – ich erzählte schon in einem älteren Beitrag davon -Josef Giger Bütler. Mahmegani hatte die Sendung aufgenommen. Bütler sprach über Depression.
Bei jedem zweiten Satz des Mannes dachte ich, er meint mich, Mahmegani ging es genauso. Der Begriff, mit dem wir beide uns sofort identifizierten: Überforderung. Da hat ein junges Gehirn zu früh schon übermäßigen Druck ausgehalten, zu viel Verantwortung übernommen.
Wer jetzt einwenden möchte, es gäbe da doch wohl noch ganz andere, härtere Fälle als uns, Traumata, Menschen, die in ihrer Kindheit weit schlimmeres erlebt haben als die entfremdete Ehe ihrer Eltern: Willkommen. Denke ich auch ständig.
Seit ich mich selbst reflektieren kann, sag’ ich mir, ich hab’ kein Recht, mich als beschädigt oder leidend wahrzunehmen. Mein Zustand, herrscht mich eine Stimme in meinem Kopf an, sei ein Kinderspiel gegen das, was andere durchmachen mussten und müssen.
»Ein Kinderspiel«: Wie unheimlich dieses Wort klingen kann, wenn man ihm nachlauscht.
Sich auf diese Weise zu relativieren ist eine Sackgasse. Wohlfeiler Trick dem eigenen Selbst gegenüber. Damit man weiter funktioniert. Einigermaßen unauffällig bleibt.
Funktionieren: Ich erinnere mich, die Geschichte liegt drei Jahre zurück, ich war mit einem englischen Galeristen befreundet. S… ist ein bekannter, im Kunstkontext mächtiger Mann, physisch sehr präsent, kräftig im Körperbau. Trägt perfekt sitzende Anzüge. (Ich gestehe, wenn mit Stil getragen lassen mich Anzüge nicht kalt)
Betritt S… einen Raum, formieren sich die Leute wie magnetische Fischchen zu ihm hin, halb gierig, halb ängstlich; ich hab’ das immer wieder beobachtet. Viele kuschen vor ihm, seine Mitarbeiter, die Kinder, nicht wenige seiner Künstler. Auf jeden Fall, der Mann war und ist Macht gewohnt. Diszipliniert. Eisern mit sich selbst. Wir waren seinerzeit in New York bei einem Künstler zu Gast, L…W…, ein offenbar langjähriger Freund; ich selbst hatte bis dato nur seine Arbeit gekannt. Charismatische Persönlichkeit, gut gealtert. Zu dritt verbrachten wir den Abend an einem offenen Kamin, redeten, sahen uns Arbeiten an, tranken Whiskey, ganz klassisch. Als wir uns verabschiedeten, sagte L…W… dicht an mein Ohr: »Take care with S., will you? He is very fragile.«
Ich nickte nur. Zurück im Appartment erzählte ich ihm von diesem Satz. Er war wie hypnotisiert. »It’s true, you know..« sagte er, auch Wochen später noch staunend, »…I am very fragile.«
Klang durchaus bizarr aus seinem Mund. Sieh’ an, dachte ich, aus einem einzelnen, wohlmeinenden Wort hat sich für diesen mächtigen Mann eine neue Fläche geformt. Als hätte ausnahmsweise mal jemand seiner inneren Ausstellung ein Podest hinzugefügt. Darauf legt er nun einen Teil von sich: jenen Geist von Erschütterbarkeit, für den er vorher keinen Namen hatte, keine Legitimation, erst das Wort des Freundes hat dafür Platz geschaffen.
Ich hatte wirklich den Eindruck, S… war von »fragile« bezaubert. Es machte ihn frei, diesen Aspekt von sich verstanden und benannt zu wissen. Mich rührte das.
Nach einigen Wochen ließ der Effekt allerdings nach. Er verlor das Interesse an seiner Verletzlichkeit und wandte sich wieder seinen Stärken zu.
»Ich brauche mindestens dreißig Prozent meiner täglichen Energieressourcen allein dafür, meine Denkwege von dieser Angst frei zu schippen. Damit ich mich normal bewegen kann. Ich hab’ eigentlich immer Angst« sage ich zu Mahmegani.
»Dafür kriegst Du das, was Du machst, verdammt gut hin« sagt er.
»Ich hab’ genug Energie zur Verfügung. Irgendwann lässt die aber vielleicht nach.«
»Dann ziehen wir aufs Land, laden die Freunde dazu und buddeln im Garten nach Kartoffeln. Mach’ Dir keine Sorgen.«

