Farah Days Tagebuch, 52

Samstag, 22. April

Anvertrauen

Früher einer der aufregendsten Impulse in meiner Welt. Auch einer der aufwändigsten.
(Stopp. Wollte doch niemals das Wort »früher« schreiben. Macht grau.)
Im Laufe der Jahre sind wir viele geworden, vertrauen uns einander an, beobachten unsere Reaktionen, werden abhängig von ihnen. Nicht mehr der Akt selbst ruft das stärkste Gefühl hervor, sondern der Effekt, den er online erzielt.

Draußen Glockengeläut. Lockruf der Kirche. Doch sie kommt nicht gegen all die anderen Köder an. Effekthascherei läuft über pics and tunes these days, nicht über Bronze.

Der Poet am wenige Meter entfernten Schreibtisch singt die Oper mit, die leise aus seinen Kopfhörern dringt; seine Finger tänzeln über der Tastatur. Im Verlauf einer Stunde schreibt er schätzungsweise die fünffache Menge an Text wie ich, während meine Wörterburgen in den letzten Jahren eine nach der anderen die Brücken hochziehen. Wo ist meine Dringlichkeit hin? Das Anvertrauenwollen?

„Früher…“
„- Stopp!“

Beim Schreiben verrinnt mir die Zeit, während ich nach reifen Gedanken und Formulierungen ausgreife, beim Malen indes wallt sie grandios um mich herum auf, als erfände ich sie neu.
In der Arbeit mit Tusche und Papier geht es nicht um mich… vielleicht liegt’s daran. Ich male, was andere bereits vor mir gemalt haben, meine Motive nehmen keine Gegenwart für sich in Anspruch, sind weder zeitgenössisch noch veraltet, es gab sie schon immer und gibt sie weiterhin und ich male sie.
Meine Pinsel, Papier, das Wasser, die schwarze Tusche.
Seltsam, im Gegensatz zum Schreiben, bei dem mir immer ein Kobold im Ohr sitzt und mich auslacht, wenn ich Sätze hinschreibe, die schon tausendfach irgendwo anders notiert wurden, ist es gerade die Stärke der Tuschemalerei, dass sie nicht individuell sein will, sondern universell. Sagt mein Gefühl.
Im Grunde könnte ich jahrelang das gleiche Motiv malen und hätte wohl kein Empfinden von Falschheit. Vielleicht würde mir eintönig, vielleicht aber auch nicht … und vielleicht käme mit der Beschränkung auf ein einziges Motiv auch die Chance, die Fixierung auf Ergebnis und Originalität mal auszublenden.

Ich suche nach einer Entfesselung vom Ego, möchte fließen wie meine Tusche.