Das Tainted Talents Wort zum Sonntag, 32

»Haltung«

Aufwändig, dieses: »Hier stehe ich.« So aber tritt man aus der Isolation, nicht nur beim ersten, sondern auch beim zweiten, dritten und hundertsten Mal. Indem man inhaltlich und wertebezogen verortbar ist. Nur auf diese Weise eröffnet man sein eigenes Revier, kann Mitstreiter um sich scharen, Gegner herausfordern, Loyalitäten wecken.
Ich hab’ für meine Schreib-Seminare ein Kästchen mit hundert von mir formulierten Fragen drin, aufkaschiert auf Karton; die auf rotem Hintergrund sind einfach, die blauen schwer. Man zieht ohne groß hinzusehen eine Frage heraus. Die Teilnehmer mögen das Gefühl, ein Los zu ziehen. Eine meiner blauen Fragen lautet: »Für was würdest Du kämpfen?« Das Ding ist schwieriger zu beantworten als »Gegen was würdest Du kämpfen«, denn »gegen« ist reaktiv, während kämpfen »für« eine Sache erstmal voraussetzt, dass man in sich selbst nach Inhalten sucht.
Haltung entwickeln meist nur jene, die starke Motive haben, deren Wurzeln bis in die Kindheit reichen. Sie zu erkennen, abzugrenzen und vor Ausbeutung oder Vernichtung schützen zu müssen, erzeugt Haltung. Wer sich nicht angegriffen fühlt, tut sich schwerer damit: Da reicht es meistens, Meinungen zu entwickeln. Für Meinungen zu kämpfen ist allerdings nicht sehr befriedigend – sie werden relativ, wenn der Wissensstand sich verändert. Eine Haltung dagegen lässt sich von faktischen Argumenten nicht außer Kraft setzen, muss auch nicht unbedingt logisch begründet sein. Der Sohn einer Freundin, damals um die neunzehn Jahre alt, sagte einmal nach einer heftigen Auseinandersetzung zu ihr: »Du hast Recht. Aber was ich sage fühlt sich besser an.«
Ich fand diese Verweigerung von Abstraktion charmant. Kindern und Jugendlichen gesteht man so etwas zu, Erwachsenen weniger – wir sind gehalten, nicht rein aus der Emotion heraus zu argumentieren, denn das setzt eine emphatische Leistung beim Anderen voraus, zu der oft die Bereitschaft fehlt. Also erwarten wir voneinander, abstrahierende Schlüsse aus unserem privaten Empfinden ziehen zu können. Etwas zu wollen. Für etwas zu kämpfen. Für eine Idee, eine Sache zu kämpfen, die womöglich über die Sicherung eigener Bedürfnisse hinausgeht.
Wer macht das?
Alle, die ihre Vorstellungskraft in Anspruch nehmen. Haltung ist unabhängig von Lebensmodell und Beruf; alles, was sie braucht, ist ein entsprechend starker Antrieb. Er muss so stark sein, dass er gegenwärtige Befindlichkeiten zugunsten einer wie auch immer gearteten Manifestation in der Zukunft hintanstellt. Haltung akzeptiert keinen Schnupfen und lässt sich von psychosomatischen Symptomen nicht beeindrucken.

Das Tainted Talents Wort zum Sonntag, 31

Das machen die anderen alle schon: Erzählen, was gerade auf dem Bücherstapel liegt. „Hab ich gelesen, lese ich gerade, werde ich lesen“. Ich mag das, will mich dem aber nicht anschließen – „Mein Bücherregal“ als Blog-Rubrik inspiriert mich persönlich nicht, außerdem müsste ich dann auch Besprechungen schreiben. Hab’ ich keine Geduld für. Aber wie wär’s mit „Fremde Betten“?
Ich kannte einmal einen sehr schönen Mann. Wie lang ist das her? Es war die Zeit, in der ich diese zottelige Griechenjacke aus unbehandelter Wolle trug – ich sehe mich noch in ihr. Ich muss also sechzehn oder siebzehn gewesen sein, da hatte ich die immer an.
Er war Künstler, um einige, vielleicht sogar viele Jahre älter als ich. Sein Ding war, er ließ kristalline Flächen auf großen Leinwänden wachsen. Wie er das zuwege brachte? Kann mich nicht erinnern, ihn je gefragt zu haben. Jedenfalls saß er dann Stunden und Tage im Yogasitz vor seinen Kristallen und meditierte: Behauptete, ihre Struktur und Dichte mit der Kraft seiner Gedanken beeinflussen zu können. Stunden und Tage! Ich wurde immer halb wahnsinnig, denn während jener Phasen hatte er kein Auge für seinen verknallten Teenager. Ich brannte für ihn – meinetwegen hätte er auf mir Kristalle züchten können. Tja, daraus wurde nichts. Erst kam seine Kunst. Dann seine verdammte weiße Katze. Dann ich.
Wenn der Zeitpunkt der Vollendung seines Werkes nahte, begann er, eine sehr dünnflüssige Farbe herzustellen, die er dann mit einer einzigen, fließenden Bewegung über der Fläche ausgoss. Die endgültigen Formate waren immer blau. Wie Sphären. Ich liebte diese Objekte. Noch mehr aber liebte ich sein Bett.
Er hatte sich eines gebaut, das ein ganzes Zimmer einnahm. Es war ebenfalls blau. Die Konstruktion hatte unterschiedlich große Liege- und Spielflächen in verschiedenen Härtegraden und diverse, teilweise abschließbare Fächer, aus denen er die merkwürdigsten Spielzeuge zog. Klackernde Kugeln an Schnüren, Ringe und Klammern, Stäbe mit verschieden harten und weichen Aufsätzen. Handschellen und seidene Bänder. Im Nachhinein muss ich sagen, seine Liebeskunst war an mich verschwendet; ich war damals in keiner Weise raffiniert. Schon blöd, wenn man als erwachsener Mann auf, sagen wir, Backfische steht, die von Tuten und Blasen keine Ahnung haben. (ups)
Wie auch immer: Das Bett des Ariel S. war spektakulär. Und dann seine Katze! Er konnte sie so manipulieren, dass sie in sexuelle Verzückung geriet, ich hab’s selbst mehrfach beobachtet. Ziemlich beeindruckend. Das Viech hatte mir seinerzeit einiges voraus.

Das Tainted Talents Wort zum Sonntag, 29

“Schnupfen” (Schdubfn)

Den hab ich, aber hallo. Und höre meine längst verengelte Großmutter “viel trinken und gleichmäßige Wärme!” flüstern.
Nun kann man zwar auch im Bett prima schreiben, aber nicht mit so einem entzündeten Ballonschädel.
Bitte, mich zurückziehen zu dürfen.
Morgen ist auch noch ein Tag. (Ebenfalls so ein Großmuttersatz)

Kein Wort zum Sonntag. Aber ein offenes.

Ich habe mir oft noch keine Meinung gebildet, wenn ich eine haben sollte. Oder will keine haben. Oder gerate über die der anderen so ins Grübeln, dass ich verpasse, zum richtigen Zeitpunkt selbst eine in den Pott zu werfen. Allerdings ist es schon viel besser als früher: Da verstummte ich bei allen Gesprächen, die mehr als zwei Teilnehmer hatten.
Ich unterhalte mich nicht so gerne. Die Meinungen anderer irritieren mich: Warum scheinen sie sich so sicher? Welche Absicht steckt hinter ihren Äußerungen? Warum orientieren sie sich nicht erstmal neu, bevor sie all diese Antworten geben? Sollten Standpunkte nicht bei ständigem Informationsfluss auch ständig neu hinterfragt werden?
Ich tu’ mich schwer mit direkten verbalen Kontakten. Man merkt mir das überhaupt nicht an, was die Sache nicht einfacher macht. Es gefällt mir, einen Tag lang zu schweigen, auch zwei. Eine Woche, meinetwegen. Jetzt, nach den beredten Weihnachtstagen, schweige ich ganz resolut. Bis Sylvester mal mindestens. Ich werde meinen Mund nur zum atmen, essen und küssen benutzen. Das genügt völlig. Mein Sprachzentrum funktioniert momentan eh nicht besonders gut. Als wäre es im Winterschlaf.

Ist es in Ordnung, sich zum Jahresende mal zu vergegenwärtigen, was einem fehlt? Ja? Also los: Ich brauche mehr Biss. Mehr Unbedingtheit und mehr Durchsetzungswillen. Ich kann das auch anders formulieren: Ich muss meine Depressionen besser in den Griff kriegen. Schon allein, weil ich das Wort furchtbar finde. Weil ich auch nicht glaube, dass es viel bringt, sich einzugestehen, depressiv zu sein; man steigert sich da nur noch mehr rein. Handeln, nicht reden… Das Problem ist, ich handele durchaus, doch die Depression lässt sich davon nicht beirren.
Okay.
Ich fang noch mal von vorne an:
Das Depressions-Ding ist so alt, ich kann mich nicht erinnern, es mal nicht in mir gehabt zu haben. Es ernährt sich von meiner Substanz. Es ist weder durch Erfolge noch durch Anerkennung zu beeindrucken. Depression funktioniert wie Fettzellen: Die kann man ganz gut aushungern, bis es von außen so aussieht, als sei man schlank. Kaum aber schlägt man wieder über die Stränge, füllen sie sich neu auf und man ist so mollig wie vorher. Die Depression ist auch so ein Reservoir – man kann sie aushungern durch Handeln, Pläne und gute Ideen, dann glauben alle, man sei ein wunderbarer Kraftprotz. Ich krieg das immer wieder zu spüren.
Vor zwei Wochen hab ich eine Trainer-Schulung mitgemacht: Bei der letzten gemeinsamen Übung ging es darum, dem anderen anonym schriftlich zu spiegeln, wie man ihn wahrnimmt. Die Bemerkungen, die ich erhielt, hätten bestätigender nicht ausfallen können. Ich sei „temperamentvoll, absolut begeisternd, eine starke Persönlichkeit, eine Sprachakrobatin, spannend, energiegeladen“ schrieben meine Kollegen. Ein „ansteckendes Lachen“ hätte ich, sei „nachdenklich“, „offen“, „ausdrucksstark“ und hätte „gut strukturierte Gedanken“. (Ich hatte mir das ausgedruckt, damit ich’s nicht gleich wieder relativiere.)
Das merkwürdige daran ist – in diesen Momenten stimmt das sogar. Kurze Zeit später allerdings ist alles wie weggeblasen: Kaum bin ich nicht mehr „auf Sendung“, füllt sich die Depression wieder auf, als sei nichts gewesen.

Das Problem ist, dass es alles nur noch schlimmer macht, wenn man das Ding thematisiert. Ich zumindest bin schnell genervt, wenn andere anfangen, ihrerseits von Depressionen zu sprechen. Vielleicht, weil ich den Zustand selbst so gut kenne und weiß, reden bringt da nichts. Außer, dass sich die Zuhörenden hilflos und in ihrer eigenen Stimmung ausgebremst fühlen. Ein Depressiver ist ja nicht munter zu machen: Es ist ein sehr hartnäckiger Zustand. Trösten bringt nichts, ebenso wenig wie Mit-gefühl. Ironisieren hilft, aber nur für den Moment.
Das schlimmste – für mich – an diesen Zuständen ist, dass sie trivialer nicht sein könnten: Man verliert seine Individualität, seinen Glanz und seinen Schmelz darin. Selbst meine Sprache leidet darunter; sie wird schlicht. Eine Depression, so hart das auch klingt, ist für niemanden interessant. (Außer vielleicht für Leute, die sich beruflich damit beschäftigen, doch selbst da habe ich meine Zweifel. Wäre ich Psychologin, ich hätte lieber Paranoiker als Klienten. Oder Schizophrene)
Interessant sind Extreme – starke Gefühle… depressiv sein aber fühlt sich an, als wären weite Areale des Empfindens einfach betäubt. Übrig bleibt ein Knoten von Un-lust, der immer die gleichen, dummen Botschaften aussendet. In der öffentlichen Diskussion über dieses Thema wird immer mal wieder die Frage gestellt, warum das Ganze immer noch so ein Tabu ist.
Nun, mit einer von vielen Antworten kann ich aufwarten: Man kommt sich unglaublich banal vor, Depression zur Sprache zu bringen. Weil man sie nicht umwandeln kann: Es entstehen keine Geschichten daraus. Es ist ja nicht so, als empfinge man Botschaften von Außerirdischen, hätte den seltsamen Zwang, immer Dinge zählen zu müssen, oder glaubt, man würde von Dämonen verfolgt. Nee. Das Einzige, was man als Depressiver mitteilen kann, ist, dass man am liebsten sein in Schleifen des nicht-Wollens gefangenes Gehirn gegen ein anderes eintauschen würde. Das ist in einem Satz gesagt. Alles andere zersetzt sich im weißen Rauschen des Betäubtseins.